Vorgestern glaubte ich noch, der Piratenpartei ihr schärfster Kritiker (und ich lege Wert auf die Feststellung, dass das, entgegen landläufiger Meinung, eine grammatikalisch absolut korrekte Formulierung ist!) wäre ich. Aber dann kam er: Ansgar Heveling, 39 Jahre alt, seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages -- für die CDU. Noch vor Kurzem kannte ihn außerhalb seines Wahlkreises Krefeld I -Neuss II, wo ihm 42,3% der Wähler ihre Stimme gegeben haben, kaum jemand; dann aber erschien im Handelsblatt ein Gastkommentar von ihm, in dem er die "Netzgemeinde", wie er sie nennt, frontal angriff und dem Web 2.0 den baldigen Untergang prophezeite. Hevelings in apokalyptischen Sprachbildern schwelgende Warnung vor einer dunklen Bedrohung aus dem Internet, der es mit gesetzlichen Maßnahmen wie dem jüngst im US-Kongress bis auf weiteres gescheiterten "Stop Online Piracy Act" (SOPA) entgegenzutreten gelte, erregte umso größeres Aufsehen, als Heveling Mitglied der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft im Bundestag ist. Die Reaktion der "Netzgemeinde" auf Hevelings Äußerungen ließ nicht auf sich warten - und dürfte den erkennbar wenig internetaffinen Rheinländer sowohl in ihrer Vehemenz als auch in ihrer puren Quantität eher unvorbereitet getroffen haben. Die online-Kommunikationsplattform Twitter wurde geradezu überschwemmt von einer nicht enden wollenden Serie von Witzen, in denen unter dem Stichwort #hevelingfacts die (vermeintlich oder tatsächlich) antiquierte und technologiefeindliche Weltsicht des CDU-Hinterbänklers aufs Korn genommen wurde - hier ein paar Highlights:
"Ansgar Heveling ist in Eile, er muss das Drei-Uhr-Drehflügelflugzeug nach Belgisch-Kongo erreichen."
oder:
"Ansgar Heveling fährt nie mit der Bahn. Denn Geschwindigkeiten über 30 km/h machen einen Menschen schwachsinnig."
Damit nicht genug, wurde noch im Laufe des Montags, an dem Hevelings Gastkommentar im Handelsblatt erschienen war, seine Internetseite gehackt - mit der Folge, dass dort ein Artikel unter der Überschrift "Ich habe versagt" erschien, in dem zu lesen war: "Jeder kleine Gnom in der Internetwelt kennt nun den Admin-Benutzernamen samt Kennwort dieser Seite." Mag man diesen Akt von "Vandalismus", wie SPIEGEL online schreibt, "widersinnig" finden - "nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass es hier doch um Netz- und Meinungsfreiheit gehen soll" -; mag man die "Hevelingfacts" auf Twitter mehr oder weniger amüsant und gelungen finden und/oder darauf verweisen, dass Spott "auch eine gewisse stabilisierende Funktion im Rahmen eines sozialen Systems" habe und somit völlig legitim sei; letztlich kommt man nicht um die Erkenntnis herum, dass die Thesen des Herrn Heveling noch nach einer anderen Antwort verlangen als der des schlichten Lächerlichmachens. So wirkt es doch einigermaßen befremdlich, dass die offizielle Stellungnahme des Bundesvorsitzenden der Piratenpartei, Sebastian Nerz, nicht über das Niveau eines mittelprächtigen "Hevelingfacts"-Tweets hinausgeht:
"Ich würde [Heveling] dringend raten, sich einmal mit den technologischen Entwicklungen seit 1960 zu beschäftigen. Das eine oder andere neuartige Gerät könnte empfehlenswert sein. Aus pädagogischen Gründen halte ich es aber für sinnvoll, mit dem Farbfernsehen zu beginnen und sich erst später mit fortschrittlicheren Entwicklungen wie BTX oder betamax zu beschäftigen, ansonsten könnte eine Überforderung eintreten."
Sehr lustig, Herr Nerz! All die Witze über Drehflügelflugzeuge, Belgisch-Kongo und die Gefahren des Bahnfahrens sind als Witze gut und fein, aber zur politischen Auseinandersetzung mit Hevelings Thesen taugt es nicht, ihn schlicht zum Steinzeitmenschen zu stempeln, dem technische Neuerungen unheimlich sind, weil er sie einfach nicht versteht. Tatsächlich schreibt Heveling ja ausdrücklich: "Natürlich verändert die fortschreitende Digitalisierung unsere Gesellschaft. Vieles wird einfacher. Auch dieser Text ist mit Hilfe der Errungenschaften der Digitalisierung entstanden." Nicht die technischen Möglichkeiten des Internets an sich sind es, die ihm Sorge bereiten, sondern "die Menschen, die hinter den Maschinen sitzen und eine andere Gesellschaft wollen. Die die totale Freiheit apostrophieren und damit letztlich nur den 'digitalen Totalitarismus', wie es Jaron Lavier genannt hat, meinen". Der Mann, den Heveling hier als Kronzeugen aufruft, heißt zwar Lanier, aber allein die Tatsache, dass der etwas bieder und pausbäckig dreinschauende CDU-Mann diesen rastamähnigen Informatiker und Medienphilosophen anführt - von ihm dürfte er auch den Begriff "digitale Maoisten" übernommen haben -, hätte Nerz & Co. doch zu denken geben können.
