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Mittwoch, 12. August 2015

"So handgreiflich wie eine Kartoffel" - Vielfalt und Sünde Teil II

Ich weiß schon, man soll nicht über jedes Stöckchen springen, das einem hingehalten wird. Schon gar nicht, wenn es einem in den Sozialen Netzwerken hingehalten wird. Da käme man aus dem Springen ja gar nicht mehr heraus. Aber als ich heute morgen auf dem Weg zur Arbeit ein Facebook-Posting meines Lieblings-Atheisten B. (der mich übrigens auch schon zu diesem Artikel inspiriert hat) las, in dem es um die vorgestrige Sexualmoral der Katholischen Kirche ging, war ich doch der Meinung, das verdiene eine Antwort von mir. Einerseits, weil ich B. nicht als einen Troll ansehe, den man tunlichst nicht füttern sollte, und andererseits, weil der Beitrag sich auf einen auf kath.net erschienenen Text des Bischofs von Olmütz bzw. Olomouc, Jan Graubner, bezog, den ich ausgesprochen gut fand (und finde). B. schrieb, er habe den Artikel auf der Facebook-Seite von kath.net kommentiert - der Kommentar sei jedoch gelöscht und er von kath.net blockiert worden. "Wahrheit tut halt manchmal weh", resümierte er. 

Letzteres stimmt natürlich. Wahrheit kann weh tun, Wahrheit wird oft nicht gern gehört - diese Erfahrung machte ja schon Jesus Christus selbst, als nach seiner Predigt in der Synagoge von Kafarnaum viele seiner Zuhörer sagten: "Was er sagt, ist unerträglich. Wer kann das anhören?" An diesem Tag verlor Jesus einen großen Teil seiner Anhängerschaft; aber eben nicht die ganze. "Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens", antwortete Simon Petrus stellvertretend für die Zwölf Apostel auf die Frage Jesu "Wollt auch ihr weggehen?" (vgl. Johannes 6,60-68). Und aus denen, die blieben, ist die Kirche entstanden. Kein Wunder, dass auch sie in ihrer Geschichte immer wieder die Erfahrung gemacht hat, dass die Wahrheiten, die sie verkündet, nicht gern gehört werden. 

Aber Freund B. ging es ja um die Wahrheit, die er der Kirche ins Stammbuch schreiben wollte. Und was für eine Wahrheit war das? - Zunächst einmal die, dass "laut eigener Umfrage nicht einmal die meisten Katholiken mit der katholischen Sexualmoral etwas anfangen können". Okay, wir wissen, welche Umfrage hier gemeint ist, und ich will mich auch gar nicht damit aufhalten, unter Verweis auf die mickrige Beteiligung an der Fragebogenaktion ihren repräsentativen Charakter in Frage zu stellen. Sagen wir ruhig: Die Aussage stimmt. Zumindest auf Deutschland bezogen. Und zumindest auf Deutschland bezogen wundert es mich auch überhaupt nicht, dass das so ist. Wie sollen die Leute damit "etwas anfangen" können, wenn es ihnen nicht vermittelt wird - nicht in der Firmvorbereitung, nicht im schulischen Religionsunterricht und auch nicht in der sonntäglichen Predigt, von der Ehevorbereitung ganz zu schweigen? Und das betrifft ja nicht nur die Sexualmoral, die man, meiner Überzeugung nach, ohnehin nur im größeren Zusammenhang richtig verstehen kann, im Kontext des christlichen Menschenbildes also und in letzter Instanz im schöpfungstheologischen Zusammenhang. Was solche übergeordneten Zusammenhänge angeht, muss ich sagen, dass selbst ich - obwohl ich sehr "kirchennah" aufgewachsen bin und sowohl einen klugen und engagierten Gemeindepfarrer als auch (ab der 9. Klasse, immerhin) einen sehr anspruchsvollen Religionsunterricht hatte - in meiner Jugend nicht besonders viel darüber gelernt habe. Das Meiste, was ich darüber weiß, habe ich mir erst im Erwachsenenalter auf eigene Faust anlesen müssen. 

