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Samstag, 27. Dezember 2025

Utopie und Alltag 5: Im Epizentrum der Heilsgeschichte

Frohe Weihnachten, Leser – Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen Seiner Gnade! Ich hoffe, ihr hattet soweit alle ein schönes und segensreiches Fest; wie's bei uns war, erfahrt ihr im Folgenden, aber natürlich geht es auch in diesem Wochenbriefing, wie immer, auch noch um andere Themen als darum, was die Familie so erlebt hat. Also freuet euch und fürchtet euch nicht! 

In reinlichen Windeln das himmlische Kind / viel schöner und holder als Engelein sind.

Wir warten aufs Christkind 

Der Samstag vor dem vierten Advent begann dramatisch – nämlich damit, dass unser Jüngster am Frühstückstisch eine Tasse frisch aufgebrühten Tee umstieß und sich Verbrühungen an der Hüfte und am Oberschenkel zuzog. Nach einer Sofortbehandlung mit kaltem Wasser sah es immer noch schlimm genug aus, dass wir es für ratsam hielten, einen Arzt aufzusuchen; was am Wochenende natürlich hieß: Notfallambulanz. Damit unsere Große dorthin nicht mitkommen musste, organisierten wir für sie spontan einen Besuch bei einer Schulfreundin. Bei der Kinder-Notfallambulanz wurden wir freundlich und kompetent behandelt, auch die Wartezeit war einigermaßen überschaubar, und der Knabe war schon bald wieder munter und fröhlich. 

Als ich am Nachmittag die Große bei ihrer Schulfreundin abholte, um mit ihr zur Krippenspielprobe zu fahren, kam die besagte Freundin kurzerhand dorthin mit – eigentlich nur zum Zuschauen, aber dann sprang sie spontan in der Rolle von "Engel 1" ein, da die eigentliche Darstellerin abwesend war. Es fehlten auch noch zwei weitere Darsteller, und der Musiker, der die Lieder zum Krippenspiel auf der Gitarre hätte begleiten sollen, fiel aus gesundheitlichen Gründen aus – und ich sah mich, auch wenn ich seit dem legendären Bandwochenende häufiger und regelmäßiger Gitarre übe und glaube, mich dadurch schon einigermaßen verbessert zu haben, nun auch nicht in der Lage, mal eben schnell die Gitarrenbegleitung für acht Lieder draufzukriegen. Nicht dass das jemand von mir verlangt hätte. Aber immerhin beim Gesang konnte ich helfen. – Trotz der genannten Ausfälle und einiger ungeklärter Technikfragen lief die Probe insgesamt so, dass ich hinsichtlich der Aufführung schon optimistischer war als vorher; aber ehe ich über die Aufführung berichte, sind noch ein paar andere Ereignisse zu würdigen. 

Dazu gehört erst einmal der dritte und letzte Kinderwortgottesdienst der diesjährigen Adventszeit in St. Joseph Siemensstadt. Wir hatten eigentlich damit gerechnet, dass dieser KiWoGo eher schwach besucht sein würde, aber das erwies sich als Irrtum: 21 Kinder nahmen teil, mehr als an jedem anderen Kinderwortgottesdienst dieser Saison bisher, und dazu einige Eltern. Bis kurz bevor es losging, hatte ich zwar das Gefühl, unzureichend vorbereitet und insgesamt nicht gut in Form zu sein; aber dann klappte doch alles recht gut. Nach dem üblichen Lied zur Eröffnung ging's sowieso erst mal um das Friedenslicht aus Betlehem, das der Gemeindereferent mitgebracht hatte und über das er recht ausführlich sprach. Um das Evangelium vom Tag – Matthäus 1,18-24, die Botschaft des Engels an Josef – sollte es aber auch noch gehen; und um die Kinder an die Gestalt des Zimmermanns Josef näher zu bringen, hatte der Gemeindereferent ein kleines "Beruferaten" ausgeheckt, das ich "moderieren" durfte; das Spontane und Interaktive liegt mir einfach mehr. Der Hintergrund dieser Idee war, dass sowohl der Gemeindereferent selbst als auch mehrere Priester der Pfarrei ursprünglich mal einen ganz anderen Beruf erlernt haben. Daraus konnten die Kinder zunächst einmal die Lehre ziehen, dass es, wenn man einen Beruf erlernt, durchaus nicht gesagt ist, dass man dann tatsächlich bis zur Rente in diesem Beruf arbeitet; darüber hinaus wies ich sie aber auch darauf hin, dass es in den genannten Fällen eben auch damit zu tun hat, dass Gott Menschen in Seinen Dienst beruft, die eigentlich ganz andere Pläne für ihr Leben hatten – und dass das in der Geschichte des Christentums "schon immer" so war, angefangen bei den ersten Jüngern Jesu, die Fischer waren, bevor Jesus sie von ihren Netzen wegholte. – Machen wir uns mal die mentale Notiz, darauf vertiefend zurückzukommen, wenn beim KiWoGo mal ein Evangelium mit einer Berufungsgeschichte drankommt. 