In gewissem Sinne bestätigt die dummdreiste Replik des Oberpiraten Nerz auf Hevelings Polemik nur allzu deutlich dessen Vorwurf, dass "die 'digital natives' den realen Menschen zum Dinosaurier erklären". Oder, neutraler ausgedrückt: Das Problem scheint zu sein, dass Heveling und die Menschen, für die er spricht, tatsächlich in einer anderen Realität leben als die "Netzgemeinde", als deren politische Vertretung sich beispielsweise die Piraten gern sehen möchten; und beide Seiten bestehen darauf, dass ihre Realität die richtige sei.
Nähert man sich Hevelings Philippika hingegen in der redlichen Absicht, seine Thesen ernst zu nehmen, muss man bald feststellen, dass der Autor dies dem geneigten Leser nicht gerade leicht macht. Das beginnt damit, dass nicht recht verständlich wird, was er eigentlich will. Wenn es ihm nur darum geht, eine "Regulierung" des Internets durch Gesetze à la SOPA zu propagieren - und tatsächlich hat Heveling erst kürzlich ein Unterstützungsschreiben für den gescheiterten Gesetzentwurf unterzeichnet -, dann muss man sich fragen, was dieses ganze seherische Geraune vom "Endkampf", in dem "digitales Blut" fließen werde, eigentlich bezwecken soll - und ob sprachliche Bilder der Art, dass sich "nach dem Abzug der digitalen Horden [...] nur noch die ruinenhaften Stümpfe unserer Gesellschaft in die Sonne recken und wir auf die verbrannte Erde unserer Kultur schauen müssen", nicht auf eine bedenkliche Geisteshaltung bzw. -verfassung schließen lassen. Hinzu kommt, dass Hevelings Text wenig echte Argumente enthält, diesen Mangel aber durch propagandistisch-manipulative Rhetorik wettzumachen sucht. Bezeichnend ist da nicht zuletzt sein Rückgriff auf die Französische Revolution, die laut Heveling für "Freiheit, Demokratie und Eigentum" gestritten habe. Nun haben wir allerdings alle mal in der Schule gelernt, dass das zentrale Motto der Französischen Revolution "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" lautete. Heveling versucht hier also zu schummeln, und man muss sagen, dass er das nicht ungeschickt macht. Den Begriff "Freiheit" lässt er unverändert stehen - und daran tut er gut, denn für Freiheit ist ja jeder, wiewohl vermutlich fast jeder etwas anderes darunter versteht; das ist ja gerade das Schöne an dem Begriff. An die Stelle von "Gleichheit" setzt er "Demokratie" - die ja durchaus etwas mit Gleichheit zu tun hat, Gleichheit in Hinblick auf die staatsbürgerlichen Rechte etwa; andere Aspekte von Gleichheit deckt der Begriff Demokratie hingegen nicht, oder nicht zwangsläufig, ab - soziale Gleichheit etwa, und was Heveling von dieser hält, wird spätestens deutlich, wenn er die soziale Kategorie der "Brüderlichkeit" kurzerhand unter den Tisch fallen lässt und stattdessen "Eigentum" einsetzt. Eine Begriffstrias derart abzuwandeln, dass man ihren ersten Bestandteil beibehält, den zweiten durch einen immerhin noch verwandten Begriff und den dritten dann gleich durch einen offenkundigen Gegensatz ersetzt, das ist ein rhetorischer Trick wie aus dem Lehrbuch; aber wie zahlreiche Kommentare auf Twitter beweisen, lässt die kritische Öffentlichkeit ihm das nicht durchgehen.
Dass Heveling sich überhaupt auf das Erbe der Revolution beruft, nachdem er den Begriff "Revolution" zuvor eindeutig abwertend gebraucht hat, ist noch aus anderen Gründen bezeichnend. Offenkundig will er damit dem Eindruck entgegenwirken, er sei ganz einfach stockkonservativ. Neinnein, beteuert er, ganz im Gegenteil: Ich stehe auf dem Boden der Ideen von 1789, und es geht mir gerade darum, sie zu bewahren, zu verteidigen! Wenige Absätze später will er die Bürger folgerichtig gleich "auf die Barrikaden" schicken - wer denkt da nicht an Eugène Delacroix' herrliches Gemälde "Die Freiheit führt das Volk"? Dass Heveling seine Barrikadenkämpfer statt mit Säbeln und Gewehren nur mit einem "gebundenen Buch" bewaffnen will, mag der eine beruhigend, der andere skurril finden; aber wenn man sich ansieht, an was für Bücher er da denkt, wird es gleich wieder interessant. "Goethe" - na ja, geschenkt; "die Bibel" - da dürften sich die Geister schon scheiden - "oder auch Marx" - nanu? Eine überraschende captatio benevolentiae an die Linke - mit der Heveling offenkundig erneut bezweckt, dem Verdacht zu entgehen, er sei ein verschnarchter Reaktionär.