Wenn Freund B. also meint, wenn schon Katholiken mit der Sexualmoral ihrer Kirche nichts anfangen können, sei das von Nichtkatholiken erst recht nicht zu erwarten, dann ist ihm zuzustimmen. Sagt dieses fehlende Verständnis aber etwas über Richtig oder Falsch dieser Lehre aus? (Achtung: rhetorische Frage!) 

Freund B. zählt sodann einige Beispiele dafür auf, was es im weiten Feld der menschlichen Sexualität so alles gibt, das - "unter viele[m] Andere[n]" - in der Sicht der Katholischen Kirche "[b]ekanntermaßen" Sünde sei. Die Aufzählung ist im Großen und Ganzen korrekt. Die meisten Punkte könnte man dahingehend zusammenfassen, dass nach katholischer Lehre jedweder sexuelle Verkehr außerhalb einer sakramentalen Ehe (die, schockschwerenot, nur zwischen genau einem Mann und genau einer Frau möglich ist und obendrein auch noch lebenslänglich gilt), Sünde ist. Damit aber nicht genaug: Selbst innerhalb einer sakramentalen Ehe ist Sex nicht uneingeschränkt frei von Sünde. Zwei Punkte scheinen mir da besonders hervorhebenswert. 

"Sex 'nur' aus Spa[ß]", stellt B. fest, werde als Sünde angesehen - und spekuliert sich dafür die Begründung zurecht, Spaß sei "per se verdächtig und sündhaft". Na ja. Zu letzterer Auffassung - auch, aber nicht nur in Bezug auf Sex - habe ich mich hier schon einmal geäußert, und ich glaube, auch ohne religiösen Hintergrund könnte man zu der Auffassung gelangen, etwas nur (!) aus Spaß zu betreiben verrate nicht gerade große Wertschätzung für die betreffende Sache. Man könnte finden, dadurch werde etwas Großes und Schönes, wie Sexualität es unstreitig ist, banalisiert und trivialisiert, und obendrein bedinge eine rein spaßorientierte Sexualität eine egoistische Instrumentalisierung des Partners. Dass man demgegenüber in der scheinbar so restriktiven katholischen Sexualmoral gerade eine ausgesprochene Hochschätzung der Sexualität erkennen kann, wird in einem Text von Johannes Hartl sehr schön dargelegt, und nicht weniger schön, in englischer Sprache, in einem Blogartikel von Pascal-Emmanuel Gobry. Wem das noch nicht ausführlich genug ist, der kann sich ja mal in die "Theologie des Leibes" des Hl. Johannes Paul II. vertiefen. 

Sodann: 'Verhütung'. Hier hält Freund B. sich gar nicht erst bei der Pille auf, sondern kommt direkt zum Kondom. "[K]eine Kondome in Zeiten vin STI wie z.B. HIV sind ne total intelligente Idee". Also, lieber Freund, jetzt enttäuschst du mich aber. So rein intellektuell. Greift man die kirchliche  Missbilligung des Kondomgebrauchs aus dem Gesamtkontext der katholischen Sexualmoral heraus und betrachtet sie als isoliertes Faktum, dann scheint an der Kritik was dran zu sein; aber auch nur dann. Ansonsten müsste es nämlich auffallen, dass die von der katholischen Sexualmoral propagierte Enthaltsamkeit außerhalb der Ehe und Treue in der Ehe wesentlich verlässlicheren Schutz vor sexuell übertragenen Infektionen bietet, als ein Kondom das könnte. Die oft zu hörende oder zu lesende, dadurch aber nicht richtiger oder stichhaltiger werdende Kritik am Kondom"verbot" der Kirche (siehe auch hier) unterstellt also im Grunde, Katholiken würden sich zwar um die Lehre ihrer Kirche in Sachen Enthaltsamkeit und Treue nicht scheren, würden aber, während sie sich fröhlich durch die Weltgeschichte vögeln, den Gebrauch von Kondomen verschmähen, weil das ja "verboten" sei. Im Einzelfall mag so etwas ja vorkommen, und das wäre dann wirklich keine besonders "intelligente Idee"; aber das wäre dann nicht das Ergebnis von zuviel, sondern zu wenig Gehorsam gegenüber der Lehre der Kirche. 

