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Dienstag, 29. Dezember 2015

Der Tropeneiland-Skeptiker

Irgendwann im Laufe der Adventszeit stellte meine Liebste fest, sie habe bis zum Ende des Jahres noch "Geld zum Verballhornen" übrig. Eigentlich meinte sie "Verballern", aber die Formulierung "Geld verballhornen" gefiel mir irgendwie. Und erst recht gefiel es mir, dass sie dieses Geld dafür zu verwenden beabsichtigte, zwischen Weihnachten und Silvester zusammen mit mir "was Schönes" zu unternehmen. 

Auch als sie schließlich auf die Idee verfiel, auf www.ueberteuerte-poebelbespassung.de zwei Tagestickets für das Tropeneiland, ein Freizeit-Resort in der Brandenburgischen Steppe irgendwo zwischen Königs Wusterhausen und Lübbenau, zu buchen, bemühte ich mich zunächst, das für eine gute Idee zu halten. Zwar habe ich, der ich in einem Badeort aufgewachsen bin, eine bis zum körperlichen Ekel reichende Aversion gegen jedwede Erscheinungsform von Massentourismus und betrachte den Begriff "Spaßbad" als einen Widerspruch in sich; zudem wird mein innerer Waldschrat in der Advents- und Weihnachtszeit ohnehin regelmäßig von Jahresend-Misanthropie befallen und möchte sich am liebsten irgendwo verkriechen, bis der ganze Trubel vorbei ist. Aber andererseits sagte ich mir: Hey, ein Indoor-Regenwald in der Brandenburgischen Steppe, das ist so skurril, das muss man doch mal erlebt haben! Und außerdem, wenn mein Schatz bei mir ist, kann es ja nur gut werden. 

Aber je näher der 28. Dezember - der Tag der unschuldigen Kinder, ausgerechnet - rückte, umso mehr nahm meine Skepsis zu. Was wohl auch dadurch noch verstärkt wurde, dass ich - erstmals die Weihnachtstage nicht im beschaulichen Nordenham verbringend - vom frühen Nachmittag des 24. bis zum Abend des 27. Dezember einen wahren Marathon aus Essenseinladungen, Gesellschaftsspielen und Kirchgängen zu absolvieren hatte und dabei kaum mal eine Stunde am Stück Zeit hatte, meinen inneren Waldschrat zu päppeln. Man verstehe mich nicht falsch: Das Essen war gut, die Geselligkeit fröhlich und die Gottesdienste erbaulich - es war eigentlich alles total schön. Nur einfach zu viel von allem. 

Aber das half nun alles nichts. In aller Frühe brachen wir auf, ausgestattet mit zahlreichen Handtüchern, Badekleidung, Duschgel, Schreibzeug, etwas Lesestoff (darunter das Johannesevangelium auf Plattdeutsch - ein Weihnachtsgeschenk meines Managers - und die Enzyklika Deus caritas est) und Kisten voller buntem Tand für die Eingeborenen. Bargeld hatte ich keins dabei, aber meine Liebste zählte in der S-Bahn ihr Geld und erklärte, das reiche für ein Frühstück am Gesundbrunnen und einige Extras im Tropeneiland, die nicht im Eintrittspreis enthalten wären. "Und ansonsten kann man da bestimmt auch mit Karte zahlen." 
"Wie, Karte? Ich dachte, man besticht die Eingeborenen einfach mit ein paar Glasperlen, Messerklingen und Angelsehnen, und schon bringen sie einem die Früchte des Landes." 
"In dem letzten Freizeitpark dieser Art, in dem ich war, sprachen die Eingeborenen alle sächsisch." 

Nun ja. Trotz dieses leichten Rückschlags in Sachen Erwartungshaltung spekulierte ich darüber, was für nicht im Eintrittspreis enthaltene Extras das Tropeneiland wohl so zu bieten haben würde. "Da kann man sich bestimmt schön von den Eingeborenen mit einer Wurzelbürste den Rücken schrubben lassen", meinte ich, doch meine Liebste entgegnete: "Ich glaube nicht. Und wenn doch, dann heißt es: Wurzelbürste ausleihen 15 Euro, Rücken schrubben lassen 50 Euro." Ach, die Welt ist einfach nicht mehr das, was sie mal war. 