Ein weitere Mangel von Hevelings Polemik besteht darin, dass trotz seiner Bemühungen, die dunkle Bedrohung aus dem Internet zu personalisieren, sein Feindbild - die "Netzgemeinde" - nicht recht plastisch wird. Wer genau sind denn nun die "digitalen Maoisten", und was tun sie unserer Gesellschaft und Kultur Furchtbares an? Und kann Herr Heveling sich mal entscheiden, ob er die 'verlorene Generation' von Web-2.0-Junkies dämonisieren oder mit onkelhafter Herablassung bemitleiden will? Zugegeben, für Hevelings Beobachtung, dass "Narzissmus und Nerdzismus Zwillinge" seien, lassen sich, nicht zuletzt in den Reihen der Piratenpartei, durchaus anschauliche Belege finden. Und ebenso unstrittig dürfte sein, dass es eine Menge Internet-Nutzer gibt, die eine Plattform wie Twitter tatsächlich in erster Linie dafür nutzen, ihre "zweite Pubertät zu durchleben". Aber gerade die bedrohen wohl kaum die Grundfesten unserer Zivilisation. Kann es also sein, dass Heveling in Wirklichkeit Angst vor jenen anderen hat, die entdeckt haben, dass soziale Netzwerke und Kommunikationsplattformen im Internet noch ganz andere Möglichkeiten bieten - Möglichkeiten der Vernetzung und Mobilisierung, die - wie nicht nur der "Arabische Frühling" gezeigt hat - ganz konkrete gesellschaftliche und politische Veränderungen bewirken können? Es sieht stark danach aus, aber direkt zugeben kann Herr Heveling das nicht, da er sich ja sonst doch als das zu erkennen geben müsste, was er so gern nicht sein will: ein kulturpessimistischer Reaktionär.
Den löblichen Versuch, sachlich auf Hevelings Anwürfe zu antworten, hat - wiederum im Handelsblatt - Frank Rieger, Internetexperte und Sprecher des Chaos Computer Club, unternommen. Gerade der ruhige, besonnene Ernst, mit dem Rieger sich - nach einem durchaus kämpferischen Einstieg - der Frage nach dem Schutz geistigen Eigentums im Internet widmet, ist aber zugleich eine Schwäche seiner Replik: Sie langweilt den Leser mit Fakten und Argumenten, wo Heveling erschütterndes Pathos bietet. Wer nicht sowieso schon, zumindest tendenziell, Riegers Auffassungen teilt, wird schwerlich die Geduld haben, das alles durchzulesen - schon gar nicht online.
Schließlich meldete sich - abermals im Handelsblatt - auch noch Hevelings Fraktionskollegin Dorothee Bär, stellvertretende CSU-Generalsekretärin und Vorsitzende des CSU-Netzrats, zu Wort. Womöglich in der Hoffnung, Heveling würde in Folge der hochkochenden Debatte seinen Platz in der Enquete-Kommission verlieren und sie könnte ihn dann beerben, feuert sie aus allen Rohren gegen den Kollegen, dem sie vorwirft, als Politiker seinen Beruf verfehlt zu haben: "Politik ist dazu da, den Menschen zu helfen - nicht sie zu verunsichern." Ach so. Und Meteorologen sind dazu da, gutes Wetter anzusagen und kein schlechtes, oder wie muss ich das verstehen? Spricht es nicht für ein verqueres Demokratieverständnis, zu behaupten, Volksvertreter müssten diese oder jene Positionen vertreten, sonst seien sie keine? "Ganz sicher aber sind in der 'Enquetekommission Internet und digitale Gesellschaft' Mutmacher gefragt - keine Angstmacher", säuselt die Bär weiter und gibt damit nicht nur ein astreines Bewerbungsschreiben auf Hevelings Posten ab, sondern erhebt ihr Konzept der Wohlfühlpolitik auf eine neue Stufe der Unerträglichkeit. Und das aus dem Mund bzw. der Feder einer CSU-Politikerin? Ist das nur populistische Anbiederei, oder ist die ideologische Orientierungslosigkeit der Merkel-CDU jetzt auch in der bayerischen Schwesterpartei angekommen?
Ansgar Hevelings Handelsblatt-Gastkommentar, bei allem, was man gegen ihn einwenden kann und muss, rockt. Man kann sich darüber aufregen, man kann darüber streiten, und das ist doch schon mal was. Derjenige von Dorothee Bär ist nur schleimig und klebrig. Die Frau hat vermutlich noch eine große politische Karriere vor sich. Liebe Netzgemeinde - habt Ihr DAS gewollt?
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen