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Freitag, 31. Mai 2024

Vorlesestoff fürs Tochterkind – Mai 2024

Es ist mal wieder Zeit für ein paar Kinder- und Jugendbuchrezensionen, liebwerte Freunde! – Man könnte sagen, es war eine bemerkenswerte Fügung, dass ich die vorige Folge dieser Artikelserie zu einem Zeitpunkt 'rausgehauen habe, als ich den vierten "Ruby Fairygale"-Band erst zur Hälfte durchgelesen hatte; denn die zweite Hälfte hält so einige überraschende Wendungen bereit – fast könnte man sagen, die eigentliche Handlung gehe erst um die Mitte des Buches herum so richtig los. Folglich werde ich zu diesem Buch noch so allerlei nachzutragen haben, ehe ich zu denen komme, die wir danach gelesen haben. – Nachdem wir "Ruby Fairygale – Das Tor zur Feenwelt" zu Ende gelesen hatten, ließ ich die Kinder wählen, welches Buch wir als nächstes lesen sollten, und war nicht im geringsten überrascht, dass sie sich einstimmig für den ersten Band der "Drei Magier"-Reihe, "Das magische Labyrinth", entschieden. Mich hätte das Buch "Milchmädchen" von G.R. Gremin ehrlich gesagt mehr interessiert, aber das kam dann eben danach dran. Und als wir das ebenfalls durch hatten, stellte ich aus unseren heimischen Buchbeständen eine Auswahl von Kinderbuchklassikern zusammen und ließ die Kinder daraus wählen; der Jüngste entschied sich für "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer", allein aus dem Grund, dass da eine Lokomotive auf dem Titelbild abgebildet war, und auch das Tochterkind war mit dieser Wahl einverstanden. Und damit war das Lesepensum für den Monat Mai dann auch schon voll... 


  • Kira Gembri: Ruby Fairygale – Das Tor zur Feenwelt (Fortsetzung)

Zu den Dingen, die ich auf meiner Expedition durch die Kinder- und Jugendliteratur nun wirklich nicht erwartet hätte, gehört es, dass die "Ruby Fairygale"-Reihe um die Mitte des vierten Bandes herum politisch wird. Okay, man muss zugeben, die Autorin macht das einigermaßen dezent und unaufdringlich. So mag es zunächst einmal im Auge des Betrachters liegen, ob man es naheliegend oder eher abwegig findet, in dem Auftauchen von immer mehr Fabelwesen auf Patch Island, die den Alltag der menschlichen Inselbewohner durcheinander bringen und damit zunehmend für Unmut sorgen, einen Kommentar zur Migrationskrise zu sehen. Dass es tatsächlich einer ist, wird aber spätestens dann deutlich, als Ruby und Noah dahinter kommen, dass die fabelwesenfeindliche Stimmung in der Bevölkerung durch Fake-News aus dem Internet angeheizt wird. Verbloggung, so zeigt sich immer wieder, führt eben auch zu Verblödung, manchmal.

Nimmt man die Analogie zwischen der Fabelwesenkrise auf Patch Island und der Migrationskrise in der Europäischen Union ernst, kann man übrigens zu dem Schluss kommen, dass die Autorin einen ziemlich moderaten Standpunkt einnimmt. Dass die sonst so gutherzige Gastwirtin Brenda eine große "Fabelwesen unerwünscht"-Kampagne startet, wird als Überreaktion gekennzeichnet – die zu allem Überfluss (das meine ich wörtlich: Ich finde diese Wendung tatsächlich überflüssig) mit der Wirkung einer unabsichtlich angewendeten magischen Tinktur erklärt wird –, aber es ist nichtsdestoweniger eine Reaktion auf ein reales Problem: Dass auf Patch Island immer mehr Fabelwesen auftauchen, stellt tatsächlich eine Belastung für das soziale Gefüge auf der beschaulichen Insel dar, nicht zuletzt auch infolge von Streitigkeiten unter den Fabelwesen selbst, z.B. zwischen zwei verfeindeten Clans von Kobolden. Ja, wirklich. Die Pointe ist, dass an dieser Situation gerade die fabelwesenfeindliche Propaganda aus dem Internet schuld ist: Diese hat nämlich dazu geführt, dass an anderen Orten Übergänge zwischen Feen- und Menschenwelt versperrt wurden, weshalb immer mehr Fabelwesen das Portal auf Patch Island nutzen. Folgerichtig besteht ein wesentlicher Teil der Lösung darin, die anderen Portale wieder zu öffnen.