Daher ist auch die Anregung, "man könnte ja mal hochrechnen[,] wie viele AIDS zum Opfer gefallen sind, weil sie aus religiösen Gründen auf Kondome verzichteten", argumentativ unsauber und wird auch den Fakten nicht gerecht. Schaut man mal nach Afrika, kann man nämlich feststellen, dass die HIV-Neuinfektionsraten gerade da rückläufig sind, wo es prozentual besonders viele Katholiken gibt und wo kirchliche Hilfswerke die Menschen dazu anhalten, zur AIDS-Prävention auf Enthaltsamkeit außerhalb der Ehe und Treue in der Ehe zu setzen. Wo es kaum Katholiken gibt, die Katholische Kirche mithin keinen nennenswerten Einfluss hat und AIDS-Prävention im Wesentlichen durch das Verteilen von Kondomen betrieben wird, sieht es sehr viel schlechter aus. 

Aber letztendlich sind das alles nur Details; ein viel grundlegenderes Problem scheint mir der Umgang mit dem Begriff der Sünde zu sein. Auch dazu habe ich unlängst schon etwas geschrieben, aber wohl noch nicht in  hinreichend erschöpfendem Ausmaß. Vermutlich werde ich auch hier wieder nur ein paar Schlaglichter setzen können, aber irgendwann folgt dann vielleicht auch noch ein Artikel 'Vielfalt und Sünde Teil III'. - Zur Sache: Diskussionsbeiträge wie der meines Freundes B. vermitteln mir oft das Gefühl, es werde als anmaßend empfunden, dass die Kirche überhaupt von 'Sünde' spricht - und insbesondere dann, wenn es sich um Dinge handelt, die nach allgemein verbreiteter Meinung der "Privatsphäre" angehören und "niemanden etwas angehen". Dahinter scheint die Auffassung zu stehen, mit ihrem Beharren darauf, dieses oder jenes Tun sei Sünde, gehe es der Kirche darum, Menschen, die nicht nach bestimmten Moralvorstellungen leben, öffentlich zu verdammen. Allerdings geht die kirchliche Lehre davon aus, dass prinzipiell jeder Mensch ein Sünder sei - ja sogar, dass er tagtäglich sündige, was man z.B. daran erkennen kann, dass das Allgemeine Schuldbekenntnis mitsamt Vergebungsbitte fester Bestandteil des kirchlichen Abend- bzw. Nachtgebets, der Komplet, ist.

Nun kann man natürlich fragen: Warum muss das denn so sein, dass jeder Mensch immer und immer wieder sündigt, ja allem Anschein nach gar nicht anders kann, als zu sündigen? - Die katholische Antwort darauf lautet: Das ist die Folge der Erbsünde. Nun ist das natürlich auch wieder eine Lehre, die vielfach bestritten wird, selbst unter Christen. Der große G.K. Chesterton schrieb 1908 in 'Orthodoxie': "Gewisse Theologen von heute bestreiten die Erbsünde, das einzige Stück der christlichen Theologie, das wirklich beweisbar ist." Mit "beweisbar" meinte Chesterton offenkundig, die Erbsünde sei empirisch evident: Man müsse sich nur mal all das Böse ansehen, zu dem der Mensch fähig sei. An dieser Stelle mag der Einwand nahe liegen, man könnte das Böse ja auch einfach als in der Natur des Menschen liegend annehmen, ohne diese Tatsache moralisch zu bewerten. Der offenkundige Pferdefuß an dieser Argumentation: Das Böse als böse zu erkennen und zu benennen, ist bereits eine moralische Wertung. Ebendies, dass der Mensch das Böse als böse erkennt und es trotzdem tut, führt Chesterton zu der Aussage, die Sünde sei "ein Faktum, das so handgreiflich ist wie eine Kartoffel". -- Erbsünde bedeutet, dass Sünden nicht nur einzelne Handlungen sind, sondern dass Sünde ein Zustand ist - ja, sie ist geradezu conditio humana. Man könnte finden, das dies ein sehr düsteres, ja trostloses Menschenbild sei - und das wäre es wohl auch, wenn es nicht die Vergebung der Sünden gäbe. Gerade diese ist aber ein zentrales Element des christlichen Glaubens; dies wird auch in dem Text von Bischof Graubner, auf den B. sich bezog, deutlich hervorgehoben. Graubner betont aber zugleich, dass Barmherzigkeit mit dem Sünder zunächst einmal voraussetzt,  dessen Sünden als Sünden zu erkennen und zu benennen. In diesem Sinne kritisiert auch Chesterton die "merkwürdige Vorstellung, dass es leichter sei, Sünden zu vergeben, wenn man davon ausgeht, dass es gar keine Sünden gibt, die vergeben werden müssten". 