Wie stellte man nun aber die Verbindung zum Evangelium von Josef und dem Engel her? Erst einmal mit der Frage an die Kinder, ob Jesus selbst wohl auch einen ganz normalen Beruf gelernt hat. Die Mehrheit tendierte zu "Nein". Aber doch, erklärte ich den Kindern: Jesus war gelernter Zimmermann, und das, womit Er berühmt geworden ist – durchs Land ziehen, vom Reich Gottes erzählen, Kranke heilen und so weiter – hat Er nur so ungefähr drei Jahre lang gemacht, davor hat Er ein ziemlich unauffälliges Leben geführt und als Zimmermann gearbeitet. Und wo hatte Er diesen Beruf gelernt? Das wussten die Kinder dann doch: bei seinem Vater, oder genauer gesagt: Ziehvater. Dem Josef. "Und von dem hören wir jetzt im Evangelium." Daraufhin wurde das Evangelium vorgetragen, und der Gemeindereferent schloss daran eine kurze Auslegung an, die sich vorrangig darum drehte, was für eine wichtige Rolle einem solchen "ganz einfachen Mann" in der Heilsgeschichte zukam. Und dann war die Zeit im Wesentlichen auch schon rum. 

Nach der Messe gingen wir essen bei Smash City (ehemals "Hühnerwald") und machten uns danach auf den Weg zum (evangelischen) Berliner Dom, wo wir mit meinen Schwiegermüttern zu einem Familienkonzert verabredet waren: Bachs Weihnachtsoratorium für Kinder. Ich war zwar ziemlich geschlaucht vom Trubel der vorangegangenen Tage, fand die Kinder anstrengend und hätte durchaus nichts dagegen gehabt, den Nachmittag allein zu Hause zu verbringen, aber auf das Konzert freute ich mich doch irgendwie – und zu Recht, wie sich zeigte. Die "Moderation", wenn man das denn so nennen kann und möchte, war zwar für meinen Geschmack ein wenig allzu "niederschwellig" – mir schien, der christliche Gehalt des Weihnachtsoratoriums werde dabei tendenziell eher heruntergespielt, verniedlicht und/oder belächelt, und ich fragte mich wirklich, ob so etwas bei einem Konzert in einem Gotteshaus, wenn's auch "nur" ein evangelisches ist, wirklich sein muss –, aber Bachs Komposition ist nun mal unverwüstlich, Orchester, Chor und Solisten lieferten eine sehr ordentliche Darbietung ab, und die Auswahl und Zusammenstellung der Passagen für diese auf etwa 45 Minuten gekürzte Fassung fand ich ebenfalls durchaus überzeugend. Vor allem aber stellte ich fest, dass die Musik meine Stimmung ganz beträchtlich hob. Unterm Strich also ein ausgesprochen erfreulicher Konzertbesuch; und wenn ich demnächst mal wieder schlechte Laune bekomme – oder jemand anderes in der Familie –, dann sing' und sage ich einfach "Lasset das Zagen, verbannet die Klage" – das wird dann ja wohl hoffentlich helfen. 