Ein anderes Thema, dem in der ersten Hälfte des Buches dezidiert ausgewichen wird, um es dann aber in der zweiten Hälfte anzugehen, ist Rubys Verhältnis zu ihrem Vater. Dieser hat, wie man im dritten Band der Buchreihe erfahren hat, seine nicht gänzlich kontrollierbaren Gestaltwandler-Fähigkeiten, die er an seine Tochter vererbt hat, zeitlebens als Makel empfunden und jahrelang nach einem Mittel geforscht, das ihn und Ruby von dieser Fähigkeit "heilen" sollte. Nachdem er sich auf dem Spannungshöhepunkt von Bd. 3 ungewollt in einen Hund verwandelt und seitdem die Fähigkeit, sich wieder zurückzuverwandeln, noch nicht wiedererlangt hat, fragt Ruby sich, ob seine Einstellung sich geändert hat, scheut sich aber, es herauszufinden. Sie fragt sich nämlich, wie es ihr möglich sein soll, ein gesundes Verhältnis zu einem Vater aufzubauen, der "einen Teil von [ihr] abscheulich" findet; "beim Gedanken daran" wird ihre "Brust ganz eng" (S. 224). Klingt das nicht auffallend nach den Gefühlen eines queeren Teenagers gegenüber einem homo- oder transphoben Elternteil? – Wenn man es recht bedenkt, läge es in der Tat nahe, Rubys Gestaltwandler-Fähigkeiten, mitsamt allen damit einhergehenden Akzeptanzschwierigkeiten, als Metapher für "Queerness" zu interpretieren. Dass mir dieser Gedanke nicht schon früher gekommen ist, zeigt allerdings auch, wie wenig die "Ruby Fairygale"-Autorin Kira Gembri diesen Aspekt betont. Angesichts der Vielzahl von Gestaltwandler-Geschichten im Kinder- und Jugendbuchbereich der Stadtteilbibliothek sollte es mich fast wundern, wenn es da nicht die eine oder andere Buchreihe gäbe, die in dieser Hinsicht erheblich deutlicher wird.

Zusammenfassend gesagt hält sich der "Wokeness-Faktor" bei "Ruby Fairygale" also noch einigermaßen in Grenzen. Dass das Happy End im vorletzten Kapitel groß gefeiert wird, finde ich ein bisschen dick aufgetragen; aber allein die Tatsache, dass das eben im vorletzten Kapitel passiert, ist dann doch wiederum ein brillanter Schachzug der Autorin, denn daraus folgt ja, dass nach dem Happy End noch etwas anderes passiert. Und da gibt's nun wieder

+++++Spoiler-Alarm!!!+++++

Die Freude am allgemeinen Happy End wird getrübt durch die Nachricht, dass Noah bei einer Online-Prüfung an seiner Fernschule durchgefallen ist; die Folge ist, dass sein Vater ihn nun doch ins Internat stecken will – und ihn persönlich mit einer Privat-Yacht von der Insel abholt. Beim Abschied am Hafen sind Ruby und Noah gehemmt und verdruckst, aber nachdem die Yacht abgesegelt ist, verwandelt Ruby sich in eine Sturmschwalbe, fliegt dem Schiff hinterher und richtet an ihren Freund die bemerkenswerten Worte:

"Noah, ich bin ein Mädchen mit magischen Fähigkeiten [...]. Mit einem Zauberbuch, einer Tierwandlerfamilie und einer Fee als bester Freundin! Wenn du glaubst, dass wir dich nicht aus diesem Internat herausholen werden, bist du vollkommen durchgeknallt!" (S. 329f.).

Und dann – hier der Spoiler-im-Spoiler, Leser – küssen sie sich!!! Ich war aufgekratzt wie ein Teenager, als ich das las; meine Tochter war mit ihren sechs Jahren erheblich weniger beeindruckt, wie mir schien; aber das hat ja auch was Beruhigendes.

+++++Spoiler-Alarm Ende!+++++

Man kann sagen was man will: Die Technik, am Ende eines Bandes einen neuen Spannungsbogen aufzumachen, der den Leser veranlasst, unbedingt auch den nächsten Band lesen zu wollen, beherrscht die Autorin souverän. Am Ende des dritten Bandes war das nicht so deutlich der Fall, aber jetzt ist der Drang, wissen zu wollen, wie's weitergeht, wieder voll da. Was in meinem Fall natürlich auch damit zu tun haben mag, dass mich die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Ruby und Noah von Anfang an sehr viel mehr interessiert hat als sämtliche Feen, Kobolde und Meerjungfrauen, die in der Handlung herumwuseln. – Wie ich inzwischen in Erfahrung gebracht habe, umfasst die "Ruby Fairygale"-Reihe bislang insgesamt sechs Bände, der siebte kommt im Herbst raus. Da haben wir also noch was vor uns. 