Am Gesundbrunnen, wo wir uns ein mobiles Frühstück am Backwarenkiosk besorgt hatten und in die Regionalbahn umsteigen wollten, stellte sich heraus, dass die Bahnverbindung, die meine Liebste mit Hilfe einer Apple-App ermittelt hatte, veraltet war: Der Zug fuhr gar nicht über Gesundbrunnen. Stattdessen fuhr er etwa zeitgleich am Bahnhof Friedrichstraße ab, und folglich hatten wir ihn, als wir dies herausfanden, bereits verpasst. Glück gehabt, dachte mein innerer Waldschrat: Schon mal eine Stunde gewonnen, die wir nicht im Tropeneiland verbringen müssen. Wir fuhren also mit der S-Bahn zur Friedrichstraße, kauften uns frischen Kaffee zu unseren Backwaren und nahmen dann die nächste Regionalbahn, die in die gewünschte Richtung fuhr. Meinem inneren Waldschrat ging es derweil gut: Regionalbahn fahren mag er nämlich. Und Kaffee sowieso. 

Vom Zielbahnhof brachte uns ein Shuttle-Bus zum Tropeneiland, und in diesem Bus hingen Monitore, auf denen ein Werbevideo lief. Lauter hübsche, wohlproportionierte Menschen, fröhlich lachend, selbst dann, wenn sie von herumtollenden Kindern angerempelt werden. "Wenn das das Tolle an diesem Tropeneiland sein soll", murrte ich, "dann will ich lieber nicht wissen, was es da nicht so Tolles gibt." Als bemerkenswert muss ich allerdings hervorheben, dass sich das Tropeneiland in einer Halle befindet, die 1999/2000 von der wenige Jahre später spektakulär gescheiterten Cargolifter AG als Luftschiffhangar gebaut worden war; nach Angaben der Betreiber ist es die größte freitragende Halle der Welt, was eigentlich Scharen von Architekturnerds anziehen müsste. Ja, man sollte eigentlich annehmen, dass tagtäglich ganze Busladungen von Architekturnerds mit Reisebussen der Firma architekturnerd-reisen.com hier angekarrt würden. Aber danach sieht es nicht wirklich aus. Vermutlich verfluchen die Architekturnerds den Tag, an dem ausgerechnet ein Spaßbad in diese phantastische Halle gebaut wurde. 

Auch lustig fand ich es, dass unsere Online-Tickets zwar theoretisch ein ganzes Jahr lang gültig waren, eine Einlassgarantie jedoch nur für den ersten Gültigkeitstag bis 11 Uhr vormittags galt. Theoretisch könnte man also, wenn man es bis zu diesem Zeitpunkt nicht schaffte, an jedem weiteren Tag des Jahres am Einlass abgewiesen werden. Nun, wir erreichten die Klimaschleuse am Eingang der Halle wenige Minuten vor 11 Uhr und die Kasse, an der wir unsere Tickets vorlegen mussten und dafür Armbänder mit einem RFID-Chip bekamen, wenige Minuten nach 11 Uhr, aber ehrlich gesagt besteht wohl lediglich eine theoretische Möglichkeit, am Einlass abgewiesen zu werden. Die schiere Masse an Besuchern, die sich mit uns in die Halle, zu den Kassen und dann zu den Umkleidekabinen wälzte, gab mir unwillkürlich die Frage ein: Wie voll ist zu voll? Wenn das Tropeneiland jetzt noch nicht als überfüllt angesehen wurde, dann wollte ich mir nicht einmal vorstellen, wie es da drin aussehen müsste, damit der Einlass wegen Überfüllung geschlossen würde. 

Kurz und gut, immerhin in puncto von Kindern angerempelt werden hatte das Werbevideo nicht zuviel versprochen. Davon abgesehen waren in den diversen Szenen des Videos jedoch nur etwa 5% der Menge an Besuchern zu sehen gewesen, die man hier in Wirklichkeit in jedem Augenblick in seinem jeweiligen Sichtfeld hatte. Ich sag mal so: Wäre das Tropeneiland tatsächlich nur von so wenigen Menschen besucht gewesen wie im Video, dann hätte ich immer noch nicht gewusst, warum ich für dieses "Vergnügen" horrend viel Geld hätte ausgeben sollen, aber es wäre immerhin erträglich gewesen. 