An dieser Leuchtreklame kam ich auf dem Weg vom Dom zur S-Bahn vorbei. 

Am Montag und Dienstag hatte ich im Interesse der Festvorbereitungen allerlei im Haushalt zu tun und verließ daher kaum die Wohnung – eher ungewöhnlich für mich, wenn ich nicht gerade krank bin. Übrigens erreichten uns dieses Jahr zahlreiche Weihnachtsgrüße mit der guten alten Briefpost: von meiner Mutter, von meinem Bruder und meiner Schwägerin, von einer langjährigen Künstlerfreundin und von Bloggerkollegin Claudia (die sich bemerkenswerterweise beide für das gleiche Bildpostkarten-Motiv entschieden hatten), aber auch vom Redaktionsteam der Tagespost, der Micha-Initiative, der "Rejoice"-Jüngerschaftsschule der Gemeinschaft Emmanuel und der Ostwind-Initiative von Pater Paulus Maria Tautz CFR. Was das über unsere Position innerhalb des KiNC-Netzwerks (siehe weiter unten) aussagt, sei indes mal dahingestellt. 

Nun freut euch, ihr Christen

Am Heiligabend stand ich um 8 Uhr auf, in der Hoffnung, noch ein bisschen Zeit für mich allein zu haben, ehe der Feiertagstrubel losging; aber ich war kaum mit Duschen fertig, da wurden auch die Kinder munter – und waren vor lauter Weihnachts-Vorfreude völlig außer Rand und Band. Im Laufe des Vormittags fing allerdings der Jüngste, der schon seit ein paar Tagen Anzeichen einer Erkältung gezeigt hatte, deutlich an zu schwächeln und zog sich schließlich ins Bett zurück; als dann der Zeitpunkt näher rückte, an dem wir uns auf den Weg zum Krippenspiel hätten machen sollen (Mitwirkende sollten eine Stunde vor Beginn der Aufführung vor Ort sein), entschied meine Liebste daher, es wäre wohl besser, sie bliebe mit ihm zu Hause. Also fuhren die Große und ich allein nach St. Stephanus. – Dass die Hirten durch den krankheitsbedingten Ausfall unseres Knaben statt zweier Schafe nur eines hatten (den kleinen Bruder der Maria-Darstellerin), ließ sich relativ leicht verschmerzen; die Rolle der "Frau von Herbergswirt 3", die meine Liebste hätte spielen sollen, übernahm spontan die Mutter der "Engel 2"-Darstellerin (einer Schulfreundin unseres Tochterkindes). Das klappte auch gut – wobei ich fand, dass sie der Rolle, obwohl sie nur ein paar kurze Sätze zu sagen hatte, einen deutlich anderen Charakter gab, als es bei meiner Liebsten der Fall gewesen wäre.

Noch zehn Minuten vor Beginn der Aufführung dachte ich, das diesjährige Krippenspiel würde ziemlich schwach besucht sein; dabei müsste ich als alter Theaterhase eigentlich daran gewöhnt sein, dass ein beträchtlicher Teil des Publikums immer erst auf den letzten Drücker kommt: Als es dann losging, war die Kirche doch ziemlich gut gefüllt. Was allerdings auffiel: In den letzten Jahren hatte ich den Eindruck gewonnen, bei der Planung für das alljährliche Krippenspiel in St. Stephanus Haselhorst werde davon ausgegangen, dass einerseits die benachbarte KiTa und andererseits das ebenfalls benachbarte Seniorenheim einen Großteil des Publikums stellen werde. Diesmal schien es mir jedoch, dass gar nicht besonders viele Senioren im Publikum waren, abgesehen von den Großeltern einiger Mitwirkender; stattdessen waren viele Familien mit Kindern im Vor- und Grundschulalter da, vereinzelt auch junge Erwachsene ohne Kinder. (Übrigens erzählte mir der Gemeindereferent am Rande der letzten Probe, er habe ein Plakat für das Krippenspiel im Edeka-Markt aufgehängt.) Jedenfalls sagte ich mir, angesichts des unerwartet jungen Publikums könnte man im nächsten Jahr vielleicht mal drüber nachdenken, das Krippenspiel ein bisschen moderner zu gestalten – gar nicht unbedingt vom Sprechtext her, der kann von mir aus ruhig so bleiben, aber vielleicht könnte man die eine oder andere Musiknummer z.B. aus dem Musical, das letztes Jahr in der Gemeinde auf dem Weg aufgeführt wurde, oder von Mike Müllerbauers Weihnachtsalbum einbauen. Was solchen Überlegungen allerdings entgegen stehen könnte, ist der Umstand, dass der Organist der Pfarrei für nächstes Jahr seine Mitwirkung am Krippenspiel in Aussicht gestellt hat... (Andererseits: Vielleicht spricht das auch gerade nicht dagegen, sondern eher dafür. Man müsste sich einfach mal rechtzeitig konspirativ mit dem guten Mann zusammensetzen.)

