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Samstag, 4. Juli 2015

Jubilate Deo - Teil II: Ein Kessel Rotes

Wenn man es unternimmt - wie ich es jüngst unternommen habe und noch lange nicht damit fertig bin -, sich mit dem Neuen Geistlichen Lied auseinanderzusetzen und dabei, bei aller Lust am Sarkasmus und an der Polemik, nicht bei der bloßen Veralberung platter und plumper Liedtexte stehen bleiben will, dann kommt man früher oder später nicht darum herum, auch die zeitgeschichtlichen Entstehungsbedingungen dieses speziellen musikalischen Genres ins Auge zu fassen. Konkret gesagt, man kommt nicht darum herum, zu berücksichtigen, dass das NGL aus dem "Geist von '68" hervorgegangen ist - der seinerseits wiederum in einer engen Beziehung zum viel beschworenen "Geist des Konzils" stand (worunter natürlich das II. Vatikanische zu verstehen ist). Auf diese Zeit zurückblickend, schreibt Joseph Kardinal Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., im Vorwort zur 2000er Neuausgabe seiner erstmals just 1968 erschienenen Einführung in das Christentum:
"Für den Stand des Christentums in der Zeit wurde vor allem der Gedanke eines neuen Verhältnisses von Kirche und Welt wirksam [...:] das Überspringen der Unterschiede, das Zugehen auf die Welt, das Sich-Einlassen auf sie. Schon auf den Pariser Barrikaden von 1968 zeigte sich, wie schnell diese Gedanken aus den Gesprächen kirchlicher Akademien heraustraten und ganz praktisch werden konnten: Man feierte eine Revolutionseucharistie und praktizierte damit eine neue Verschmelzung von Kirche und Welt im Zeichen der Revolution, die endlich den Aufbruch zu einer besseren Zeit bringen sollte. Die führende Beteiligung katholischer und evangelischer Studentengemeinden an den revolutionären Umbrüchen in europäischen und außereuropäischen Universitäten bestätigte dieselbe Richtung." (Ratzinger, S. 11f.)
Halten wir fest: Dies war das - wenn man so will - "geistesgeschichtliche" Klima, aus dem heraus das NGL entstand; und im Folgenden werden wir sehen, in welchem Maße sich das auswirkte. -- In jedem Fall kann man dem seinerzeit von der US-Bürgerrechtsbewegung übernommenen Genre des folk-orientierten Protestsongs erheblichen Einfluss auf den ab den späten 60er Jahren um sich greifenden Klampfenkatholizismus attestieren. Es ist durchaus bezeichnend, dass sich in dem von mir untersuchten Liederbuch "Jubilate Deo" unter Nr. 227 Bob Dylans Protestsong-Klassiker "Blowin' In The Wind" (in einer freien Nachdichtung von Hans Bradtke u.d.T. "Die Antwort weiß allein der Wind") findet - wobei es besonders auffällt, dass der Refrain "Die Antwort, mein Freund, weiß ganz allein der Wind" - der sich eng an Dylans Originalformulierung anlehnt und auch im Titel der deutschen Fassung präsent ist - durch eine erheblich aktivistischere Wendung ersetzt wird:
"Die Antwort, mein Freund, sie will gefunden sein,
Die Antwort muss unser Leben sein." 
Der Abschnitt "Gospel und Spiritual" des Liederbuches - den ich ansonsten aus meiner Evaluation ausgeklammert habe - enthält als Nr. 398 sogar die Mutter aller Protestsongs, "We Shall Overcome" - ein Lied, dessen Text zwar angeblich auf eine Dichtung des schwarzen US-amerikanischen Pfarrers Charles Albert Tindley von Anfang des 20. Jhs. zurückgeht und dessen Melodie von einer alten baptistischen Hymne adaptiert sein soll (während andere Quellen auf die vielleicht nicht ganz zufällige melodische Ähnlichkeit zu "O du fröhliche" hinweisen) und das 1952 auf einem Schallplattenlabel für "Negro Spirituals" veröffentlicht wurde, in dem man einen christlichen Inhalt aber nur mit sehr viel Phantasie entdecken kann; bekannt wurde es jedenfalls als Protestsong, besonders ab 1963 in den Versionen der Folk-Ikonen Pete Seeger und Joan Baez, und in besonderem Maße wird es mit der Bewegung zur Emanzipation der Schwarzen in den USA assoziiert.

Als einen "Meilenstein in der Geschichte" des NGL bezeichnet René Frank, seines Zeichens selbst NGL-Komponist, in seiner pädagogischen Examensarbeit Das Neue Geistliche Lied. Neue Impulse für die Kirchenmusik (Marburg 2003; S. 62) das Bundestreffen der Katholischen Jungen Gemeinde (KjG) in Fulda 1972. Im Interesse einer "zeitgemäßere[n] liturgische[n] Gestaltung" (ebd.) dieses Treffens wurden im Auftrag der KjG elf neue Lieder geschrieben, "die sich als Standart[sic!]liedgut für das NGL erweisen sollten" (Frank, S. 63) und die bei zwei Gottesdiensten im Rahmen des Bundestreffens uraufgeführt wurden. Für die Liedtexte zeichnete eine "Gottesdienst-Kommission" unter Federführung des Pfarrers Alois Albrecht verantwortlich, mit der Komposition hatte man den unvermeidlichen Peter Janssens betraut. Wie Alois Albrecht, neben Wilhelm Willms einer der führenden Textdichter der "ersten Generation" des katholischen NGL, sich in einem Interview aus dem Jahr 1995 erinnert, stießen die Fuldaer NGL-Gottesdienste zunächst auf heftige Kritik: "Da wurde gesagt: Der Albrecht überschreitet sämtliche Grenzen. Und ich habe Prügel bezogen, die nicht von Pappe waren" (zit. n. Frank, S. 63). -- Letztlich konnten diese (vermutlich nur verbalen) Prügel aber nicht hindern, dass das NGL einen Siegeszug durch die Liederbücher kirchlicher Verbände antrat, noch auch, dass der gescholtene Albrecht es bis zum Generalvikar der Erzdiözese Bamberg (1990-2006) brachte.