  • Matthias von Bornstädt: Die drei Magier – Das magische Labyrinth. München: arsEdition, 2017.

Aus der "Drei Magier"-Reihe hatten wir, wie regelmäßige Leser meiner Kinderbuchrezensionen sich erinnern dürften, zuerst den zweiten und dann den dritten Band gelesen; bei einem unserer jüngsten gemeinsamen Büchereibesuche standen die Kinder und ich nun vor der Wahl, den ersten oder den vierten Band auszuleihen, und ich muss ehrlich gestehen, ich kann mich nicht daran erinnern, wessen Entscheidung es letztlich war, dem ersten Band den Vorzug zu geben. Tatsächlich dachte ich, als wir nach Hause kamen, wir hätten uns für den vierten Band entschieden, und war entsprechend überrascht, stattdessen den ersten aus dem Beutel zu ziehen. Vielleicht habe ich mich also bloß vergriffen; aber natürlich ist es interessant, den Anfang der Reihe kennenzulernen, mitzuerleben, wie die Hauptcharaktere eingeführt werden, und zu erfahren, wie es überhaupt dazu kommt, dass drei Schulkinder aus dem wortwörtlich als "verschnarcht" beschriebenen Kleinstädtchen Mühlfeld zu mächtigen Zauberern in der magischen Welt von Algravia werden.

Ebenso wie in den anderen "Drei Magier"-Büchern, die ich meinen Kindern bisher vorgelesen habe, spielt das erste Kapitel in Algravia und bildet eine Art Prolog, der darauf ausgerichtet ist, Spannung zu erzeugen, dem Leser aber erst einmal nichts erklärt; die eigentliche Exposition folgt dann im zweiten Kapitel, das in Mühlfeld spielt – in diesem Fall in der Schule, beim Matheunterricht. Bei dieser Gelegenheit erfährt der geneigte Leser, dass Vicky – das entschieden frechste und wagemutigste Mitglied des Protagonistentrios – erst kürzlich mit ihrer Mutter aus Berlin nach Mühlfeld gezogen ist, und zwar weil ihre Mutter hier eine Stelle als Schulleiterin angetreten hat; und offenkundig ist sie aus Berlin eine wesentlich laxere Haltung zum Thema Disziplin in der Schule gewohnt, als der Mühlfelder Mathelehrer sie praktiziert: So findet sie offenbar nichts dabei, im Unterricht zu essen (was, nebenbei bemerkt, nicht einmal an der Schule meiner Tochter erlaubt ist). Demgegenüber wird Mila zunächst als blasse und extrem introvertierte Stubenhockerin eingeführt, die von ihrer Mutter dazu verdonnert wird, mit ihrem Bruder und dessen Schulfreundin an den Badesee zu gehen, damit sie überhaupt mal rauskommt. Konsequenterweise können Mila und Vicky einander zunächst nicht besonders gut leiden. Gleichzeitig macht Mila innerhalb dieses Bandes die auffälligste Entwicklung von allen drei Hauptcharakteren durch: Nachdem zunächst alle drei die ihnen angetragene Aufgabe, die drei Zauberstäbe aus dem magischen Labyrinth zu holen und damit zu den Hütern der Magie Algravias zu werden, ablehnen und schnellstmöglich in ihre eigene Welt zurückkehren wollen, ist ausgerechnet Mila die erste, die den Mut und die Entschlossenheit aufbringt, diese Aufgabe doch zu übernehmen.

Das titelgebende magische Labyrinth betreten die Protagonisten erst im 12. von 14 Kapiteln, und die Passagen, die in diesem Labyrinth spielen und beschreiben, wie sich die Protagonisten darin bewegen und was sie tun müssen, um die drei Zauberstäbe zu erringen, muten an wie eine erzählerisch eingekleidete Spielanleitung für das gleichnamige, von Dirk Baumann für die Firma "Schmidt-Spiele" entwickelte Brettspiel (das 2009 übrigens als "Kinderspiel des Jahres" ausgezeichnet wurde). Wozu man sagen muss: Sollte, wie ich schon einmal geargwöhnt habe, die Buchreihe "Die drei Magier" insgesamt nur zu dem Zweck konzipiert worden sein, die Brett- und Kartenspielreihe mit einer "backstory" auszustatten, dann verdient der Autor Anerkennung dafür, wie phantasievoll und unterhaltsam er diesen Auftrag umgesetzt hat. Gerade was das "worldbuilding" angeht – wie man das in Fantasy-Fankreisen wohl nennt –, ist die "Drei Magier"-Reihe origineller und interessanter geraten als so manche Kinderbuchreihen mit vergleichbarem Konzept. Dadurch gewinnt die Handlung eine Tiefendimension, die, wenn es nur um die Vermarktung von Brettspielen ginge, "eigentlich nicht nötig" wäre; aber gerade die finde ich spannend, und sie ist der wesentliche Grund dafür, dass ich auch den vierten Band noch lesen will – in der Hoffnung, dass man da Näheres zu manchen Hintergründen erfährt, die bisher nur angedeutet wurden, so zum Beispiel über den lila Kater Kasimir und das Zottelwesen Haarmut.