Nachdem ich bereits im Unkleidekabinenbereich, veranlasst durch urplötzlich aufsteigende unschöne Erinnerungen an den schulischen Schwimmunterricht, beinahe einen Nervenzusammenbruch erlitten hätte, verspürte ich - sagte ich bereits, dass ich in einem Badeort aufgewachsen bin? - einen massiven Unwillen, in ein Schwimmbecken zu steigen, das von derart vielen Menschen bevölkert war. Meine Liebste ließ sich nicht verdrießen und ging schwimmen, und ich setzte mich derweil auf einen Korbstuhl auf der (erstaunlich wenig bevölkerten) Terrasse des an den Badebereich angrenzenden Restaurants und ließ meinen Blick durch die Gegend schweifen. U.a. sah ich eine dickliche, als Ananas verkleidete Frau, die mit starkem polnischen Akzent auf einer kleinen Bühne das im weiteren Verlauf des Tages anstehende Showprogramm ankündigte. Und dann folgte auf ebendieser Bühne ein Aerobic-Kurs für das anwesende Adipösiat, untermalt von dröhnendem Billig-Techno. Da konnte man ja nur ins Wasser gehen. 

Ein bisschen Schwimmen verbesserte meine Laune erstaunlicherweise beträchtlich, und danach nahmen meine Liebste und ich gemeinsam auf der Restaurantterrasse Platz. "Wie wäre es mit einem überteuerten Mittagessen?", schlug ich vor. Wir studierten die Speisekarte. "Spare Ribs werde ich nie verstehen", merkte ich an. "Man zahlt teures Geld, nur um Knochen abnagen zu dürfen." Also bestellten wir Steak. Das heißt, wir versuchten zu bestellen. Man muss wissen: Das Restaurantpersonal des Tropeneilands wird in Berliner Craft-Beer-Kneipen in der hohen Kunst des Gäste-Ignorierens ausgebildet, bevor es hier anfangen darf. Optional wird auch noch ein Aufbaukurs in Adipositas angeschlossen. Nun ja, irgendwann gelang es uns schließlich doch, etwas zu essen zu bekommen. "Man kann mit seinen tollen Armbändern bezahlen", hatte ich inzwischen beobachtet. "Das rächt sich dann beim Rausgehen." 

Obwohl meine Liebste unerschütterlich gute Laune verbreitete, zeigte sie glücklicherweise Verständnis für meine erheblich weniger euphorische Einstellung. "Ein bisschen ist es hier ja wie in der Truman Show", merkte sie mit Blick auf die zwischen den Kulissen der Badewelt hervorlugenden Wände der Halle an. "Es fehlt nur das Segelboot, mit dem er gegen die Wand fährt." - Nach dem Essen beschlossen wir, uns erst einmal den Indoor-Regenwald anzusehen - der tragikomischerweise sogar mit Infotafeln ausgestattet war, als glaubten die Betreiber ernsthaft, sie hätten einen Bildungsauftrag. Ein buntes Huhn - wie spätere Recherchen ergaben, eigentlich ein Goldfasan - lief uns über den Weg und lockte uns tiefer in den Wald hinein. Dort wäre es beinahe idyllisch gewesen, nur dass man den Pöbel aus der Badeanstalt bis hier hinauf hören konnte. Die meisten exotischen Tiere, die man in diesem künstlich bewässerten Regenwald zu sehen bekam, waren nur Skulpturen - etwa ein Jaguar, ganz schnauzig und schnüffelig wie in der Geschichte Der Anfang der Gürteltiere von Rudyard Kipling, wo Bunter Jaguar, den seine Mami Doffels nennt, herausfinden will, wer Igel und wer Schildkröte ist, weil seine Mami gesagt hat, wenn er einen Igel finde, müsse er ihn ins Wasser werfen, damit er sich entrollt; wenn es aber eine Schildkröte sei, könne er sie mit der Pfote aus der Schale löffeln. Aber natürlich tricksen Igel und Schildkröte ihn aus, sodass Bunter Jaguar gar nichts zu essen bekommt und klagt: "Ich glaub, wir sollten uns lieber nach ner neuen Bleibe umsehen. Am trüben Amazonas sind alle zu schlau für mich armes Kerlchen!" Schildkröten gab es hier immerhin auch in echt, dazu verschiedene, zum Teil erstaunlich riesige Fische und ein Rudel Flamingos, die mit stoischer Gelassenheit vor sich hin staksten und dabei sehr elegant aussahen. 