Die KjG, die nach Einschätzung René Franks "[s]eit der Gründung im Jahre 1969 [...] für progressive Meinungen und Aktionen in der Katholischen Kirche" steht (Frank, S. 62), spielte auch weiterhin eine herausragende Rolle für die Popularisierung des NGL, vor allem durch im (1996 aufgelösten) verbandseigenen Verlag publizierte "NGL-Songbücher". 1983 löste das "Rote Songbuch" der KjG eine heftige kircheninterne Kontroverse aus, an die der Verband auf seiner Website mit erkennbarem Stolz erinnert: Die Liedersammlung
"enthielt u.a. Lieder, die sexuelle Verfehlungen von Geistlichen thematisierten (z.B. das Lied "Es wollt' ein Bauer früh aufstehn"), dazu Lieder aus der Arbeiterbewegung ("Brüder, zur Sonne, zur Freiheit"), aber auch moderne Lieder, die sich kritisch mit Religion auseinandersetzen ("Wenn et Bedde sich lohne dääd" von BAP) oder eine befreite Sexualität fordern ("Denn ich will" von André Heller), 
womit die Redaktoren des Songbuchs neben einem entschiedenen Willen zur Provokation auch einen ausgeprägt schlechten Geschmack unter Beweis stellten. Die Deutsche Bischofskonferenz, allen voran der erst kurz zuvor neu ins Amt gekommene Bischof von Fulda, Johannes Dyba, forderte nach wenigen Wochen einen Verkaufsstopp des Songbuchs, "begleitet von der Drohung, die KjG andernfalls aufzulösen bzw. nicht mehr als katholische Jugendorganisation anzuerkennen". Tatsächlich wurde die Liedersammlung vom Markt genommen, konnte sich jedoch "als Schwarzkopie rasch verbreiten". -- Der Name "Rotes Songbuch" bezog sich vordergründig sicherlich auf die Einbandfarbe, ist aber wohl - nicht zuletzt in Hinblick auf die darin enthaltenen "Lieder aus der Arbeiterbewegung" - auch in anderer Hinsicht durchaus passend; etwas heikel ist es in diesem Zusammenhang allerdings, dass nach dem Verkaufsstopp des "Roten Songbuchs" als entschärfte Ersatzversion ein "Braunes Songbuch" veröffentlicht wurde. 

Die führende Rolle, die dieser Jugendverband bei der Etablierung des Neuen Geistlichen Liedes in der Katholischen Kirche spielte, erklärt wohl auch so halbwegs, wie und warum sich eine KjG-Hymne in das Liederbuch "Jubilate Deo" verirrt hat: Nr. 200, "KjG olé" (Text und Musik: Lambert Zumbrägel; Text überarbeitet von Achim Reußwig), beglückt uns mit Weisheiten wie "Der KjG ist ein Verband im BDKJ, / Drum ist unser Chef auch der liebe Gott. / Das K steht für katholisch, das j, das steht für jung, / Das G steht für Gemeinde und alles steht für Schwung". -- Nun gut: Jede Jugendgruppe braucht wohl ihren Schlachtgesang, und der darf auch ruhig albern sein; man mag sogar versucht sein zu sagen: Je alberner, desto besser. Dieses Lied jedoch in ein Liederbuch aufzunehmen, das laut einem Hinweis auf der Einbandinnenseite ausdrücklich und ausschließlich "für die Gestaltung der Gottesdienste bestimmt" ist, ist schon eine bemerkenswerte Fehlleistung. -- In den weiteren Strophen wird in bescheidenem Umfang auch inhaltlich auf die Arbeit der KjG eingegangen...
"3.
Bei Satzung und Struktur ist KjG ziemlich fit,
Im Pädagogiksektor mischt sie ständig vorne mit,
Politisches und inhaltliches meidet sie auch nicht
Und alles dann für Frau und Mann aus spezifischer Sicht.
4.
Ganz eindeutig erkennt man KjG im ganzen Land:
Ein Fallschirm, tausend Kinder und 'ne Klampfe in der Hand
Gewusel und Gegacker, Spiel, Gesang und Aktion
Und am Ende machen alle eine schöne Reflexion."
...wobei sich mir auch wieder die Nackenhaare aufstellen; aber Kritik an den Gepflogenheiten des leidigen deutschen Gremien- und Verbandskatholizismus zu üben ist hier und jetzt nicht mein Thema. 

Bleiben wir trotzdem noch kurz bei der institutionalisierten Jugendarbeit, indem wir uns einer weitere Verbandshymne zuwenden, die es aus unerfindlichen Gründen in ein Liederbuch für die Gottesdienstgestaltung geschafft hat: Nr. 202, "Wir fangen an, bau mit", von Norbert Petau (Text) und the one and only Ludger Edelkötter (Musik), erinnert ja schon vom Titel her stark an die FDJ-Hymne "Jugend erwach" ("Bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend, bau auf"); und das ist natürlich kein Zufall, denn das Lied erfüllt durchaus eine vergleichbare Funktion, nur eben für die Kolpingjugend. Im Refrain ("Was Adolph Kolping damals tat ist heut noch gut") und den ersten beiden Strophen wird der Gründer des Kolpingwerks abgefeiert; Strophe 3 und 4 widmen sich dem Blick auf Gegenwart und Zukunft, auf das eigene Tun zur Schaffung einer besseren Welt. -- Ich kann mir nicht helfen, vor meinem geistigen Ohr ertönt unwillkürlich eine Kolping-Version des Arbeiterkampfliedes "Auf, auf zum Kampf"
"Auf, auf zum Kampf, zum Kampf,
Zum Kampf sind wir geboren!
Auf, auf zum Kampf, zum Kampf,
Zum Kampf sind wir bereit!
Dem Adolph Kolping haben wir's geschworen,
Dem Adolph Kolping reichen wir die Hand."
Anzuerkennen ist, dass Kolping im Liedtext nicht als bloßer Sozialreformer, sondern explizit als Mann des Glaubens apostrophiert wird: So erkennt er in Strophe 1 als eine Ursache des Elends der armen Bevölkerungsschichten, dass sie "ohne Glauben" leben. In Strophe 2 aber ruft er den Elenden zu: "Nehmt vom Glauben das Gute, die Kraft". Das scheint zu implizieren, dass Glaube auch Aspekte habe, die nicht gut seien und die man daher nicht "nehmen" müsse oder solle. Folgerichtig ist in Strophe 3 und 4 vom Glauben überhaupt keine Rede mehr.

Die hier aufscheinende Tendenz, den Glauben nicht (mehr) als ein Gut an sich zu betrachten, sondern ihn nur insoweit als "gut" anzuerkennen, wie er einem Ziel dient - nämlich der Schaffung einer besseren, gerechteren, menschenwürdigeren Zukunft -, ist durchaus charakteristisch für einen ganzen Strang von NGL-Texten, von denen ich einige, die in meiner Evaluation des Liederbuches "Jubilate Deo" in Kategorie D ("Flieht, ihr Narren!") gelandet sind, im Folgenden vorstellen werde. Vorausschicken möchte ich jedoch einige theoretische Erwägungen - abermals anknüpfend an Joseph Ratzingers Einführung in das Christentum bzw. an das Vorwort zur Neuausgabe von 2000.