Ein, wie ich finde besonders interessanter Aspekt der Welt von Algravia wird indes schon im ersten Band explizit angesprochen – ich möchte ihn mit dem Schlagwort "Ökologie der Magie" bezeichnen: "Wie ihr sicher schon mitbekommen habt, ist Algravia eine Welt voller Magie", erklärt Kater Kasimir den Kindern. "Die Magie steckt in der Erde, wächst mit den Blättern, schlummert in Steinen, Muscheln und Wurzeln... und es ist wie mit dem Kuchen auf diesem Blech: Es gibt Magie, aber nicht genug!" (S. 69f.) Der letzte Satz mag den Eindruck erwecken, man sollte hier lieber von der "Ökonomie der Magie" sprechen, aber wie im wirklichen Leben ist beides nicht so ganz voneinander zu trennen. In Algravia gibt es Wesen – wie die putzigen Lunies, aber auch Drachen –, die von Natur aus über eine Art magischer Energie verfügen, andererseits aber auch Zauberer und Hexen, die ihre Fähigkeiten dadurch gewinnen, dass sie die natürlichen Magie-Ressourcen anzapfen und für sich nutzen. Das Problem mit dem bösen Zauberer Rabenhorst ist nun, dass er dabei zu gierig ist: dass er alle Magiequellen für sich haben will und sie auf eine Weise ausbeutet, die den Grundsatz der Nachhaltigkeit verletzt. – Ich schätze, ich werde darauf noch zurückkommen, wenn wir den vierten (und allem Anschein nach letzten) Band der Reihe gelesen haben... 


  • G.R. Gremin: Milchmädchen. Aus dem Englischen von Gabriele Haefs. Hamburg: Carlsen, 2016.

Ein Buch, das mir in die Hände fiel, als ich an einem Schultag allein mit unserem Jüngsten in die Bücherei ging, und von dem ich hoffte, es würde sowohl dem Tochterkind als auch mir gefallen. Ehe ich es unternehme, zu schildern, worum es in der Geschichte geht, muss ich anmerken, dass der Klappentext etwas verrät, was erst um die Mitte des Buches passiert – was man einerseits als Spoiler betrachten und daher etwas unglücklich finden könnte, aber andererseits muss ich einräumen, dass es gerade dieser Klappentext war, der mich dazu gebracht hat, das Buch lesen zu wollen: Diesen Zeilen zufolge geht es in dem Buch darum, dass zwei Mädchen den abenteuerlichen Versuch unternehmen, ein Dutzend ausgewachsene Milchkühe in einem Wohngebiet zu verstecken. Das schien mir eine originelle und vielversprechende Handlungsprämisse zu sein.

Aber das passiert, wie gesagt, erst ungefähr nach der Hälfte der Romanhandlung. Am Anfang hat die Ich-Erzählerin, die 13jährige Gemma, noch Angst vor Kühen und will mit der gleichaltrigen Bauerntochter Kate, die an ihrer Schule eine gemiedene Außenseiterin ist und abfällig "Cowgirl" genannt wird, nichts zu tun haben. Insgesamt ist die Atmosphäre der ersten Kapitel signifikant düsterer als etwa in "Ein Baum voller Geheimnisse" von Natalie Standiford oder "Dumme Ideen für einen guten Sommer" von Kiera Stewart (die ja, da wiederhole ich mich gern, meinen persönlichen Goldstandard in Sachen Mädchenliteratur des 21. Jahrhunderts darstellen): Die familiäre Situation der Protagonistin ist mit "problematisch" noch wohlwollend beschrieben, ihr Vater sitzt wegen Unterschlagung im Gefängnis, ihre Mutter ist überlastet und überfordert, ihr (wohl nur wenig) jüngerer Bruder hängt mit Rowdys und Kleinkriminellen 'rum, spielt zu Hause aber die Rolle des braven Kindes. Nach der Schule fährt Gemma mit dem Fahrrad herum und versucht einen Ort wiederzufinden, an dem die Familie ein Picknick gemacht hat, bevor der Vater verhaftet wurde – weil sie mit diesem Ort ihre letzte Erinnerung an eine glückliche Kindheit verbindet. Das einzige Familienmitglied, bei dem Gemma etwas Halt findet, ist ihre Oma, die in einer heruntergekommenen, von Vandalismus und Kleinkriminalität geplagten Neubausiedlung lebt; zu Beginn der Handlung ist gerade der Hund der Oma gestorben, und Gemma soll ihr helfen, ihn zu begraben. Soweit klar, was ich mit "düsterer Atmosphäre" meine?