Es ist ein höchst bemerkenswerter, auf den zweiten Blick durchaus folgerichtiger Umstand, dass dieselben Menschen, die die Sünde leugnen, häufig auch die Vergebung leugnen. Nicht selten erlebt man es, dass die Beichtpraxis der Katholischen Kirche dafür kritisiert wird, dass sie es den Menschen zu leicht mache, ihre Schuldgefühle loszuwerden. Zweierlei wird daran deutlich. Einerseits zeigt es, dass Menschen, die sich massiv gegen die von der Kirche gelehrte Klassifikation dieser oder jener Verhaltensweise als Sünde (oder überhaupt das christliche Konzept von Sünde) wehren, oftmals die unversöhnlichsten Moralisten sind. Wie so Vieles, was auf -ismus endet, ist Moralismus aber eine korrumpierte Form dessen, was vor der Endung -ismus steht; in diesem Fall also eine korrumpierte Moral. Da der Moralist sich selbst - wer wollte es ihm verdenken - gern als gut ansehen möchte, hat er ein Problem damit, seine eigenen strengen Grundsätze auf sich selbst anzuwenden. Glaubt er nun nicht an eine Instanz, die ihn von seiner Schuld erlösen kann, bleibt ihm nur noch der Ausweg, sich selbst freizusprechen, indem er seine eigenen Fehler und Schwächen herunterspielt, beschönigt oder gar behauptet, es wären gar keine. Dadurch verschieben sich die moralischen Maßstäbe, und sie verschieben sich immer zu Lasten des Anderen. So findet der moderne Moralist beispielsweise nicht promiskuitives Verhalten, sondern gerade die Kritik daran tadelnswert - indem er sie als Intoleranz, Engstirnigkeit, Prüderie o. dergl. brandmarkt.

Noch wichtiger ist aber die Erkenntnis, dass der Mensch, der nicht daran glaubt, dass ihm vergeben werden könne, sich auch schwer damit tut, Anderen zu vergeben. Vielleicht liegt der Kausalzusammenhang auch darin, dass man Vergebung erst einmal selbst erfahren muss, um sie Anderen gewähren zu können. Das Ergebnis bleibt dasselbe: Wer weder sich selbst noch Anderen vergeben kann, dem bleibt nichts Anderes übrig, als zu leugnen, dass er ein Sünder ist. Gerade durch dieses Leugnen wird er seine Schuld aber nicht los; umso größer ist die Versuchung, sie auf Andere abzuwälzen.

Wer hingegen die Lehre der Kirche über Sünde und Vergebung annimmt - wer also Sünde und Schuld als Realitäten anerkennt, die Vergebung aber auch -, dem sollte es wesentlich leichter fallen, seine Mitmenschen mit allen ihren Fehlern und Schwächen anzunehmen; und, was nicht weniger wichtig ist: sich selber auch. 

Natürlich kommt das in der Praxis nicht immer und überall so schön zur Geltung, wie es sich in der Theorie anhört. Andere zu verurteilen und sich selbst freizusprechen ist etwas, was es auch unter Christen gibt, so sehr die Evangelien auch davor warnen. Und natürlich unterliegen auch Christen der Versuchung, die Zusammengehörigkeit von Sünde und Vergebung - oder, anders ausgedrückt: von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes - aus dem Blick zu verlieren bzw. über die eine Seite der Medaille die andere zu vergessen. Man könnte sagen, ein Christ, der sich von der Last seiner Sünden niedergedrückt fühlt, macht sich der Häresie schuldig, weil er nicht an Gottes Barmherzigkeit glaubt. Aber zu glauben und zu behaupten, es gebe keine Sünde oder diese sei irrelevant, weil ja schon alles vergeben sei, wäre keine geringere Häresie. 