In seinen einführenden Notizen zum Glauben in der Welt von heute - die, das muss man sich immer wieder bewusst machen, zeitlich zwischen dem II. Vaticanum und dem "Revolutionsjahr" 1968 entstanden - beschreibt Ratzinger einen Paradigmenwechsel im Verhältnis zwischen Mensch und Welt, der zu dieser Zeit auch in die Theologie Einzug hielt, nachdem er in der Philosophie schon seit Mitte des 19. Jh. vorbereitet worden war - vor allem durch Karl Marx, der diesen Paradigmenwechsel in seiner 11. These über Feuerbach programmatisch auf den Punkt brachte:
"Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern." 
Professor Ratzinger kommentiert:
"[D]ie Wahrheit, um die es fortan geht, ist die Machbarkeit. [...] Die Wahrheit, mit der der Mensch zu tun hat, [...] ist die Wahrheit der Weltveränderung, der Weltgestaltung - eine auf Zukunft und Aktion bezogene Wahrheit." (S. 57)  
"War der Mensch zuerst, in Antike und Mittelalter, dem Ewigen zugewandt gewesen, dann in der kurzen Herrschaft des Historismus dem Vergangenen, so verweist ihn nun [...] die Machbarkeit auf die Zukunft dessen, was er selbst erschaffen kann. Wenn er vordem, etwa durch die Ergebnisse der Abstammungslehre, resigniert festgestellt haben mochte, dass er von seiner Vergangenheit her nur Erde, bloßer Zufall der Entwicklung ist, so braucht ihn das jetzt nicht mehr zu stören, denn nun kann er [...] entschlossen seiner Zukunft entgegen sehen, um sich selbst zu dem zu erschaffen, was er will; es braucht ihm nicht mehr als Unmöglichkeit zu erscheinen, sich selbst zum Gott zu erschaffen, der nun als Faciendum, als das Machbare, am Ende und nicht mehr als Logos, als Sinn, am Anfang steht." (S. 58f.) 
In der Rückschau des Jahres 2000 sieht der nunmehrige Kardinal Ratzinger das Bemühen, dieser neuen Weltsicht auch theologisch Rechnung zu tragen, idealtypisch in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie verwirklicht. Diese habe den Versuch unternommen, die Philosophie Marx' für das Christentum zu adaptieren, ähnlich wie es die Scholastik des Hochmittelalters mit Aristoteles gemacht habe.
"Wer aber Marx (in welchen neomarxistischen Variationen auch immer) als den Vertreter der Weltvernunft aufnimmt, der nimmt nicht einfach eine Philosophie, eine Vision über Herkunft und Sinn des Daseins an, sondern der übernimmt vor allem eine Praxis. [...] Wer Marx zum Philosophen der Theologie macht, der übernimmt den Primat des Politischen und der Wirtschaft, die nun die eigentlichen Heilsmächte (und, wenn falsch angewendet, Unheilsmächte) sind. Die Erlösung des Menschen geschieht in solcher Sicht durch die Politik und die Wirtschaft, in der die Gestalt der Zukunft bestimmt wird." (S. 12f.) 
Die enorme Wirkung, die solche Vorstellungen in den 70ern und bis in die 80er Jahre hinein entfalteten, erklärt u.a. auch, warum in einem bestimmten Strang von NGL-Texten so auffallend wenig von Gott die Rede ist:
"Die Rede von Gott gehört in solcher Sicht weder zum Bereich des Praktischen noch zu dem der Realität. Man musste sie - wenn schon - verschieben, bis das Wichtigste getan sein würde. Es blieb die Gestalt Jesu, der nun freilich nicht mehr als der Christus erschien, sondern als die Verkörperung aller Leidenden und Unterdrückten und als deren Stimme, die zu Umbruch, zur großen Veränderung ruft." (S. 13) 
Keine Frage: Ein Glaube, der das Heil nicht als Geschenk, sondern als Aufgabe betrachtet, als etwas selbst zu Schaffendes, dessen Verwirlichung in der Zukunft liegt, hat für Gott keinen sinnvollen Platz. - Ein besonders naiv-plump daher kommendes Beispiel für einen solchen Glauben, dem der Adressat abhanden gekommenen ist, bietet Lied Nr. 195 von "Jubilate Deo": "Wir singen diesen Wunsch" von Hans-Jürgen Netz (Text) und the one and only Ludger Edelkötter (Musik). Jede Strophe des Liedes besteht aus einem Satz: "Wir wünschen, dass jedes Kind auf der Welt lachen kann"; "Wir wünschen, dass jeder Mensch auf der Welt Freude hat"; "Wir wünschen, dass jedes Volk auf der Welt Frieden hat" - und dazu der Refrain: "Wir singen diesen Wunsch,bis er sich erfüllt". - Das wirkt schon arg infantil-trotzig, so als könne man die Erfüllung des Wunsches "herbeisingen"; zudem bleibt offen, von wem die Erfüllung des Wunsches eigentlich auf diese Weise erzwungen werden soll. Von Gott jedenfalls ist keine Rede.

Im Grunde ist dieser Text so schlecht, dass er unter jeder Kritik steht; aber da ist er beileibe nicht der einzige der Sammlung. Nr. 201 etwa, "Leben im Dorf" (Verfasser unbekannt), sorgt erst einmal für Fragezeichen über meinem Kopf. "Leben im Dorf, das ist unser Weg" - was soll das heißen? Ist das ein Aufruf zur Bildung von Landkommunen, eine Art neue "Zurück-zur-Natur"-Bewegung, Abkehr von der dekadenten Großstadt? Oder was? Der Liedtext klingt vage nach politischem Aktivismus, bleibt aber inhaltlich unscharf. In der zweiten Strophe geht es um den "Frieden im Dorf": "Wir hören auf mit kaltem Krieg, / Singen beide dieses Lied". - Der einzige zaghafte Hinweis auf einen religiösen Hintergrund ist ein "Halleluja" am Ende jeder Strophe; ansonsten könnte das Lied ebensogut von jeder beliebigen humanistischen, sozialistischen, anthroposophischen oder grünen Klampfenwandertruppe gesungen werden.

Nicht viel weniger schwammig ist die message der Lieder Nr. 180 und 278, beide aus der Feder von Thomas Laubach (Text) und Thomas Quast (Musik) von der Kölner Gruppe Ruhama, die seit 1984 besteht und somit zur "zweiten Generation" des NGL gerechnet werden kann. Benannt ist Ruhama laut eigener Aussage nach der Tochter des alttestamentarischen Propheten Hosea, deren Name "Erbarmen finden" bedeuten soll; laut Hosea 1,6 hieß das arme Mädchen allerdings zunächst Lo-Ruhama, "kein Erbarmen", wohingegen in Vers 2,2f. die Aufforderung an die "Söhne Judas und die Söhne Israels" ergeht: "Nennt [...] eure Schwestern: Ruhama". - Aber davon mal ganz ab: Die Gruppe Ruhama, "12 Frauen und Männer an Instrumenten und Gesangsmikrophonen, an Ton und Licht, bei Verkauf und Logistik", ist seit 1986 "bei jedem Kirchen- und Katholikentag in Deutschland mit dabei" und macht laut Eigenbeschreibung "liturgische und spirituelle Rock- und Popmusik", "Lieder, die die christliche Botschaft in die Sprache von heute bringen", "Musik, die ins Herz trifft und in die Beine geht", ja: "Christliche Popmusik mit Tiefgang ". - Klingt schlimm, nicht wahr? Aber nicht so schlimm wie ihre Songtexte.