Nach der Wanderung durch den Regenwald ging es in den Saunabereich, und zu guter Letzt fläzten wir uns auf zwei Liegestühle auf dem Balkon der Salasaca-Baumsauna, wo man noch immer den Pöbel aus der Badeanstalt hören konnte, gleichzeitig aber einen schönen Ausblick über die Anlage hatte. Wir sahen zu, wie andere Pärchen in einem Heißluftballon bis zur Decke der Halle aufstiegen, also bis in eine Höhe von mindestens, wenn nicht noch mehr Metern. An der Decke hing allen Ernstes eine Diskokugel. Das ließ für das abendliche Showprogramm nichts Gutes erwarten. -- Sobald draußen das Tageslicht zu schwinden begann, zauberte die Diskokugel tatsächlich unzählige kleine Lichtpunkte an die Hallendecke, die sich allerdings nicht bewegten. Vermutlich sollten sie einen Sternenhimmel simulieren. An der Decke einer Industriehalle, ganz toll. "So richtig Hogwarts ist das aber nicht", raunte ich meiner Liebsten zu. 

"Eigentlich ist es wirklich schade", sinnierte meine Liebste, "dass sie diesen künstlichen Regenwald unbedingt mit einem Spaßbad kombinieren mussten. Aber anders ließe sich das wohl nicht finanzieren. Sonst hätte man hier ein tolles Aufzuchtprojekt für Orang-Utans einrichten können, mit Auswilderungsprogramm." Mein innerer Waldschrat nickte bedächtig. Der Orang-Utan als solcher ist letztlich ja auch eine Art Waldschrat. -- Nicht lange darauf drang seichte Diskomusik an unser Ohr, die wohl das Abendprogramm ankündigen sollte. "Das sind die Paarungstänze der sächsisch sprechenden Eingeborenen", meinte meine Liebste, und ich erwiderte: "Da fassen sich die Orang-Utans doch an den Kopf!" Und nicht nur die. Wir beschlossen, dass es Zeit sei, den Rückzug anzutreten. Fünf Stunden hatten wir im Tropeneiland verbracht. Ich würde das als ausreichend bezeichnen. Auf jeden Fall habe ich dabei gelernt, wie solche Freizeit-Resorts funktionieren. Ihr Geschäftsprinzip basiert darauf, dass die Besucher alles mitnehmen, was man da so machen kann (und was natürlich alles extra kostet), nur um sich von dem Grauen um sie herum abzulenken. Wären wir länger geblieben, hätte das vermutlich unverantwortliche Mengen sehr, sehr starker Cocktails beinhaltet. Für den Besucher besteht der Reiz dieser Erfahrung nicht zuletzt darin, dass er sich hinterher wieder auf das normale, alltägliche Leben freut. Buchen also auch Sie noch heute Ihr Ticket auf www.ueberteuerte-poebelbespassung.de


P.S.: 
In Wirklichkeit war es gar nicht so übel im Tropeneiland. Das Essen war gut, und dank der unverwüstlichen "Frechheit siegt"-Einstellung meiner Liebsten konnten wir sogar in einem Teil des Restaurants essen, wo zu dieser Zeit eigentlich nicht bedient wurde (und es infolgedessen vergleichsweise ruhig war). Der Saunabereich war sogar richtig klasse. Meine Liebste und ich hatten viel Spaß, und ein lustiger Blogartikel ist bei alledem auch noch rausgekommen. Insofern kann ich abschließend mit voller Überzeugung einen Satz sagen, von dem es anfangs ganz und gar nicht absehbar war, dass ich ihn würde sagen und auch so meinen können: 

Danke für diesen schönen Tag. 


2 Kommentare:

  1. Klingt doch gut.
    Übrigens - ein Goldfasan IST ein buntes Huhn. Frag Deine Holde, die kann Biologie.

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