10 Kommentare:

  1. Es ist eh egal. Die meisten Katholiken machen das, was ihnen in Punkto Sexualmoral für richtig erscheint, unabhängig von dem, was die Kirchenspitze fordert. Für die Nichtkatholiken gilt die katholische Sexualmoral sowieso nicht. Wer sich gern dran halten mag, hält sich auch daran. Der Nichtkatholik kann sich also getrost Zeit & Atem sparen bzw. sie wirksamer einsetzen.

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    1. Ich frage mich immer - aus rein empirischem Interesse, wohlgemerkt -, was jemanden dazu treibt, solche Kommentare wie diesen zu schreiben. Das kommt mir so vor wie wenn jemand eigens bei einer Umfrage mitmacht, um zu sagen "Ist mir egal".

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  2. Du schreibst ein paar ganz richtige Dinge über "Sexualität" (etwa: Enthaltsamkeit außerhalb der Ehe und Treue in der Ehe bietet verlässlichen Schutz vor sexuell übertragenen Infektionen) und lieferst dann eine Reihe ebfs. richtiger oder jdfs. gut nachvollziehbarer Überlegungen zum Thema "Sünde" ab. Das Problem an dem Artikel ist eigentlich nur die überhaupt nicht erläuterte gedankliche oder inhaltliche Verbindung zwischen sexuellen Handlungen und Sünde.
    Das läuft letztlich auf ein willkürliches Sündenverständnis hinaus: Sünde ist irgendwas Selbstdefiniertes, von dir (oder "der Kirche") ohne einleuchtende Begründung Gesetztes. Das widerspricht natürlich dem allgemeinen sittlichen Menschenverstand, der sich einfach sagt: Sünde ist was Böses; was nicht böse ist, ist auch keine Sünde.
    Genau da scheint mir auch der Knackpunkt zu liegen, der dazu führt, dass die "Sexualmoral" der Kirche (ein ohnehin viel zu pauschaler Begriff) im Normalfall als unplausibel empfunden und daher schlicht ignoriert oder veralbert wird. Wenn man dann noch ernsthafte oder gut gemeinte Kritik einfach abblockt oder die Diskussion verweigert, tut man der Kirche natürlich keinen Gefallen (das bezieht sich nat. nicht auf dich, ganz im Ggt., sondern auf Noé und Konsorten).

    Wenn man sich dann die Gestalten ansieht, die solche sexualmoralischen Setzungen vornehmen oder aus Bibel oder Natur ableiten etc., wird man als nüchterner Beobachter im Normalfall eher noch skeptischer (deine Bsp. von Johannes Hartl oder vom "ungehobenen Schatz" des hl. Johannes Paul II. zeigen das meine ich ganz gut: Beide legen sich die Dinge ja ziemlich offensichtlich so zurecht, dass sie perfekt auf die jwls. eigene Persönlichkeitsproblematik passen, aber eben kaum als verallgemeinbare Regel durchgehen, auch wenn sie sich Mühe geben, sie so darzustellen).

    Wenn man die kath. Sexualmoral verteidigen will (was man als Katholik ja nichtmal unbedingt muss, man braucht sich ja einfach nur soweit es geht dran zu halten und kann im Übrigen schweigen), müsste man sie so erklären, dass klar wird warum bestimmte Handlungsweisen falsch oder böse sein sollen. Alles andere wirkt nur einfältig oder apologetisch. Unbeholfene oder reflexartige Verteidigungsversuche schrecken m.E. viel mehr ab als irgendwie zu helfen.

    Jan Graubners Statement fand ich auch gut, nicht wegen dem (vorhersehbaren und ganz konventionellen) Inhalt, sondern wegen dem freundlichen Ton. Als Kritiker oder Fragender empfindet man ihn zwar als linientreu und naiv-paternalistisch (was ja nicht schlimm und bei einem Bischof eigtl. auch erwartbar ist), aber nicht als bösartig verbohrt. Das ist auf jeden Fall schonmal ein Schritt in die richtige Richtung.

