Eine aktuelle Studie
über das Sozial- und Konsumverhalten junger Erwachsener legt einen Zusammenhang
zwischen Mediennutzung und Narzissmus nahe – verführt dabei aber auch zu
Fehlschlüssen.
Erstmals erschienen in: Die Tagespost 25.03.107, S. 9
„Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie
hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor älteren
Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten soll. Die jungen Leute stehen nicht mehr
auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern,
schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen,
legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ Bei diesem
häufig dem Philosophen Sokrates zugeschriebenen Zitat handelt es sich zwar
tatsächlich lediglich um eine paraphrasierende Zusammenfassung antiker Klagen
über die Sittenlosigkeit der Jugend, die in dieser Form erstmals in einer
Dissertation aus dem Jahr 1907 auftaucht; dennoch erfüllt das Zitat seinen
Zweck: jene, die sich über die „heutige Jugend“ beklagen, daran zu erinnern,
dass es solche Klagen „schon immer“ gegeben hat. Praktisch jede Generation der
Menschheit neigt dazu, die jeweils jüngere für nichtsnutzig und moralisch
verderbt zu halten.
Seit
1953 erscheint ungefähr alle vier Jahre die „Shell-Jugendstudie“, die die
Einstellungen, Werte, Gewohnheiten und das Sozialverhalten von Jugendlichen
untersucht; und mit großer Regelmäßigkeit präsentieren die Medien ihrem
Publikum als Quintessenz dieser Studien die Feststellung, die Jugend sei
„besser als ihr Ruf“. In dieser Hinsicht fällt eine im Januar 2017
durchgeführte und jetzt veröffentlichte Studie der Digitalagenturgruppe SYZYGY
einigermaßen aus dem Rahmen – auch insofern, als sie sich nicht im
eigentlichen Sinne mit Jugendlichen befasst, sondern mit jungen Erwachsenen: mit
den Geburtsjahrgängen von 1981 bis 1998, den sogenannten „Millennials“. Und
diese Generation, so scheint es, ist nun wirklich völlig verkorkst.
Das
hervorstechende Generationsmerkmal der heute 18- bis 35jährigen ist demnach ein
ausgeprägter Hang zum Narzissmus, zur Selbstverliebtheit. Bereits 2014 ging der
Journalist Jens Lubbadeh im SPIEGEL der Frage nach, ob Narzissmus „das Phänomen einer neuen Generation“ sei, und kam zu dem Schluss, dass die heutige
Gesellschaft Narzissten „quasi heranbrütet“: „Niemand hat es untersucht, aber
möglicherweise werden es immer mehr.“ Der Satz „Niemand hat es untersucht“ gilt
nun nicht mehr: SYZYGY hat 1.024 „Millennials“ und zum Vergleich 1.004
Angehörige der „Baby Boomer“-Generation (Geburtsjahrgänge 1945-1964) und der
„Generation X“ (Geburtsjahrgänge 1965-1980) befragt – und kommt zu dem
Ergebnis: Die heutigen jungen Erwachsenen neigen signifikant stärker zu
Selbstverliebtheit als frühere Generationen.
In
der Veröffentlichung der Studienergebnisse weist SYZYGY darauf hin, dass die
Millennials „die erste Generation der sogenannten Digital Natives“ seien – die
erste Generation also, die mit Internet und Smartphone als etwas
Selbstverständlichem aufgewachsen sei. Folgerichtig weist die Studie einen Zusammenhang
zwischen den narzisstischen Neigungen der jungen Erwachsenen und ihrer Nutzung
Sozialer Medien und „On-Demand“-Dienstleistungen wie etwa Lieferservices,
Video-Streaming-Diensten oder dem Fahrdienst-Vermittler „Uber“ aus. Diese
Konzentration auf das Konsumverhalten der Befragten birgt allerdings die Gefahr
allzu kurzschlüssiger Deutungen: Einer der gängigsten methodischen Fehler bei
der Auswertung von Statistiken ist die Verwechslung von Korrelation und
Kausalität. So betitelt etwa Giuseppe Rondinella seinen Bericht über die
Ergebnisse der SYZYGY-Studie im Marketing-Magazin „Horizonte“ mit der
Feststellung: „Selfie-Stick und Social Media machen Millennials zu Narzissten“.