Aber bleiben wir erst mal beim diesjährigen Krippenspiel: Das lief über alle Erwartungen gut. Wie letztes Jahr, könnte man sagen. Meine Tochter bewältigte ihre Doppelrolle als kaiserlicher Bote und "Engel 4" tadellos, und auch die anderen Kinder legten gegenüber dem, was sie bei den Proben gezeigt hatten, noch mal eine ordentliche Schippe zu. An einigen Stellen der Aufführung hatte ich sogar Tränchen in den Augen. – Und damit hatte Weihnachten für mich richtig begonnen! 


Wieder zu Hause, gab es erst einmal Bescherung – was natürlich vor allem für die Kinder ein Highlight des Weihnachtsfests war; ich war schon froh, dass die Bescherung friedlicher und unaufgeregter ablief als in den letzten Jahren, und half geduldig beim Zusammenbauen eines Playmobil-Reiterhofes mit, bis es Zeit wurde, das Essen auf den Tisch zu bringen. Beim Abendessen erlebte ich eine erfreuliche Überraschung: Ich hatte schon befürchtet, wenn der Jüngste erkältungsbedingt zu Hause bleiben müsste und meine Liebste dann natürlich bei ihm bliebe, würde ich Schwierigkeiten haben, das Tochterkind zu überreden, allein mit mir in die Christmette zu gehen. Tatsächlich war es nun aber der Knabe, der darauf bestand, dass wir alle zusammen zur Kirche gingen, und die Frage, ob er sich denn fit genug dafür fühle, bejahte er entschieden. Also machten wir uns auf den Weg nach St. Joseph Siemensstadt, und da war's sehr schön: 


Der Organist sang das Martyrologium der Heiligen Nacht, der Pfarrvikar trug das Jesuskind für die Krippe herein, es gab vier Messdiener und Weihrauch, die ganze Atmosphäre war sehr feierlich. In der Predigt betonte der Pfarrvikar: 

"Wir feiern heute Geburtstag – nicht nur den Geburtstag Jesu, sondern vor allem den Geburtstag des göttlichen Lebens in uns. Das Christentum ist keine Idee, auch keine Leistung, keine Moral, kein Anspruch, kein Auftrag, kein Engagement sondern das Christentum ist Christus in uns. Gott wird in unseren Herzen geboren." 

Nach dem Schlusssegen versammelte sich die Gemeinde noch, wie schon in den letzten Jahren, vor dem Kirchenportal, um zwei Lieder zu singen ("O du fröhliche" und "Nun freut euch, ihr Christen") – damit die Nachbarn auch etwas von unserer Weihnachtsfreude haben. 


