Wenn man seinen
Samstagsnachmittagskaffee in einem Lokal trinkt, in dem – weil die
Tresenschicht es nun einmal so will – die ganze Zeit Die Toten
Hosen gespielt werden, dann fällt einem irgendwann auf, dass sich
hinter der rebellischen Attitüde der Düsseldorfer Alt-Punks ein
gerüttelt Maß an Spießertum verbirgt. Aber darüber wollte ich
eigentlich gar nicht schreiben. Na, halten wir den Gedanken ruhig
trotzdem fest – vielleicht brauchen wir ihn noch für später.
Das Lokal, in dem ich meinen Kaffee
trank, ist nicht allzu weit entfernt vom Kollwitzplatz, dem
sprichwörtlichen Epizentrum der Gentrifizierung, wo das Sinus-Milieu der Performer seinen mehr oder minder wohlgeratenen Nachwuchs
ausführt, während es gleichzeitig per Smartphone und Tablet an der
Übernahme der Weltherrschaft arbeitet, zumindest der ökonomischen.
Von diesem Milieu grenzt sich die besagte Kneipe allerdings vehement
ab – so vehement, dass ein Spruchband über dem Tresen
barsch verkündet: „Kein Beck's, kein Latte, kein Bullshit“.
Deshalb gehe ich da auch so gerne hin, Punk-Spießigkeit hin oder
her. Außerdem ist der Kaffee gut und billig.
Das alles hat, zugegebenermaßen, immer
noch nur sehr indirekt mit dem Thema zu tun, über das ich hier
eigentlich schreiben will, aber als atmosphärische Einstimmung finde
ich es irgendwie doch ganz stimmig. – Zur Sache: Unlängst erschien
im Magazin futur2 – Zeitschrift für Strategie & Entwicklung in Gesellschaft und Kirche ein Beitrag mit dem Titel „Eine Zukunftsvision für die Kirche“, verfasst von Monsignore Klaus Pfeffer, dem Generalvikar des Bistums Essen, das den Artikel auch auf seiner Facebook-Seite bewarb. Die Resonanz war groß – und kontrovers:
Bei den Einen löste dieses Zukunftsbild begeisterte Zustimmung aus,
bei den Anderen nacktes Entsetzen. Beides ist kein Wunder, denn der
Essener Generalvikar entwirft das Bild einer Kirche, die
maßgeschneidert scheint für die Bedürfnisse und Vorlieben der
Kollwitzplatz-Soja-Latte-Fraktion. Einer Kirche, in der Christen
„interessante Leute“ sind, „achtsam und feinfühlig“,
„untereinander gut vernetzt“, „mit einer hohen fachlichen
Kompetenz“, „sympathisch“, kurz gesagt: zum Kotzen. Wie
Bloggerkollege Cicero in seiner pointierten Analyse des Artikels
feststellt, ist die Kirche, von der Pfeffer träumt, „eine Kirche
der Reichen, der Erfolgreichen, der Jungen und der Schönen“, „eine
gnostische Gemeinschaft der gut Ausgebildeten“, „durchdrungen vom
Positiven Denken“. So furchtbar originell ist diese Vision freilich
nicht: In den Pastoralplänen der deutschen Bistümer stehen die
Sinus-Milieus geradezu im Range eines Dogmas; und es gilt als
ausgemacht, dass das attraktive Sinus-Milieu der Performer für
die Mitarbeit in Pfarreien herkömmlicher Art nicht zu begeistern sei. Also braucht man neue Formen, die gezielt diese Zielgruppe
ansprechen. Schließlich hat diese Zielgruppe dank ihrer guten
Ausbildung und ihres strikten Leistungswillens in der Regel ein gutes
Einkommen und generiert somit viel Kirchensteuer. „Das ist die
Kirche, die sich die Consultants vorstellen“, urteilt Cicero. „Das
sind die Phantasien, die unter Einfluß der Consultants in den
Ordinariaten zum Teil längst die Gestalt von konkreten Plänen
angenommen haben.“
Und es sind schon heute nicht mehr nur
Pläne. In Aachen zum Beispiel gibt es das Zeitfenster,
„ein vom Bistum Aachen gefördertes Projekt, mit dem wir
herausfinden wollen, wie Kirche in Zukunft aussehen kann“. Bei
diesem Projekt handelt es sich um „eine neue Gemeinde in der Pfarre
Franziska von Aachen“ für „moderne Erwachsene mit und ohne
Kinder in der Aachener City“, die „einen Raum für die eigene
Spiritualität“ suchen. An jedem zweiten Freitag im Monat gibt es
da einen „besonderen Gottesdienst“ - „mit Energie, Herzblut und
unter Einbeziehung vieler entwickelt: Ein Gottesdienst, der ins Heute
passt und berührt.“ Zeitfenster verspricht den „perfekten
Einstieg ins Wochenende für Erwachsene mit Lust auf Nahrung für
Herz und Hirn“: „gute Musik, entspannte Leute, normale Sprache“.