Die Denkweise, die sich in dieser Formulierung offenbart, erinnert fatal daran,
wie die Schuld an problematischen psychosozialen Entwicklungen in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts bei der Eisenbahn und in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts beim Rock’n’Roll gesucht wurde.
Zweifellos
leuchtet es ein, dass etwa die genannten „On-Demand“-Dienste, die ihren Nutzern
quasi auf Knopfdruck überall, jederzeit und sofort genau das zur Verfügung
stellen, wonach es sie im Augenblick verlangt, die Anspruchshaltung fördern und
die Frustrationstoleranz senken können. Dennoch dürfte es eine allzu
kurzsichtige Annahme sein, dass jemand durch die Nutzung bestimmter Produkte
oder Dienstleistungen zum Narzissten „wird“; plausibler erscheint es, dass
bereits vorhandene narzisstische Tendenzen überhaupt erst die Nachfrage nach
diesen Produkten und Dienstleistungen schaffen.
Gerade
in Hinblick auf den viel gescholtenen „Selfie-Stick“, auch bekannt als
„Deppenzepter“, ist der Befund durchaus ambivalent. Ohne Frage kann man in dem
Trend, Erinnerungsfotos bevorzugt im „Selfie“-Format aufzunehmen – also mit am
ausgestreckten Arm auf sich selbst gerichteter Kamera – ein Indiz für einen
Hang zur Selbstverliebtheit erkennen: Im Vordergrund des so entstandenen Bildes
steht stets das eigene Gesicht, den eigentlichen Anlass für die Aufnahme des
Fotos muss man im Hintergrund suchen. Besonders auffällig ist diese
Verschiebung der Prioritäten bei Urlaubsfotos: Das eigentliche Bildmotiv ist
nicht mehr der Eiffelturm, das Brandenburger Tor oder der Grand Canyon, sondern
„Ich vor dem Eiffelturm, Ich vor dem Brandenburger Tor, Ich am Grand Canyon“.
Man könnte die These wagen, dass der „Selfie-Stick“ – eine Periskopstange, an
der das Smartphone befestigt wird – geradezu ein Korrektiv zu dieser Verengung
des Blickwinkels auf das eigene Ich darstellt: Indem er den Abstand zwischen
Kamera und Gesicht und damit den Bildausschnitt vergrößert, erhöht der
„Selfie-Stick“ die Chance, dass auf dem Bild überhaupt noch etwas anderes zu
erkennen ist als die fotografierende Person selbst.
(Bildquelle hier) |
Dieser
Hang der Millennials zur Vereinzelung, zum Zurückscheuen vor
zwischenmenschlichen Kontakten, zeigt sich auch auf anderen Ebenen. In der
Auswertung der SYZYGY-Studie wird darauf hingewiesen, dass 28% der befragten
Millennials „eher einen Monat auf Sex verzichten“ würden als auf ihr Handy.
Dieses Ergebnis korrespondiert auffallend mit einer Studie aus den USA, diezeigt, dass Millennials signifikant weniger sexuell aktiv sind als frühere Generationen – und dass sie obendrein ihre Sexualkontakte als weniger
befriedigend empfinden. Die Ursachen für dieses Phänomen sind vermutlich
vielschichtig, aber auch hier lässt sich eine Korrelation mit dem Mediennutzungsverhalten
aufzeigen: Vieles spricht dafür, dass das schwindende Interesse der Millennials
an sexuellen Beziehungen mit einem gesteigerten Konsum von Pornographie
zusammenhängt, ebenso wie immer mehr junge Erwachsene soziale Interaktion in
den Bereich von Online-Netzwerken verlagern, wo sie geringeren Aufwand
erfordert und vermeintlich risikofreier und kontrollierbarer ist. Gleichwohl
ist an dieser Stelle erneut zu betonen, dass es zu kurz gedacht wäre, einseitig
die Angebote der neuen Medien für diesen Hang zur passiven Konsumhaltung
verantwortlich zu machen. Vielmehr steht zu vermuten, dass ebendieses
Mediennutzungsverhalten lediglich ein Symptom für ein tiefer liegendes Problem
ist: Die Scheu, sich auf reale zwischenmenschliche Beziehungen – sexuelle ebenso
wie rein soziale – einzulassen, wurzelt letztlich in der Angst vor
Zurückweisung.