Freikirchliches Raclette statt kommunistischer Weihnachtsgans 

Einige Leser werden sich vielleicht noch erinnern, dass ich letztes Jahr am Weihnachtstag mit Frau und Kindern bei einem alten Freund zum Gänseessen eingeladen gewesen, den ich in den Nuller Jahren in einer linken Kneipe beim Dominospielen kennengelernt habe, und dass mich der Verlauf jenes Abends veranlasste, die Frage "Wie feiern Marxisten Weihnachten?" mit "Gar nicht so viel anders als andere Leute"  zu beantworten. Im Prinzip wäre ich da dieses Jahr durchaus gern wieder hingegangen, aber unser Festprogramm war sozusagen "schon voll", als uns die Einladung erreichte. Dafür gab es heuer eine andere Attraktion, nämlich die Weihnachtsfeier der EFG The Rock Christuskirche – mit Raclette-Essen. Hatte ich seit bestimmt über 20 Jahren nicht gemacht und bin eigentlich auch kein so großer Fan von Party-Formaten, bei denen der Zubereitungsprozess des Essens der Haupt-Programmpunkt ist, aber mit den Leuten aus dieser Gemeinde Weihnachten zu feiern, hatte ich trotzdem Lust. Zu diesem Weihnachtsessen kamen um die 40 Leute, darunter ziemlich viele, die wir vom JAM kannten – als Mitarbeiter oder vom Elterncafé –; einige Kinder, die ungefähr im Alter unserer Kinder waren (und die wir logischerweise ebenfalls und erst recht vom JAM kannten), waren auch dabei. Erst einmal gab es Kaffee und Lebkuchen,  eine kurze, nette Begrüßungsansprache und ein Dankgebet für das Essen und die Tischgemeinschaft, dann wurden zu Gitarrenbegleitung ein paar Lobpreislieder gesungen. 

Das Herz-Jesu-Symbol mag stutzig machen, aber bei dem zum Einsatz kommenden Liederbuch – "Wiedenester Jugendlieder 17" – handelte es sich um eine freikirchliche Publikation. Ein paar Lieder von Albert Frey habe ich darin entdeckt, aber z.B. keine von Johannes Hartl.

Während dieses "Lobpreis-Blocks" (wie so etwas in einschlägigen Kreisen genannt wird) ging mir übrigens der Gedanke durch den Kopf, was wohl (beispielsweise) ein Reporter des Bayerischen Rundfunks denken würde, wenn er in er in eine kirchliche Weihnachtsfeier geriete, in der die Leute nicht "O du fröhliche" oder "Ihr Kinderlein kommet" singen, sondern "Unser Gott ist ein mächtiger Gott". Aber das mal (vorerst) nur am Rande Nach dem Singen wurden jedenfalls die Raclettegeräte angeheizt, wir unterhielten uns gut mit verschiedenen Gemeindemitgliedern, und das Essen war auch lecker und reichlich. Insgesamt kann ich nur sagen, es war eine wirklich schöne Art, den Nachmittag und frühen Abend des Weihnachtstages zu verbringen, und es berührt mich immer wieder, wie willkommen wir in dieser Gemeinde sind. 


Sind wir nicht alle ein bisschen KiNC?: Hilfe, die hippen Missionare kommen 

Dass das liberale (Post-)Christentum dahinsiecht und im Grunde nur noch durch einen kirchensteuerfinanzierten Apparat am Leben gehalten wird – dessen Zukunftsaussichten angesichts des galoppierenden Mitgliederverlusts der Großkirchen indes mehr als fraglich sind –, während andererseits "radikalere" Ausprägungen des Christentums, etwa in Form charismatischer, aber auch traditionalistischer Gemeinschaften, offenkundig Zulauf gerade auch von Seiten junger Erwachsener erleben, ist ein Phänomen, dem neuerdings verstärkt Aufmerksamkeit zuteil wird, nicht zuletzt wohl auch, weil es gängige Säkularisierungshypothesen in Frage stellt. Dass dieses Thema gerade um Weihnachten herum die Gemüter erregt, ist vielleicht auch nicht allzu verwunderlich, da das nun mal eine Zeit ist, in der die Reste des Kulturchristentums in unserer Gesellschaft besonders präsent sind – und in gewisser Weise die Frage aufwerfen, was man nun mit diesen Resten machen soll: Sollte man sie aus sentimentalen Gründen bewahren, sie konsequent aus dem öffentlichen Raum verbannen, sie "zeitgemäß" uminterpretieren oder sich womöglich darum bemühen, wiederzuentdecken, was eigentlich dahintersteckt? Ich denke, in diesen Zusammenhang muss man die Tatsache einordnen, dass alle Jahre wieder zur Weihnachtszeit so allerlei christentumskritische bzw. –feindliche Wortmeldungen in den Medien kursieren, darunter immer wieder gern Artikel, die aus historisch-kritischer Perspektive darzulegen versuchen, was an den Weihnachtsevangelien so alles angeblich nicht stimmt. Und in denselben Zusammenhang gehört es meiner Einschätzung nach auch, dass die vom Bayerischen Rundfunk produzierte Dokumentation (wenn man sie denn so nennen kann) "Die hippen Missionare – Mit Jesus gegen die Freiheit?" gerade kurz vor Weihnachten in der Sendereihe "ARD Story" ausgestrahlt wurde. 