Oder was man so für normal hält. Die Website jedenfalls trieft von
exakt demselben Lifestyle- und Wellness-Sprech, der auch das
Zukunftsbild des Essener Generalvikars prägt. Da Aachen von Berlin
aus nicht gerade um die Ecke ist, kenne ich die
Zeitfenster-Gottesdienste nicht aus eigener Anschauung, aber
ich habe mir kürzlich die Aufzeichnung einer Predigt von Annette Jantzen zum Thema „Erfolgreich scheitern“ angehört – oder
anzuhören versucht. Nach einigen Minuten habe ich aufgegeben.
Wenn so die Zukunft der Kirche aussieht (bzw. sich so anhört),
dann wird sie wohl ohne mich stattfinden müssen.
Es besteht aber wohl doch eine gewisse
Aussicht, dass es auch in Zukunft eine Kirche für Menschen geben
wird, die nicht dem Milieu der Performer angehören und
das womöglich auch gar nicht wollen – für total un-hippe
Nicht-Yuppies, die keinen trendigen und gut bezahlten Job, keine
Eigentumswohnung, keine Laktoseintoleranz und kein LinkedIn-
oder Xing-Profil haben und die die Namen ihrer Kinder nicht
aus dem Ikea-Katalog ausgesucht haben. Darüber, wie eine solche
„Kirche der Zukunft“ aussehen könnte, liest man im Allgemeinen
eher weniger, aber vielleicht kann auch hier die Gegenwart schon den
einen oder anderen Fingerzeig geben – insbesondere die Gegenwart in
solchen Gegenden, in denen die Kirche einen schweren Stand hat. Wie
zum Beispiel Neukölln.
Gestern Abend war ich, nachdem ich mich
an den Toten Hosen entschieden überhört hatte, zur
Vorabendmesse in St. Clara in Nord-Neukölln. Nord-Neukölln,
das ist Neukölln im engeren Sinne, der Ortsteil Neukölln im
Bezirk Neukölln – das Neukölln, das, dem Titel eines populistischen Bestsellers zufolge, „überall“ ist. Folgerichtig
lautet das Motto der drei katholischen Pfarreien dieses Stadtteils
„Kirche im sozialen Brennpunkt“. – Ich gehe gern in St. Clara
in die Messe, wenn auch nicht allzu oft, da einige andere
Kirchengemeinden für mich leichter und schneller erreichbar sind;
das Gebäude strahlt von außen wie von innen Würde und
Feierlichkeit aus, Pfarrer Martin Kalinowski zelebriert tadellos und
predigt gut, und Kaplan Johannes Schaan nicht minder. Als ich gestern
dort war, erwarb ich kurz entschlossen für 50 Cent die aktuelle
Ausgabe des gemeinsamen Pfarrbriefs der drei Nord-Neuköllner
Pfarreien – neben St. Clara noch St. Christophorus und St. Richard.
Das 56 Seiten starke Heft mit dem Titel Nordlicht erwies sich
als interessante Lektüre. Unter anderem enthielt es statistische
Angaben zur Mitgliederentwicklung der drei Pfarreien; und schon eine
oberflächliche Analyse der Zahlen ließ einige Probleme erkennen.