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    1. Erst einmal danke für die ausführliche und differenzierte Antwort!

      Ja, es mag sein, dass ich es mir etwas einfach damit gemacht habe, so relativ schnell vom Sex-Thema abzubiegen. Möglicherweise klafft da ein gewisse argumentative Lücke im Text. Ich hatte allerdings gehofft, diese mit dem Verweis auf die Artikel von Hartl und Gobry gewissermaßen "überbrücken" zu können, um mich dann umso mehr auf die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Sünde als solchem konzentrieren zu können.

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    2. Verstehe. So ungefähr hatte ich es auch aufgefasst. Das Nervige an diesen Debatten ist aber, dass diese argumentative Lücke praktisch überall klafft oder nur durch wenig überzeugende oder rein ideologische Hilfskonstruktionen überbrückt werden kann. Es ist also weniger deine Ungeschicklichkeit, eher ein generelles Problem.

      Das Unfruchtbare an den Debatten über Sexualmoral im Vorfeld oder im Kontext der Bischofssynode ist aus meiner Sicht vor allem, dass dieser Knackpunkt so selten erkannt, manchmal vielleicht auch mutwillig umschifft wird, um sich keine Blöße zu geben.

      Es geht also überhaupt nicht um Fragen wie "Barmherzigkeit", "Zeitgeist", "Kulturkampf" oder wie sich Sünder gegenüber den Sakramenten zu verhalten haben etc. pp. Bei vielen dieser Punkte kann man konservativen Kritikern einer "Aufweichung der Werte" oft sogar durchaus zustimmen. Sie führen aber nicht weiter.

      Die einzige wirkliche Frage ist, wie man (auf moralphilosophisch und sakramententheologisch (und historisch!) redliche und halbwegs überzeugende Weise natürlich, also nicht plump biblizistisch, fideistisch oder lehramtspositivistisch) begründen kann, dass es sich bei den in Frage stehenden sexualmoralischen Regelwidrigkeiten tats. pauschal (also ohne Würdigung des Einzelfalls) um "objektive" gnadenstandsrelevante Sünden handeln soll. Da habe ich noch nie etwas wirklich Vernünftiges gesehen.
      Spaemann versucht es, verfällt aber in einen gnadenlosen Ästhetizismus (und beweist nebenbei, dass sein jüngster Vorwurf ggü. dem Papst, er sei theologisch unverständig, ins Leere geht, weil Spaemann selber die theologischen Grundfragen nicht begriffen hat und die dem Handeln des Papstes zugrunde liegenden theol. Axiome schlicht nicht begreift).

      Den Artikel von Gobry hatte ich gestern noch nicht gelesen, hab das aber jetzt nachgeholt. Er führt in Bezug auf unsere Frage offenkundig in genau dasselbe Dilemma (alles, was in dieser Beziehung dazu zu sagen ist, steht im Kommentar von Leser Michael Boyle, dem 4. v. oben).
      Das liegt natürlich an Gobrys Herangehensweise, die gar nicht auf "Sünde" abzielt, sondern "Tugend" zum Dreh- und Angelpunkt seiner (typisch US-amerikanisch verkürzten) "Catholic worldview" machen will. Das ist an sich gar nicht so falsch, nur bringt es sündentheologisch nicht. Und Sünde (gut und böse) ist nunmal das einzige Kriterium zur Beurteilung eines Verhaltens vor Gott. Auch der weniger Perfekte ist deswegen nicht automatisch ein Sünder und dadurch sakramentenunwürdig. Sünde ist nicht das vergebliche Streben nach Tugend, sondern nur die bewusste Wegbewegung von Gott, und die muss man den "Irregulären" erstmal nachweisen und darf sie nicht einfach unterstellen.