Nr. 278, "Wir machen uns auf den Weg", klingt vage aktivistisch, vor allem aber stark redundant: "Wir machen uns auf den weg auf den weg wir machen uns auf den weg auf den weg wir machen uns auf den weg auf den weg wir machen uns auf den weg" - ja, wohin denn? - "ins leben". Soweit der Refrain; man beachte übrigens die hoch modern-poetische Kleinschreibung. Die vier Strophen richten sich, wer hätte es gedacht, an Gott (bzw. "gott"), indem sie Ihm antragen, was Er tun solle, damit "wir uns auf den weg machen": "mach unsren herzen beine gott ", "zieh du mit uns an einem strang", "bleib du uns auf den fersen gott ", "bau du uns  goldne brücken gott". Mal abgesehen von der eher grobschlächtigen Wortwahl kann man wohl konstatieren, dass das Gottesbild wie auch die Auffassung vom Verhältnis zwischen Gott und Mensch hier recht nebulös bleiben. Aber immerhin kommt Gott überhaupt im Liedtext vor - anders als z.B. in Nr. 180, "Ihr seid der Heimat Gesicht". Dieses Lied feiert den "Beginn einer neuen Welt, einer Welt, die leben lässt" - und imaginiert somit einen zukünftigen Heilszustand, der von den Menschen selbst zu schaffen sei.

Tendenziell noch deutlicher kommt dies in zwei Liedern aus dem Repertoire der Gruppe Gen Rosso - Nr. 59, "Frieden in unseren Händen", und Nr. 60, "Warum bauen wir nicht Brücken" - zum Ausdruck. -- Die Gruppe Gen Rosso könnte man als den musikalischen Arm der Fokolarbewegung bezeichnen: Ins Leben gerufen wurde sie 1966 von deren Gründerin Chiara Lubich, die einer Gruppe musikbegeisterter Jugendlicher eine Gitarre und ein Schlagzeug schenkte. Seither hat Gen Rosso - in wechselnden Besetzungen, versteht sich - 70 Alben mit insgesamt 380 Songs veröffentlicht und auf 230 Tourneen durch 49 Länder auf fünf Kontinenten 2.500 Auftritte absolviert. Im Laufe der Jahre haben über 200 Personen als Musiker oder Techniker bei Gen Rosso mitgewirkt; die aktuelle Besetzung besteht aus 18 Mitgliedern aus neun Ländern. - Das Kurzwort Gen, abgeleitet von " generazione (nuova)", also "(neue) Generation", bezeichnet die Jugend innerhalb der Fokolarbewegung; den Bandnamen "Gen Rosso" könnte man demnach als Rote Generation übersetzen - allerdings rührt dieser Name offiziell von dem roten Schlagzeug her, das Chiara Lubich der ersten Besetzung der Band schenkte. Zu der rein männlich besetzten Gruppe Gen Rosso gibt es auch ein weibliches Pendant namens Gen Verde - eine Mädchenband, die folgerichtig ein grünes Schlagzeug besitzt.  - Laut Eigenbeschreibung (Website) verbreitet Gen Rosso "mit ihrer Musik die Botschaft von Frieden und Geschwisterlichkeit und will zum Aufbau einer geeinten Welt beitragen". Im Songtext Nr. 59 hört sich das dann beispielsweise so an:
"Immer stärker ist er schon zu spüren, dieser Herzschlag einer neuen Zeit" -
diesen Sprachduktus kennt man aus der Jugendbewegung des frühen 20. Jhs. und in der Folge dann aus den Jugendorganisationen der verschiedenen politischen "Bewegungen"; man vergleiche die zitierte Passage nur einmal mit Liedtexten wie "Wann wir schreiten Seit' an Seit'" (Hermann Claudius) oder "Es zittern die morschen Knochen" (Hans Baumann)! - Und ehe mir nun jemand unreflektierte Nazivergleiche vorwirft, sei darauf hingewiesen, dass die beiden genannten Lieder zwar zum Gesangsrepertoire der Hitlerjugend gehörten, aber beide ursprünglich keine Nazi-Hymnen waren: Claudius veröffentlichte sein "Wann wir schreiten Seit' an Seit'" zunächst in einer sozialdemokratischen Jugendzeitschrift, und während der Weimarer Republik wurde das Lied - teilweise mit variierten Texten und in mindestens zwei verschiedenen Vertonungen - von Jugendverbänden unterschiedlichster Couleur gesungen - von katholischen Verbänden wie von kommunistischen, von den Sozialdemokraten bis zur HJ. In der DDR gehörte es zum Liedrepertoire der FDJ, in der Bundesrepublik wird es bis heute auf SPD-Parteitagen, von den JuSos, der Arbeiterwohlfahrt und der IG Metall gesungen. Und als Hans Baumann sein berüchtigtes "Es zittern die morschen Knochen" schrieb, war er noch Mitglied im katholischen "Bund Neudeutschland", und der Text wurde zunächst von einem katholischen Verlag publiziert. - Ende des Exkurses. Bei "Frieden in unseren Händen" verrät ja schon der Titel, wohin der Hase läuft: In unseren Händen soll es liegen, Frieden zu schaffen; das ist eine politische Forderung, aber kein christlicher Glaube, denn der glaubt, dass es den wahren Frieden - "nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt" (Johannes 14,27) - nur aus Gottes Hand gibt. Songtext Nr. 60 imaginiert ebenfalls einen innerweltlichen, vom Menschen selbst zu schaffenden Heilszustand - ohne jede explizite Bezugnahme auf Gott oder Christus und noch dazu in enervierend plump-banalen Sprachbildern:
"Überall auf der Welt gibt es viele Barrieren. Flüsse, Ströme und Meere halten Menschen getrennt. Von weit her schauen wir uns gegenseitig an, doch keiner kennt den andern." 
In der zweiten Strophe wird es tendenziell politischer, es werden Gegensatzpaare genannt: jung und alt, arm und reich, die "farb'gen Völker" und "ihre weißen Brüder". Die Gesamttendenz bleibt aber, wie es in Lessings Emilia Galotti heißt, "verzweifelt naiv".

 Auf die beiden Gen Rosso-Songs folgt im "Jubilate Deo"-Liederbuch als Nr. 61 "Die Zeit zu beginnen ist jetzt" von Christa Peikert-Flaspöhler (Text; von wem die Vertonung ist, habe ich nicht herausfinden können, aber es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn da mal wieder der unvermeidliche Peter Janssens dahintersteckte). Der 1982 entstandene Text changiert zwischen dem Jargon der so genannten Neuen Friedensbewegung ("Schmelzen die Waffen und Gitter, / Rüsten das Leben auf) und allseits beliebten NGL-Klischees ("Pflanzen den Friedensbaum", "Decken den Tisch der Versöhnung, / Feiern das Friedensfest"). Ein interessantes, ja fast schon lustiges Phänomen ist es, dass Nr. 61 durch diese Wortwahl um Nuancen "christlicher" wirkt als die zuvor genannten Lieder, und das, obwohl es auch hier keinen expliziten Gottesbezug gibt. - Es ist wohl kaum besonders überraschend, dass die Autorin Peikert-Flaspöhler (der Name allein!) laut Wikipedia "für ihre feministischen Positionen und ihr Engagement auf Evangelischen Kirchentagen" bekannt ist. Allenfalls ist es vor dem Hintergrund ihres Feminismus auffällig, dass sie in Strophe 2 von einem "brüderlichen Gruß" schreibt; das Liederbuch bietet allerdings, in Klammern, die Alternative "geschwisterlichen" an, aber das würde metrisch natürlich ganz erheblich holpern.