„Die
Ursachen für Narzissmus“ – so schreibt Jens Lubbadeh in seinem
SPIEGEL-Artikel von 2014 unter Berufung auf die Psychologin Bärbel Wardetzki
– liegen „häufig im Elternhaus. Wenn Eltern ihr Kind nicht so sehen und
annehmen, wie es ist, sondern sich ein Wunschbild von ihm basteln, wird sich
das Kind damit identifizieren, um überhaupt gesehen zu werden. Dieses Bild wird
dann zum vermeintlichen Ich.“ Diese Feststellung macht die den Narzissten
kennzeichnende Beziehungsangst begreiflich: Jede Art von zwischenmenschlicher
Interaktion birgt die Gefahr, das mühevoll aufgebaute und aufrecht erhaltene
Ich-Ideal in Frage zu stellen. Darum sucht der Narzisst ausschließlich nach
solchen Formen von Interaktion, die sein Ich-Ideal bestätigen – und dies ist
durch die Selbstrepräsentation in Sozialen Netzwerken zweifellos leichter
steuerbar als in „Real-Life“-Interaktionen.
Die
sexuelle Frustration der Millennials kann somit als die bloße Spitze des
Eisbergs der für diese Altersgruppe kennzeichnenden Beziehungsangst betrachtet
werden. Im Gegensatz dazu, was die Propagandisten der „Sexuellen Revolution“
behaupten, zeigen zahlreiche Untersuchungen, dass Sexualität in festen und dauerhaften
Beziehungen größere Befriedigung bietet als außerhalb dieser – weil diese
Beziehungen ein höheres Maß an Intimität oder, um ein altmodisches Wort zu
benutzen, Hingabe ermöglichen. Gerade diese Intimität und diese Hingabe stellt
jedoch ein Risiko dar, das der Narzisst scheut.
Es
bleibt die Frage, woher die statistisch messbare Zunahme narzisstischer
Tendenzen bei jungen Erwachsenen denn kommt, wenn diese Tendenzen von den neuen
Medien zwar wohl bestärkt, aber nicht verursacht werden. Wenn die Psychologie
Recht damit hat, dass Narzissmus bereits im Kindesalter entsteht, liegt es
nahe, die Ursachen in der Erziehung zu suchen. Dabei ist zu beachten, dass die
heute 18-35jährigen nicht mehr die Kinder, sondern bereits die Enkel der
sogenannten ‘68er-Generation sind und somit in potenzierter Form von deren
Erziehungsmaximen geprägt wurden – weil bereits ihre Eltern mit diesen Maximen
aufgewachsen sind. Es wäre zu fragen, ob eine Pädagogik, die
Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung zum höchsten Gut erhebt, nicht gerade
zur Herausbildung eines trügerischen Ich-Ideals beiträgt, das an der Realität
notwendig scheitern muss. „Wir haben es immer mehr mit jungen Leuten zu tun,
denen man etwas Schreckliches angetan hat“, meint etwa der katholische Theologe und Gebetshaus-Leiter Johannes Hartl, „indem man ihnen gesagt hat: Du bist
etwas so Besonderes, du musst eigentlich überhaupt nichts tun. Egal was du
machst, es ist immer besonders.“ Bereits
2008 beschrieb der Journalist Ron Alsop in seinem Buch „The Trophy Kids GrowUp: How The Millennial Generation Is Shaking Up The Workplace“ die oft
unrealistisch hohen Ansprüche, die junge Erwachsene an potentielle
Arbeitsplätze stellen: höhere Löhne, flexiblere Arbeitszeiten, schnelle
Beförderung, viel Freizeit. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt, bedeutet
dies eine gravierende Erschütterung des Selbstwertgefühls – eine Kränkung, die
dann beispielsweise im Rückzug von sozialen Kontakten und der Flucht in
virtuelle Realitäten resultieren kann.