Okay: Dass es nicht mehr lange hin ist bis zur MEHR 2026, wird auch eine Rolle gespielt haben, denn das Gebetshaus Augsburg und die von ihm ausgerichtete MEHR-Konferenz spielen eine Hauptrolle in der Doku – eine Schurkenrolle, versteht sich. Daneben geht es um die Loretto-Gemeinschaft sowie, in vergleichsweise geringerem Umfang, u.a. um FOCUS, die Adoratio in Altötting und die Legionäre Christi; auch die Hallow-App wird erwähnt. Eine bunte Mischung also mal wieder. Mehrfach taucht auch der Passauer Bischof Stefan Oster in der Doku auf, nämlich als Paradebeispiel dafür, dass, wie es in der Sendungsbeschreibung in der Mediathek heißt, "diese neuen eher fundamentalistisch ausgerichteten christlichen Bewegungen [...] sogar von der Amtskirche unterstützt werden" – wozu ich sagen muss, dass ich über das Wörtchen "sogar" ein bisschen grinsen musste: Es sagt wohl viel über den Zustand der hiesigen Amtskirche aus, wenn hier die Auffassung anklingt, man würde es ihr eigentlich nicht zutrauen, dass sie Bewegungen unterstützt, denen es mit ihrem christlichen Glauben ernst ist

Nachdem ich mir die Sendung selbst angesehen habe – in der Mediathek –, finde ich, dass es dazu im Detail noch etwas mehr anzumerken gäbe, als in ein Wochenbriefing hineinpasst; da könnte also demnächst noch ein eigenständiger Blogartikel nachkommen. Als Gesamteindruck möchte ich jedoch festhalten: Sieht man von einigen tatsächlich gravierenden Vorwürfen ab, die gegen die in der Sendung porträtierten Gruppen erhoben werden, zu denen sowohl das Gebetshaus Augsburg als auch die Loretto-Gemeinschaft jedoch bereits Stellung genommen haben, wundert es mich im Großen und Ganzen überhaupt nicht, dass manch ein Zuschauer die Sendung eher als Werbung für eben jene Gruppen empfindet, vor denen sie eigentlich warnen will. Das sieht auch Bischof Oster so: "Womöglich suchen diese Menschen tatsächlich gegen das, was ihnen die Gesellschaft oder auch dieser Film als Freiheit verkaufen wollen, doch noch was Tieferes?", merkt er in seiner Stellungnahme zur Doku an. "Sie finden es auf der MEHR jedenfalls deutlich wahrscheinlicher, als wenn sie noch mehr Fernsehen dieser Art gucken würden." 