Ähnlich wie die Lieder Nr. 59-61 bilden auch die Nummern 280-282 einen thematisch mehr oder weniger deutlich zusammenhängenden Block; ob das nun Absicht oder Zufall ist, sei mal dahingestellt. Nr. 280, "Wenn das Rote Meer grüne Welle hat" - hier kurz "Grüne Welle" genannt - stammt aus der Feder von Wilhelm Willms, die Vertonung von dem unvermeidlichen Peter Janssens sowie Hans-Jörg Böckeler, und es gehört zu denjenigen NGL-Schlagern, die ich seit meiner Kindheit in- und auswendig kann. Das Titel-Wortspiel mit der "grünen Welle" fand ich allerdings schon damals fragwürdig. - Offenkundig ist, dass der Text des 1. Refrains sich auf das Buch Exodus, Kapitel 14, bezieht:
"Wenn das Rote Meer grüne Welle hat,
Dann ziehen wir frei,
Dann ziehen wir frei heim
Aus dem Land der Sklaverei."
Es gibt jedoch auch noch einen zweiten Refrain:
"Wenn das Land für uns eine Bleibe hat,
Dann bleiben wir hier,
Dann bleiben wir hier weil
Sich das Land gewandelt hat." 
In den fünf Strophen geht's dann nur noch um die Bedingungen dafür, "hier zu bleiben": "Wenn unsre Tränen rückwärts fließen", "Wenn der Stacheldraht rote Rosen trägt", "Wenn unsre Träume Früchte tragen", "Wenn vor jedem Kind Macht die Waffen streckt", "Wenn es dreizehn schlägt und die Zeit zerbricht". - Einmal ganz abgesehen von der Unbeholfenheit dieser Sprachbilder (Wie soll es sich anfühlen, wenn Tränen rückwärts fließen? Wieso sollte das etwas Erstrebenswertes sein?) gilt es zu betonen, dass der im ersten Refrain angesprochene Exodus im weiteren Verlauf des Liedtexts in den Hintergrund gedrängt wird von der Vorstellung, die Zustände im "Land der Sklaverei" könnten sich derart wandeln, dass man aus ihm nicht mehr ausziehen muss. Das Motiv des Aufbruchs ins Ungewisse, bei dem man sich ganz der Führung Gottes anvertraut - ein Leitmotiv der Geschichte Gottes mit seinem Volk, von Abraham über Moses bis hin zu den Jüngern Jesu - wird verabschiedet zugunsten der Vision eines Paradieses auf Erden, für das Gott offenbar nicht mehr gebraucht wird. Folgerichtig wird Er im Liedtext mit keiner Silbe erwähnt.
-- Angemerkt sei noch, dass die zweite Strophe - "Wenn der Stacheldraht rote Rosen trägt" - auch aus marxistischer Sicht unzulänglich ist. Genauer gesagt spielt sie geradewegs der Marxschen Religionskritik in die Hände - warf Marx doch der Religion vor, die Ketten, an die der Mensch geschmiedet sei, mit imaginären Blumen zu schmücken:
"Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche."
Dass in "Wenn das Rote Meer grüne Welle hat" ein paar rote Rosen am Stacheldraht schon genügen, aus dem Land der Sklaverei gar nicht mehr ausziehen zu wollen, wirkt vor diesem Hintergrund bedenklich.

Lied Nr. 281, "Wir ziehen aus" von Eckart Bücken (Text) und Oskar Gottlieb Blarr (Musik) greift ebenfalls die Exodus-Motivik auf - aber ebenfalls ohne expliziten Gottesbezug. Besonders bezeichnend ist die erste Strophe, in der es heißt:
"Wir ziehen aus aus der Brotlosigkeit
In das Land, wo Milch und Honig fließt".
Nun ist die Verheißung eines Landes, in dem Milch und Honig fließen, zwar tatsächlich wesentlicher Bestandteil der Exoduserzählung (vgl. Exodus 3,8.17 u.  33,3); zur "Brotlosigkeit" ist jedoch anzumerken, dass die Israeliten sich in der Wüste sogar zu den Fleischtöpfen Ägyptens zurücksehnten (vgl. Exodus 16,3). Was sagt uns das? - Wer sich mit Gott auf den Weg macht, der muss damit rechnen, dass dieser Weg ihn erst einmal in die Wüste führt. Davon will Bückens Liedtext aber nichts wissen: Auch wenn die folgenden zwei Strophen, in denen anstelle von "Brotlosigkeit" von "Mutlosigkeit" und "Trostlosigkeit" die Rede ist, den Eindruck einer Verengung der Heilserwartung auf rein materielles Wohlergehen zumindest relativieren, bleibt die Perspektive des Liedes doch ganz dem Diesseitigen zugewandt. Ich fühlte mich spontan an Fritz Hochwälders Drama Das heilige Experiment (1942) über die Aufhebung der südamerikanischen Jesuitenreduktionen im Jahr 1767 erinnert: Im Stück wird den Jesuiten vorgeworfen, durch den relativen Wohlstand, den die Reduktionen gewährleisteten, würden die Eingeborenen nicht zu Christen, sondern zu Materialisten erzogen; ja, das Projekt laufe auf den Versuch der Schaffung eines Paradieses auf Erden hinaus, und das sei im Ansatz häretisch. In der 5. Szene des IV. Aktes befragt der nachdenklich gewordene Jesuiten-Provinzial die Indio-Häuptlinge Candia und Naguacu, die für sich und ihren ganzen Stamm um die Taufe ersucht haben, nach den Motiven für diesen Wunsch - und dafür, dass sie sich damit an die Jesuiten und nicht an den zuständigen Ortsbischof wenden. Die Eingeborenen erwidern:
"[D]er Christus, den wir haben wollen, [...] gibt uns zu essen. [...] Er bekleidet uns. [...] Er schützt uns vor den Sklavenjägern. [...] Er baut uns Häuser. Er gibt uns Waffen. Er macht uns mächtig. [...] Wenn man ihn verehrt, wird man belohnt." 
Erschüttert erkennt der Provinzial:
"Das ist der Christus, den wir euch gebracht haben. Oh - ihr seid von uns getäuscht worden. Christus verleiht keine Sicherheit, ernährt nicht, bekleidet nicht - er selbst ist arm und bloß..." 
Wenngleich kaum zu leugnen ist, dass die Sympathien des Autors Hochwälder in erster Linie jenen Jesuiten gehören, deren an Marx' 11. Feuerbach-These gemahnendes Credo lautet "Gott will, dass die Welt verändert werde!", haben doch auch die Einwände der Gegenseite - besonders des zunächst inkognito auftretenden Ordensemissärs Querini - ihr unbestreitbares Gewicht; in einigen Passagen wirkt das Drama somit wie eine bemerkenswert scharfsichtige Kritik der Befreiungstheologie avant la lettre. Aber dazu vielleicht ein Andermal mehr.