Die Kirchenaustrittszahlen der Jahre 2013 und 2014 im Verhältnis zur
Gesamtzahl der in Nord-Neukölln ansässigen Katholiken liegen
deutlich über dem Bundesdurchschnitt; auf der anderen Seite ist der
Gottesdienstbesuch signifikant unterdurchschnittlich: Am
Zählsonntag 2013 fanden gerade mal 3,8% der Nord-Neuköllner
Katholiken den Weg in eine der sechs Kirchen und Kapellen des
Stadtteils, am Zählsonntag 2014 waren es 3,4%. In St. Clara gab es
in beiden Jahren mehr Beerdigungen als Taufen, 2013 war dies auch in
St. Richard der Fall.
Trotz dieser schwierigen Lage entfalten
die Pfarreien des Stadtteils eine beeindruckende Fülle an
Aktivitäten, und zwar sowohl gottesdienstlicher als auch caritativer
Art. An jedem Tag der Woche wird an mindestens einem der sechs
Gottesdienststandorte die Heilige Messe gefeiert, sonntags sind es
fünf Messen, freitags vier, mittwochs und donnerstags drei; je
einmal wöchentlich gibt es Laudes und Vesper, zweimal wöchentlich
Rosenkranzgebet, viermal wöchentlich ein Mittagsgebet. An vier
Standorten gibt es feste wöchentliche Beichtgelegenheiten. - Jede
der drei Pfarreien betreibt eine Kindertagesstätte, St. Richard
zudem ein Seniorenheim mit einem Schwerpunkt auf Palliativpflege. St.
Christophorus betreibt das „Pallotti-Mobil“, ein
Nachbarschaftshilfeprojekt, bei dem Langzeitarbeitslose und/oder
ehemalige Obdachlose die Wohnungen von Sozialhilfeempfängern oder
unter dem Existenzminimum lebenden Mitmenschen renovieren, sowie ein
Nachtcafé für Obdachlose; im Pfarrhaus von St. Clara gibt es eine
Kleiderkammer, außerdem betreibt die Katholische Kirche
Nord-Neukölln am zur Pfarrei St. Clara gehörenden Standort St.
Eduard gemeinsam mit anderen Trägern die Bildungsstätte JACK für
Migrantinnen und Flüchtlinge. Auch um den interreligiösen Dialog
bemüht man sich – nicht unwichtig in einem Stadtteil, in dem es
mehr Muslime als Katholiken gibt.
Das alles erfordert natürlich viel
ehrenamtliches Engagement, aber auch Geld. Und das ist knapp. Man
kann sagen, in Nord-Neukölln ist die von Papst Franziskus
beschworene „arme Kirche für die Armen“ Realität. In St. Clara
wird die Kollekte regelmäßig zur Deckung der Heizkosten
herangezogen – eine Maßnahme, deren Berechtigung den
Kirchenbesuchern besonders im Winter unmittelbar einleuchtet.
Katholisch sein in Nord-Neukölln ist
nicht hip, cool und trendy. Die Menschen, die dort die Heilige Messe
feiern und zur Beichte gehen, sind keine Lifestyle-Avantgardisten mit
beeindruckendem persönlichem Portfolio. Aber beeindruckend ist es,
was die „Kirche im sozialen Brennpunkt“ mit ihren begrenzten
Mitteln so alles auf die Beine stellt – und der Pfarrbrief lässt
keinen Zweifel daran, dass das vielfältige sozial-caritative
Engagement der Gemeinden motiviert ist und getragen wird vom christlichen Glauben, das heißt: nicht von jener diffusen inneren Kraft, von der Monsignore Pfeffer in seiner Zukunftsvision sagt, dass seine interessanten, attraktiven Hipster-Christen sie Gott nennen, sondern vom Glauben an den ganz konkreten Jesus Christus, den Sohn Gottes, der Mensch geworden ist, gekreuzigt wurde und auferstanden ist. So heißt es auf
S. 19 über das Nachtcafé für Obdachlose:
„Was Ihr dem Geringsten meiner Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“, sagt Jesus. „Jesus, dann sitzt Du im Nachtcafé also vor mir. [...]“
Interessant an den oben angesprochenen
Statistiken der Jahre 2013 und 2014 ist auch, dass die Gesamtzahl der
Katholiken in Nord-Neukölln trotz der relativ hohen Austrittszahlen
einigermaßen konstant geblieben ist; die Pfarrei St. Richard ist
sogar leicht gewachsen. Erklären lässt sich das nur durch
Zuwanderung bzw. Zuzug von Katholiken. Das bedeutet, die
Mitgliederstruktur der Pfarreien verändert sich. Der
nordwestlichste, an Kreuzberg angrenzende Teil Neuköllns -
„Reuterkiez“ oder neuerdings auch „Kreuzkölln“ genannt –
entwickelt sich seit einigen Jahren zum Szeneviertel und ist daher
zunehmend von Gentrifizierung betroffen; man darf also davon
ausgehen, dass unter den hierher ziehenden Katholiken auch einige
typische Performer sein mögen, aber die dürften in St.