Zu den Auswirkungen der Doku, die ich persönlich besonders interessant finde, gehört es, dass das neue Team von Horse & Hound bei diesem Thema prompt seine harmonieselige Maske fallen lässt und ordentlich auf die Kacke haut. Netiquette am Arsch, wenn ich das mal so sagen darf! Das Gebetshaus Augsburg ist eben einfach der Feind, ohne dass das einer sachlichen Begründung bedürfte. Die wohl verständliche Freude der MEHR-Veranstalter darüber, dass die Tickets für die Konferenz nach der Ausstrahlung der ARD-Doku weggehen wie warme Semmeln, wird in einem Instagram-Beitrag von Horse & Hound zu Statements wie "Zusammenarbeit zwischen ARD und Gott* knüpft an die Erkenntnisse Calvins an: Segen ist dort, wo der Rubel rollt" oder "Gott* erhört Gebete der Gebetshausmissionare und lässt Ticketverkäufe in die Höhe schnellen" verzerrt, und es wird geblödelt, nun werde Johannes Hartl wohl die Hallow-App löschen müssen, "um Platz auf seinem schnieken Smartphone für die ARD-App zu schaffen". – Aber immerhin: So gequält unwitzig und obendrein KI-gestützt dieser Beitrag auch daherkommt, zeigt er doch, dass ich den bisherigen Oberhalunken Thomas Halagan doch nicht so sehr vermissen werde, wie ich zunächst dachte – vor allem deshalb, weil er entgegen der ursprünglichen Ankündigung doch immer noch im Team ist. Aber dazu vielleicht bei anderer Gelegenheit mehr. 

Während aber das Humorniveau der hier angesprochenen Instagram-Beiträge wohl einigermaßen deutlich macht, dass die Halunk*innen die Stilisierung Johannes Hartls und des Gebetshauses Augsburg zu gefährlichen fundamentalistischen Sektierern selbst nicht so ganz ernst nehmen, kann man z.B. auf Bluesky beobachten, was dieses Narrativ bei Leuten anrichtet, denen es schlichtweg an Bezugsgrößen mangelt, um die angesprochenen Phänomene einzuordnen. Das ist ein bisschen so wie mit dem Scheinriesen Tur Tur in Michael Endes "Jim Knopf": Die Dinge werden scheinbar größer und furchterregender, je weiter der Betrachter von ihnen entfernt ist. Exemplarisch wurde dies anhand eines Threads deutlich, den der Bluesky-Account von "Fundi-Watch" teilte, der ursprünglich aber von einem laut Eigenbeschreibung queerfeministischen Account verfasst worden war. Angekündigt werden da Informationen über "eine Reihe von christlichen/evangelikalen Veranstaltungen/Konferenzen/Konzerten", die für das Jahr 2026 geplant sind und "hinter denen zum großen Teil missionarische Absichten stehen"; in "Teil 1", der seinerseits bereits aus 35 Einzelpostings besteht, geht's aber erst mal nur um die MEHR-Konferenz, die vom 3.-6. Januar in Augsburg stattfinden soll. Die zitierte Einleitung lässt ja bereits erkennen, dass "missionarische Absichten" wohl etwas ganz arg Schlimmes sein müssen; im Weiteren Verlauf erweist sich der ganze Thread als ein Paradebeispiel dafür, wie Maria Hinsenkamps Forschungen zu dem von ihr so benannten Phänomen "KiNC" ("Kingdom-minded Network Christianity") von Leuten, um deren Fähigkeit zu sinnerfassendem Lesen es offenbar nicht zum Besten steht, zur Verschwörungstheorie verflacht werden. KiNC, so teilt die Thread-Erstellerin mit, sei ein Netzwerk, das das Ziel verfolge, "einen christlichen Gottesstaat zu errichten"; und da etwa ein Johannes Hartl "nachweislich zur KiNC-Landschaft gehört", kann man jedem, der mit ihm bzw. dem Gebetshaus Augsburg zusammenarbeitet, attestieren: "D.h. auch er möchte einen christlichen Gottesstaat errichten." Man könnte darüber lachen, wenn... ach was, lassen wir den Konjunktiv und lachen einfach drüber. "Fundi-Watch" indes dankt der Verfasserin für ihre "unermüdliche Arbeit"; nun ja, "unermüdlich" ist wohl eine zutreffende Bezeichnung. 