Nr. 282, "Was wir bieten, sind wir selbst", gehört zu den elf Liedern, die anlässlich des oben erwähnten KjG-Bundestreffens 1972 geschrieben wurden: der Text ist von Alois Albrecht, die Vertonung vom unvermeidlichen Peter Janssens. Der Refrain zitiert Ezechiel 36,26: "So spricht der Herr: Ich reiß' euch das Herz von Stein aus und schenk' euch ein Herz aus Fleisch." - Die Drastik des "Ausreißens", wo in der Einheitsübersetzung lediglich von "Herausnehmen" die Rede ist, darf wohl als zeittypisch betrachtet werden; im Vergleich zu den bisher besprochenen Liedtexten ist es aber ja schon ganz beachtlich, das hier einmal Gott zu Wort - und auch zum Handeln - kommt. Der Text der drei Strophen des Liedes ist jedoch vollends vom seinerzeitigen links-alternativen Politjargon geprägt: "Tausend Türme aber machen noch keine wohnliche Stadt", "Tausend Pläne aber machen noch keine menschliche Erde", "Tausend Verträge aber machen noch keine friedliche Zukunft" - das hätte man damals wohl an jede Häuserwand sprühen können. - Im Zusammenhang mit dem Refrain könnte man die Strophen mit etwas gutem Willen dahingegend deuten, dass der Mensch aus eigener Kraft nicht in der Lage sei, eine bessere Zukunft zu schaffen, wenn er sich nicht auf die von Ezechiel beschriebene Weise von Gott verwandeln lässt; aber diese Andeutung ist zu unklar, um dem Endruck entgegenzuwirken, das angestrebte Ziel sei auch hier wieder nur ein innerweltlicher Heilszustand - eine "menschliche Erde" eben.

Ähnliche Tendenzen lassen sich in Lied Nr. 184, "Ich sehe eine Kirche", feststellen; der Text ist von Hermann Schulze-Berndt, die Vertonung vom unvermeidlichen Peter Janssens. Allmählich dürfte wohl auch deutlich werden, warum ich ihn den "Unvermeidlichen" nenne: Je länger man sich mit dem Thema NGL befasst, umso mehr verfestigt sich der Eindruck, Peter Janssens habe in den 70er und 80er Jahren alles vertont, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Wenn Verfasser von Liedtexten Peter Janssens zum Tee einluden, mussten sie alles Geschriebene verstecken, sonst konnten sich, wenn sie aus der Küche oder vom Klo zurückkamen, Szenen wie die folgende abspielen:
"Äh, Peter... das sollte eigentlich gar kein Lied werden." -
"Egal! Jetzt IST es eins!" 
"Ich sehe eine Kirche" jedenfalls ist ein Stück aus dem Musical "Elisabeth von Thüringen", das 1984 beim Katholikentag in München uraufgeführt wurde. Und was für eine Kirche "sieht" das lyrische ich das Liedes da? - Schlagwortartig gesagt: eine arme Kirche für die Armen. Das ist insofern stimmig, als die Vita der Hl. Elisabeth von Thüringen, der dieses Musical gewidmet ist, tatsächlich in engem Zusammenhang mit der religiösen Armutsbewegung des Hochmittelalters zu sehen ist; die Aufnahme dieses Themas in einem Musical aus den frühen 80ern wiederum ist sicherlich im Zusammenhang mit der euphorischen Rezeption der Befreiungstheologie zu sehen. Hierzu sei es mir gestattet, abermals Ratzinger (S. 13) zu zitieren:
"Es verwundert nicht, dass die sozialistischen Staaten dieser Bewegung freundlich gegenüber standen. Bemerkenswerter ist, dass auch in den 'kapitalistischen' Ländern die Befreiungstheologie das Hätschelkind der öffentlichen Meinung war, dem zu widersprechen geradezu als Versündigung gegen die Menschlichkeit und die Menschheit angesehen wurde, auch wenn man die praktischen Anweisungen im eigenen Bereich natürlich nicht angewendet sehen wollte, weil man ja bereits bei einer gerechten Sozialordnung angekommen sei." 
Neuerdings erfreut sich das Schlagwort der "armen Kirche für die Armen" vor allem dank Papst Franziskus erneut großer Popularität; nach Einschätzung des Online-Portals katholisch.de ist es sogar "ein Leitwort, das heute aktueller denn je ist". Somit würde es mich nicht wundern, wenn auch das Lied "Ich sehe eine Kirche" heute wieder en vogue wäre. Zu betonen ist dabei aber Verschiedenes. Zum Einen: Aus der Armutsbewegung des Hochmittelalters gingen einerseits innerkirchliche Ordensgemeinschaften wie die Franziskaner und die Dominikaner hervor, andererseits aber auch häretische Gruppierungen wie die Katharer und die Waldenser. Und zum Anderen: Wenn Papst Franziskus von Armut spricht, meint er damit, ebenso wie seine Vorgänger, nicht bloß materielle Armut; der Begriff hat auch und nicht zuletzt eine spirituelle Dimension. Diese fehlt dem Liedtext aber ganz und gar. Der Auftrag der Kirche in der Welt und für die Welt wird ganz und gar auf das Sozial-Caritative und damit Diesseitige verengt; es gibt nicht den geringsten Transzendenzbezug. Von "Kirche" ist die Rede und von einem "Bischof", aber nicht von Gott; wieder einmal bleibt es dem Menschen selbst überlassen, das Paradies auf Erden zu schaffen:
"Ich seh die Gesellschaft, die alle Güter teilt,
[...]
Ich seh einen Staatsmann, der endlich Frieden wagt,
Einen Fürsten, der die Waffen zum Teufel jagt". 
Derweil versorgt mich YouTube mit einer exzellenten Überleitung: Während ich nach Videos zu den hier besprochenen Liedern suchte, war die Website so freundlich, mir weitere Videos vorzuschlagen, nach denen ich nicht gesucht hatte. Darunter befand sich Carlos Pueblas Lied "Comandante Che Guevara" in einer deutschen Nachdichtung von Wolf Biermann,  und auch von letzterem gesungen. Ich horchte auf, als in der letzten Strophe Guevara wie folgt beschrieben wurde:
"Den roten Stern an der Jacke,
Im schwarzen Bart die Zigarre,
Jesus Christus mit 'ner Knarre,
So führt dein Bild uns zur Attacke." 
Nun gut, dieses Lied ist nicht in "Jubilate Deo" enthalten - aber großartig gewundert hätte mich das mittlerweile auch nicht mehr. Zumal sich ein anderes Biermann-Lied sehr wohl in der Sammlung findet - eines, das der Liedermacher selbst augenzwinkernd als "rote[s] Kirchenlied" bezeichnet hat:  "Ermutigung" (Nr. 250). Wozu das 1968 in der DDR entstandene Lied ermutigen will, ist passiver Widerstand gegen "die Herrschenden". Besonders pikant ist es, dass der Liedtext sich in Reimschema, Versmaß und Satzbau eng an Bertolt Brechts explizit antireligiöses Gedicht Gegen Verführung (aus der Hauspostille) anlehnt.

Wem die Hereinnahme dieses Liedes in die Sammlung "Jubilate Deo" noch nicht genug darüber verrät, wes Geistes Kind die Redaktoren des Liederbuchs offenbar gewesen sind, dem gibt Nr. 254 endgültig den Rest: "Unter dem Pflaster liegt der Strand" von Angi Domdey, 1978 auf dem Album "Zerschlag deinen gläsernen Sarg" der radikal-feministischen Rockgruppe Schneewittchen veröffentlicht. Der Liedtext beginnt als eine Art Antwort auf Biermanns "Ermutigung": Heißt es bei Biermann "Du, lass dich nicht verhärten / In dieser harten Zeit", singt Angi Domdey: "Komm, lass dich nicht erweichen, / Bleib hart an deinem Kern". Man kann wohl behaupten, damit sei das feministische Kampflied noch weiter von einer christlichen Botschaft entfernt als Biermanns "rote[s] Kirchenlied". - Der Titel des Liedes zitiert einen "Sponti-Spruch", der im Mai 1968 bei den Studentenprotesten in Paris geprägt worden sein soll; in Berlin erschien von 1974 bis 1985 eine anarchistische Kulturzeitschrift gleichen Namens, in Frankfurt a.M. von 1976 bis 1990 das von Daniel Cohn-Bendit herausgegebene Magazin Pflasterstrand, dessen Name ebenfalls auf den Slogan anspielt. - Der Refrain des Liedes geht übrigens weiter mit dem Vers "Reiß auch du ein paar Steine aus dem Sand" - was sich unschwer als Aufruf zur Gewalt interpretieren lässt, weshalb der damalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg 1978 nach einem Auftritt der Gruppe Schneewittchen in der Kieler Oststeehalle dieses Lied dafür (mit-)verantwortlich machte, dass bei einer Demonstration in Frankfurt Polizisten mit Pflastersteinen beworfen worden seien, wobei es über 100 Verletzte gab. Die Behauptung eines konkreten und unmittelbaren Zusammenhangs - nach dem Motto: Die Leute, die auf dem Konzert in Kiel dieses Lied gehört haben, sind anschließend (und zwar deshalb) nach Frankfurt gefahren, um dort Polizisten zu steinigen - erscheint zweifellos arg konstruiert und war vermutlich auch von Stoltenberg so nicht intendiert; aber dass das Lied und seine Metaphorik ihren Ort im Umfeld der gewaltbereiten Anarchistenszene haben bzw. hatten, lässt sich wohl kaum leugnen.

Wiederholen wir ruhig noch einmal: Das Liederbuch "Jubilate Deo" ist "ausschließlich zum internen Gebrauch in unserer Kirche für die Gestaltung der Gottesdienste bestimmt". Da staunt der Fachmann, und der Basischrist wundert sich. Zum Beispiel auch über Lied Nr. 29, "Leben wird es geben", von Friedrich Karl Barth / Peter Horst (Text) und, man ahnt es schon, dem unvermeidlichen Peter Janssens (Musik). Der Text beginnt, durchaus genretypisch, mit Variationen über das gute alte Hippie-Credo "Turn On, Tune in, Drop Out":
"Spielt nicht mehr die Rolle, die man euch verpasst,
Schminkt nicht eure Masken, bis der Tod euch fasst.
Springt ihm von der Schippe, macht euch unbekannt,
Sucht das eigne Leben, nehmt euch in die Hand." 
Und dann verkündet der Refrain:
"Leben wird es geben, Leben vor dem Tod." 
Die Heilserwartung wird also ostentativ ganz und gar ins Diesseits verlagert, und natürlich ist das ein Heil, das zu schaffen dem Menschen selbst aufgetragen ist:
"Mensch, du hast die Zukunnft noch in deiner Hand.
[...]
Wasch das Bild der Erde frei von Blut und Not,
Dass sie Heimat werde, schön und unbedroht." 
Von Gott oder gar von Christus ist keine Rede, dafür ist wohl auch gar kein Platz in dieser innerweltlichen Heilsvision - weshalb es in Strophe 2 auch heißt "lasst das Missionieren". Christus mit seinem lästigen Missionsauftrag gehört offenbar auch zu den Autoritäten, von denen es sich frei zu machen gilt. - Sagen wir mal so: In einem Liederbuch der Grünen Jugend oder der Jungen Piraten (sofern die so etwas Altmodisches wie Liederbücher überhaupt noch haben) würde ich mich über diesen Song nicht sonderlich wundern; in einem kirchlichen Liederbuch hingegen ist er, das kann man kaum anders sagen, ein Schlag in die Fresse.

In einem anderen Beitrag zu diesem Liederbuch zielt Friedrich Karl Barth - seines Zeichens immerhin (evangelischer) Pfarrer - ein gutes Stück tiefer, etwa so in die Magengegend. Lied Nr. 286, "Unser Traum ist der Weg", ist eines der wenigen in dieser Sammlung, die eine Verfasserangabe tragen: Originaltext und Melodie sollen von jemandem namens Domingos de Santos sein, der deutsche Text jedoch ist von Barth. Und dessen Wortwahl liegt teilweise deutlich jenseits der Grenzen des guten Geschmacks:
"Sieh, sie ziehen auf den Straßen dieser beutegeilen Zeit." (Strophe 1)
"Gerade darum werd' ich immer wieder singen meinen irren Traum" (Refrain)
"Ihre Lunge schreit zum Himmel. Und die fett sind, stört das nicht." (Strophe 2)
"Caterpillar frisst sich weiter, frisst bald alles, will noch mehr" (ebd.). 
Angemerkt sei hier übrigens, dass das englische Wort caterpillar, sowohl in der Bedeutung "Schmetterlingslarve" als auch in der (hier gemeinten) Bedeutung "Kettenfahrzeug", auf Deutsch schlicht "Raupe" heißt, aber ich nehme mal an, das weiß Friedrich Karl Barth auch selber. - Eine Internetrecherche hat mich mit der Information versorgt, dass das Lied - wenn es nicht zufällig ein anderes Lied mit demselben Titel ist - zum Repertoire der brasilianischen Band Terra Sem Males ("Land ohne Übel") gehört, die von einem evangelischen Pfarrer namens Dorival Ristoff geleitet wird. Seinen Charakter als geistliches Lied dokumentiert "Unser Traum ist der Weg" deutlicher als viele andere Lieder der Sammlung durch Formulierungen wie "Jesu Kinder werden eure Freunde sein" (Strophe 2) oder "Gott, da geht dein Segen auf" (Strophe 3); aber davon abgesehen erweckt der Text eher den Eindruck eines Kampfliedes der Landlosen-Bewegung. Dem sozial-politischen Agitprop-Charakter des Liedtexts gegenüber wirken die religiösen Bezüge wie angeklebt - und bleiben letztlich auch unklar in den Aussage. Und bei dem Vers "Unsre Spur im Universum wird ein Weg der Güte sein" rollen sich mir die Fußnägel auf: Vielleicht ist es eine sonderbare Idiosynkrasie von mir, aber für mich steht die Verwendung des Begriffs "Universum" in einem nicht-naturwissenschaftlichen Kontext pauschal unter Esoterikverdacht.