Christophorus, der nördlichsten der drei Pfarreien – wo PaterKalle Lenz SAC die Liturgie recht freihändig handhabt und seine
Predigten im Stil einer Stand-up-Comedy gestaltet und wo das
dienstags bis freitags um 12 Uhr stattfindende Mittagsgebet „High
Noon“ heißt – recht gut aufgehoben sein. Insgesamt dürfte sich
jedoch eine andere Entwicklungstendenz im sozialen Brennpunkt
Neukölln erheblich stärker auf die Mitgliederstruktur der
Kirchengemeinden auswirken: die Integration von Migranten und
Flüchtlingen, für die sich die Neuköllner Pfarreien ja in
besonderem Maße engagieren. Wie der Migrationsbericht 2013 des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge gezeigt hat, stammt der
weit überwiegende Teil der Zuwanderer, die nach Deutschland kommen,
aus christlich geprägten Ländern; viele sind katholisch, was gerade den ostdeutschen Diözesen signifikante Mitgliederzuwächse beschert.
Diese Zuwanderer bringen ihre eigenen Traditionen, ihren eigenen
Glaubenseifer, ihre eigenen Frömmigkeitsformen mit – und ihre
eigene materielle Armut. Mögen hauptamtliche Pastoralstrategen noch
so blumig von ihrer zukunftsorientierten Hipsterkirche träumen: Es
scheint doch so Manches dafür zu sprechen, dass die Kirche der
Zukunft in Deutschland eher weniger wohlhabend, weniger
hedonistisch, weniger hip und cool sein wird – und weniger
„typisch deutsch“. Mag der Caffè-Latte-Katholizismus sich
einbilden, ihm gehöre die Zukunft; auf längere Sicht, das wage ich
zu prognostizieren, hat er keine Zukunft.
Und das betrachte ich als eine
ausgesprochen gute Nachricht.
[P.S.: Die Überschrift dieses Artikels ist inspiriert von diesem Song von Leonard Cohen - auch enthalten auf dem Soundtrack des Films Natural Born Killers...]
Ich hab mich mit der Thematik nicht intensiv beschäftigt, frage mich aber ehrlich, ob dieses für Zielgruppen maßgeschneiderte Programm, das da vorgestellt wird, tatsächlich etwas soooo Neues und Unkatholisches ist.
AntwortenLöschenSchon in meiner Pfarrgemeinde vor Jahrzehnten gab es Programme für Interessensgruppen - Bastelrunde, Kirchenchor, Missionskreis, Kath. Männerbund und wie sie alle hießen.
Ist das Problem, dass die Planer hier einen qualitativen Unterschied machen und die "Performer" gezielt umwerben als die, mit denen sich Kirche machen lässt?
Ist das Problem, dass hier die Gruppen nach Lebensstil eingeteilt werden ("Perfomer" auf der einen Seite, "Traditionell Arme" auf der anderen)?
Niemand kann der Kirche verdenken, dass sie sich auf eine Zukunft mit leereren Kirchenbänken vorbereiten möchte (und die werden noch viel, viel leerer werden), es würde mich interessieren, inwieweit das Umwerben der "Hipster" mit einer Abwertung weniger hipper Gruppen Hand in Hand geht.
(Der Ansatz erscheint mir schon deshalb problematisch, weil ja der - unfreiwillige? - Kirchenstifter selbst sozusagen diversity bei seinen Berufungen zur Norm machte. Aber sind diese Pläne wirklich so auf Exklusivität gerichtet oder ist das Zitierte nur ein kleiner Ausschnitt einer viel umfassenderen Planung, die unterschiedliche Gruppen berücksichtigt?)