Wenn man es recht bedenkt, hat es durchaus eine gewisse Logik, dass gerade Leute, die die ganze "fromme Szene" nur von Weitem kennen, sich unter dem Phänomen "KiNC" etwas unheimlich Krasses und Gefährliches vorstellen; denn wenn man ihnen sagte, dass es sich im Grunde nur um Leute handelt, die die Lehren des Christentums etwas ernster nehmen als andere nominelle Christen oder die ihrem Glauben einen größeren Stellenwert in ihrem Alltagsleben, über den sonntäglichen Gottesdienstbesuch hinaus, einräumen, dann würden sie nicht verstehen, wieso das überhaupt der Rede wert sein sollte. Gleichzeitig stehen sie den Inhalten der christlichen Glaubens- und Sittenlehre so fern, dass ihnen schon moderat christliche Positionen als extrem erscheinen. Ich schätze, das wird man an anderer Stelle vertiefen müssen. 


Geistlicher Impuls der Woche 

Karl Barth hat darauf aufmerksam gemacht, dass es in der Geschichte Jesu zwei Punkte gibt, an denen Gottes Wirken unmittelbar in die materielle Welt eingreift: die Geburt aus der Jungfrau und die Auferstehung aus dem Grab, in dem Jesus nicht geblieben und nicht verwest ist. Diese beiden Punkte sind ein Skandal für den modernen Geist. Gott darf in Ideen und Gedanken wirken, im Geistigen – aber nicht an der Materie. Das stört. Da gehört er nicht hin. Aber gerade darum geht es: dass Gott Gott ist und sich nicht nur in Ideen bewegt. Insofern geht es bei beiden Punkten um das Gottsein Gottes selbst. Es geht um die Frage: Gehört ihm auch die Materie? 

Insofern sind diese beiden Punkte – Jungfrauengeburt und wirkliche Auferstehung aus dem Grab – Prüfsteine des Glaubens. Wenn Gott nicht auch Macht über die Materie hat, dann ist er eben nicht Gott. Aber er hat diese Macht, und er hat mit Empfängnis und Auferstehung Jesu Christi eine neue Schöpfung eröffnet. So ist er als Schöpfer auch unser Erlöser. Deswegen ist die Empfängnis und Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria ein grundlegendes Element unseres Glaubens und ein Leuchtzeichen der Hoffnung. 

(Joseph Ratzinger – Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth, Prolog) 


Ohrwurm der Woche 

José Feliciano: Feliz Navidad 


Oft gehört auf Weihnachtsmärkten, allerdings nicht selten in Form von Coverversionen eher fragwürdiger Qualität; daher hier zum Genießen das Original von José Feliciano. Top-Kommentar auf YouTube (mit über 18.000 Likes): "Unlike most other modern Christmas songs, I have no doubt this man actually wants to wish me a merry Christmas." Schöner kann man's eigentlich kaum sagen. 


Vorschau/Ausblick 

Weihnachten ist noch nicht vorbei, Freunde – also auf in den Supermarkt, preisreduzierte Lebkuchen kaufen! – Am morgigen Sonntag ist das Fest der Heiligen Familie, außerdem wird in der Tegeler Pfarrkirche Herz Jesu der aus Nigeria stammende Pfarrvikar der Pfarrei St. Klara Reinickendorf-Süd in den Ruhestand verabschiedet, nachdem er acht Jahre lang hier tätig war. Damit verliert diese Pfarrei den einzigen ihrer Geistlichen, der mir nie Anlass gegeben hat, an seiner Rechtgläubigkeit zu zweifeln. Man darf gespannt sein, wann und durch wen die Stelle neu besetzt wird – vielleicht kommt ja mal ein junger Kaplan... Aber wie dem auch sei, zu der Abschiedsmesse möchte ich schon gern gehen. – Davon abgesehen sind in der gesamten kommenden Woche noch Ferien, besondere Pläne haben wir da aber noch nicht, auch nicht für den Silvesterabend. Ich bin aber dennoch optimistisch, dass es auch in "Utopie und Alltag" Nr. 6 wieder genug Interessantes zu berichten geben wird... 


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