Letzeres ist übrigens ein gutes Stichwort, um zum Ende dieses (ohnehin schon extrem lang geratenen) Artikels und zur Ankündigung der Fortsetzung überzuleiten. Wir wissen schließlich alle aus eigener Anschauung, dass der "Geist des Konzils" und der "Geist von '68" nicht nur politischen Aktivismus hervorgebracht hat, sondern auch noch ganz andere Früchte. Dafür hat die Desillusionierung über das zumindest kurzfristige Scheitern politischer Weltveränderungspläne wohl ebenso gesorgt wie der Umstand, dass die Generation der '68er ziemlich bald das Kiffen für sich entdeckt hat. So machten sich in Deutschlands Wohngemeinschaften und besetzten Häusern alsbald - teils Hand in Hand mit dem politischen Aktivismus, teils in Abgrenzung davon - Neue Innerlichkeit, Öko-Romantik und eben nicht zuletzt auch Esoterik breit; und welche Spuren das im Neuen Geistlichen Lied hinterlassen hat, davon soll in der Fortsetzung meiner "Jubilate Deo"-Evaluation die Rede sein.




9 Kommentare:

  1. Es sei angemerkt - und ein gewisses Lob und Anerkennung dafür, daß derlei Provokationen damals im linken Spektrum noch nicht an der politischen Korrektheit gescheitert, dennoch: für ein Kirchenlied wohl unpassend...

    "Dem Adolph Kolping haben wir's geschworen, dem Adolph Kolping reichen wir die Hand"

    ist ein offensichtlich bewußtes (!), (fast, natürlich) wörtliches Zitat eines bekannten NS-Lieds. (Ich kenne nur die beiden Zeilen, weil sie bei Walter Kempowski zitiert werden.)

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    1. Das ist so nicht ganz richtig - die Nazis haben den Liedtext ihrerseits nämlich auch nur, äh, "adaptiert". In der ursprünglichen Textfassung hieß es noch "dem Kaiser Wilhelm"; die wohl bekannteste Version ist "dem Karl Liebknecht" und "der Rosa Luxemburg" gewidmet...

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    2. Wie gesagt: (ich fühl mich immer angesprochen^^)

      Ich hatte Dir, egal mit was auch immer, keinen unreflektierten Nazivergleich vorgeworfen, sondern im Gegenteil gemeint, dies wäre tatsächlich auch ein Lied der Kolpingjugend gewesen und nicht nur Deine Assoziation... was ich wie gesagt nicht mal so unsympathisch gefunden hätte.

      Gekannt habe ich die Zeilen nur von Kempowski.

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    3. Der Satz mit den "unreflektierten Nazivergleichen" stand schon VOR Deinem Kommentar im Artikel - Du kannst also gar nicht gemeint gewesen sein ;-)

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    4. Und ich hätte mir eingebildet, ich hätte das beim Überfliegen nicht gelesen und es wäre nachher eingefügt worden...

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  2. Ich gebe dem Blogschreiber insofern recht, als bei der Auswahl zu dem Liederbuch "Jubilate Deo" ein ausgesucht schlechter Geschmack an Werk war. Selbst von Textdichtern/Komponisten/Bands, die es zweifellos gut meinten, die grauslichsten (politisch zweifelhaftesten und ungläubigsten) Stücke rauszusuchen, das ist eine ganz eigene Leistung. So haben Gen Rossi z.B. die Hymne zum ersten Weltjugendtag 1984 "Resta qui von noi" geschrieben.

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  3. Hatte den Beitrag leider erst überflogen... deswegen auch nicht gesehen, daß das mit dem Adolph Kolping ja, überhaupt, Deine Assoziation war...

    einstweilen die Geschichte mit dem Caterpillar (weil das gefräßiger klingt, vermute ich):

    das, was der Autor sagen wollte, hat ein Hans-Jürgen Buchner (also "der Haindling") sehr viel treffender ausgedrückt ("Hau ruck"). Auf Youtube leider nicht abrufbar.

    Da hauma no a Straß her! und da hauma no a Straß her!
    Da hauma an Kanal her! und da hauma no an Hafen her!
    Da muaß da Woid weg! und da kimmt a Beton her!
    Dreihundertfuchzigtausend Kubikmeter Beton:

    Hau ruck!
    Hau ruck!
    Des geht bei uns ruckzuck!
    [Instrumental]
    Hau ruck!
    Hau ruck!
    Ja - (hier zensiert) - ruckzuck!
    Im Gleichschritt, alle mitanander:
    koana kann mehr zruck.

    Usw.

    Da ist dann aber auch Musik dahinter. ;-)

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  4. Bei dem (lustigen^^ - auf die art, die man neudeutsch Fremdschämen nennt, versteht sich) KjG-Lied habe ich übrigens vom Rhythmus her sofort Rolf Zuckowski im Kopf: da gänge es dann weiter:

    [und am Ende machen alle eine schöne Reflexion.]
    Wie schön daß sie
    entstanden ist,
    wir hätten uns sonst sehr vermißt,
    wie schön daß wir
    beisammen sind,
    bis die letzte Differenz auch noch verschwindt.

    ;-)

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  5. Zum Thema: Friedenslieder: es gibt ein (sonst textlich, trotz Defiziten im Bereich "Recht auf Selbstverteidigung", gar nicht mal so schlechtes), Lied von unerwarteter (und ungewollter) Selbstironie... laut Google-Info anscheinend auch von dem unvermeidlichen Peter Janssens...

    "Friede den Menschen, Friede von Gott, Friede durch Christus unsern Bruder (klopf klopf)"...

    wo es am Ende der Strophe heißt:

    "im Tanz für die Welt ohne Waffen".

    Schön und gut. Nur: auf "Waffen" (zwei Viertelnoten, "Waf" auf Zählzeit 1) folgt kein Reimwort, dafür aber eineinhalb Takte Pause, und dann der Refrain (ohne Auftakt).

    Musikalisch gibt es dafür (für Männer oder zumindest für Bässe) nur eine befriedigende Lösung: mit einer gewissen Wollust im Pausentakt eine Oktave tiefer "Waffen!" dazwischenzusingen...

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