Solche
Fragen berühren die Auftraggeber der SYZYGY-Studie allerdings kaum; der
Intention nach handelt es sich dabei nämlich in erster Linie um eine
Marketing-Analyse. Ziel der Untersuchung ist es weniger, den grassierenden
Narzissmus als soziales Phänomen zu problematisieren, als vielmehr, ihn als „Herausforderung
für Unternehmen“ zu betrachten, „die sie als Konsumenten gewinnen wollen. Es
sind besondere Services und Technologien gefragt, die ihrem Ego schmeicheln und
den Trend zur Selbstinszenierung unterstützen.“
Da wäre natürlich eigentlich ein längerer Kommentar fällig.
AntwortenLöschenEinstweilen nur mal so als Kurzgedanken:
1. Die Geburtsjahrgänge 1980-98 zusammenzuschmeißen erscheint mir unmotiviert. Insbesondere daß die Leute mit dem Internet als mit etwas von Anfang an Selbstverständlichem aufgewachsen sind, trifft nur auf die allerletzten dieser Jahrgänge zu. Internet war erst verbreitet ab so ungefähr Mitte der 1990er, und noch bis weit in die 00er Jahre hinein mußte man für online-Zeiteinheiten Telefongebühren zahlen, konnte nur surfen, wenn gerade niemand anders im Haushalt telefonierte, und auch nur, wenn der Computer neben der Haupttelefonbüchse des Haushalts aufgestellt war (und blieb zu Anfang noch im "BTX" ohne überhaupt einen Netscape Navigator zu öffnen; teilweise tauschte man sich auch in Usegruppen aus, was mit dem uns bekannten Internet ebenfalls wenig zu tun hatte). Anfang der 1990er brauchten Kinder den Computer hauptsächlich zum Spielen, und zwar offline, und Erwachsene (sehr langsam anfangend auch Schüler) zum Arbeiten, und zwar auch das hauptsächlich offline.
2. Wenn manche Leute (nein, Du nicht) über unsere Generation herziehen, fällt mir die Szene aus One Two Three ein, wo Scarlett Piffl geb. Hazeltine sagt:
"I'll put in a good word for you. It's my parents I feel bad about, Otto says they can't be saved any-more; they've got to be liquidated."
Es mag das objektive Betrachten erschweren, aber etwas sträubt sich nun einmal dagegen, den Gedanken von einer verlorenen und nicht oder nur durch ein Wunder zu rettenden Generation auch nur zu denken.
3. Ich frage mich, ob Johannes Hartl nicht, mit Verlaub, einem gewissen konservativen Topos aufsitzt, der - man verstehe mich recht - sicher irgendwo unter ferner liefen auch irgendwo ein Problem ist (wenn auch dieser Gedanke zuerst in den USA formuliert wurde und auch wohl vor allem die USA tatsächlich weitaus mehr als das sonst so verwandte Westeuropa betrifft), während das eigentliche Problem anderswo ist.
(Nur wo?)
Kurzer Nachtrag:
LöschenAuch gerade daß es sich bei den "Millenials" im Sinne von 1980-98 um die Enkel der 68er handelt, trifft nur auf die letzten dieser Jahrgänge zu. Die ersten sind noch deren Kinder; die mittleren sind die, deren Eltern Jugendliche waren, als die 68er aufgetreten sind.
Der Satz mit den "Enkeln" ist freilich eher modellhaft vereinfachend zu verstehen -- wie die ganze "Generationen"-Einteilung ("Baby Boomer", "Generation X", "Millennials") letztlich ja ooch. Von Fall zu Fall können "GenXer" und "Millennials" ja durchaus auch Geschwister sein und werden im Sinne der besagten Einteilung dennoch zu zwei verschiedenen "Generationen" gerechnet...
Löschen(Und ja, die Einteilung scheint auch mir einigermaßen willkürlich. Aber irgendwas wird sich die Soziologenzunft schon dabei gedacht haben. Wie bei den Sinus-Milieus... :P )