      Das zeigt auch Gobrys unmittelbar vorausgehender Artikel (wo er sich für den Wiederverheiratetensakramentenausschluss ausspricht und dabei auf bloß tugendethischem Streben nach "Heiligkeit" stecken bleibt und den hier diskutierten Punkt übersieht. Interessanterweise weist Gobry aktuell vorletzter Artikel (zum "Anatheme") genau auf diesen Punkt hin und bezieht die gegensätzliche Position.

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    3. Gute Punkte.

      Ich möchte allerdings noch anmerken, daß in vielen Punkten die Zusammenfassung dieses Sachverhalts lauten dürfte:

      "Wir kennen das Theorem; es fehlt noch der Beweis" (diese Reihenfolge ist übrigens ganz allgemein nichts Ungewöhnliches). Ja, es ist so, daß es in der (nennen wir es zur Vereinfachung einmal so) katholischen Sexualmoral keine Vorschrift gibt**, die nicht naturrechtlich begründet *ist* und damit an sich für alle Menschen gilt - das heißt aber nicht, daß man Dinge, für die man diese Begründung (die es gibt!) nicht *finden kann*, die aber trotzdem feststehen, weil sie zum Beispiel unbestreitbar so in der Bibel stehen (auch wenn dieses Argument tatsächlich nichts zureicht) deswegen über Bord werfen dürfte.

      [** Von im großen und ganzen allenfalls unter läßlicher Sünde verpflichtenden Ausnahmen, wie sie vielleicht - ich bin kein Experte - bei der Behandlung der kirchlichen Fastenzeiten auftreten könnten, einmal abgesehen.]

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  3. In der Analyse ist ein sachlicher Fehler: die HIV Durchseuchungsrate ist in Afrika nördlich der Sahara am niedrigsten und dort sind Katholiken meines Wissens nach in der Minderheit. Grundsätzlich ist es richtig, dass ansteckende Krankheiten (so wie andere auch) durch Verhaltens-Änderungen am besten zu beherrschen sind, die Sache hat nur einen großen Haken: es bringt einer Ehefrau in diesen Ländern nichts wenn Sie noch so treu lebt, wenn ihr Mann jeden zweiten Tag zu einer Prostituierten geht. D.h. hier für ein komplettes Kondomverbot einzutreten ließe diese Frauen einfach im Regen stehen.
    Was die Einhaltung der katholischen Sexualmoral unter Katholiken betrifft ist mir keine aktuelle Studie bekannt. Ich kann das nur schätzen. Es gibt jährlich in Österreich ca. 17.000 kirchliche Eheschließungen. Wenn ich schätzen sollte wie viele Paare vor dem Tag der Eheschließung noch keinen Sex hatten kann ich ehrlich gesagt nur raten. Ich würde sagen zwischen 10 und 20. Was meinen Sie?

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    1. Kann ich nicht sagen, möchte auch nicht drüber spekulieren. Kann schon sein, dass Sie mit Ihrer Schätzung in etwa richtig liegen. Ich finde das aber gar nicht so entscheidend. Um abermals Chesterton zu zitieren: "Right is right even if nobody does it."

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    2. 10 %? So viele?

      Zwei Bemerkungen dazu:
      1. Right is right even if nobody does it.

      2. *Wenn* man schon eine Statistik aufstellen will, dann ist es irreführend, einfach zu zählen, wieviele Leute vor der Ehe Sex hatten. Man muß vielmehr zählen, wieviele Paare sich *an sich* einig sind, daß ihr Sex in die Ehe gehört (ja, das sind immer noch wenig); wie *diszipliniert* die dabei sind, geht aber nur Gott, sie selber und ihren Beichtvater etwas an.

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  4. Wieder einmal tut sich Herr Ebner als Witzbold hervor. Ich weiß ja, dass Sie aus Prinzip immer dagegen sein müssen. Aber mal sachlich: Wer wirklich jeden zweiten Tag zur Prostituierten rennt, der scheint ja auf die Worte des Papstes nicht sonderlich viel zu geben. Wieso ist es dann des Papstes Aufgabe, diesen Mann zum Kondom zu überreden (statt, was ja derzeit Empfehlung wäre, zum Verzicht auf beide Sünden, die größere und kleinere, was das Problem sogar noch effizienter lösen würde)?

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