Bewegung kommt in die Handlung, als Gemmas Oma und "Cowgirl" Kate sich kennenlernen und miteinander anfreunden, was Gemma zunächst nicht gern sieht, aber allmählich bringt es doch auch die beiden Mädchen einander näher. Kates Vater betreibt die Landwirtschaft nur noch halbherzig und versucht parallel dazu eine Landschaftsgärtnerei-Firma aufzubauen; als er seine zwölf Kühe samt Weideland an einen Großbauern verkaufen will, kommt Kate auf die verzweifelte Idee, ihre Lieblingskuh Jane im Garten von Gemmas Oma unterzustellen. Ein Entschluss mit unerwartet weitreichenden Folgen: Auf eigentümliche Weise beginnt die Anwesenheit der Kuh das soziale Klima in der Nachbarschaft zu verändern. Es ist beinahe wie mit den Wölfen im Yellowstone-Park. Sogar die delinquenten Jugendlichen in der Neubausiedlung sammeln plötzlich lieber Kuhfutter, statt Fahrräder zu klauen oder bei wehrlosen Rentnern einzubrechen. Bald zeigen einige der Nachbarn Interesse, ebenfalls eine Kuh bei sich aufzunehmen, und Kate sieht die Möglichkeit, das ganze Dutzend im Wohngebiet unterzubringen.

Konflikte sind natürlich vorprogrammiert, schließlich gehören die Kühe eigentlich nicht Kate, sondern ihrem Vater, der weiterhin entschlossen ist, sie zu verkaufen; außerdem ist die Umsiedlung von Kühen ohne behördliche Genehmigung sowieso illegal. Auf welche Weise es schließlich zu einer für alle Seiten befriedigenden Lösung kommt, soll hier nicht verraten werden.

Es überrascht wohl nicht unbedingt, dass es auf der Dialog- und Reflexionsebene dieses Buches auch um Fragen der artgerechten Viehhaltung geht, bis hin zu der Überlegung, ob Milchviehwirtschaft nicht grundsätzlich und zwangsläufig grausam sei, weil sie darauf basiert, Kälber ihren Müttern wegzunehmen und die für sie bestimmte Milch für den menschlichen Verzehr zweckzuentfremden. Es wirkt plausibel und nicht übertrieben, dass Gemma, nachdem sie Kates Kühe liebgewonnen hat, beschließt, sich fortan vegetarisch ernähren zu wollen; auf Milch und Käse will sie aber doch nicht verzichten – eine Inkonsequenz, die verhindert, dass das Buch in diesem Punkt allzu "preachy" 'rüberkommt. – Viel interessanter finde ich aber ehrlich gesagt die Dynamik in den nachbarschaftlichen Beziehungen im Neubaugebiet, die durch die Kühe angestoßen wird. Was mir aus #benOppiger Perspektive dabei zu meinem vollkommenen Glück noch fehlt, ist ein christlicher Bezug. Die einzige Religion, die im Buch eine Rolle spielt, ist der Hinduismus: Einer der Nachbarn von Gemmas Oma ist Inder und spricht viel über die Bedeutung der Kuh im Hinduismus, auch von Krishna in seiner Rolle als mythischer Rinderhirt ist die Rede, und auf dem Weg zum Happy End wird ein Holi-Fest gefeiert. Das kommt alles durchaus stimmig 'rüber, macht die Abwesenheit des Christentums im Handlungskosmos aber nur desto auffälliger.

Die deutsche Übersetzung von Gabriele Haefs finde ich übrigens nicht ganz so gut, wie ich sie mir gewünscht hätte; dabei mag es allerdings eine Rolle gespielt haben, dass mir beim Namen Gabriele Haefs prompt Gisbert Haefs einfiel, dessen Übersetzung von Rudyard Kiplings "Genau-so-Geschichten" ich absolut genial finde und der tatsächlich Gabrieles Bruder ist. Da waren meine Erwartungen wohl einfach sehr hoch. Der Entscheidung, das Buch, dessen Originaltitel "Cowgirl" lautet, in der deutschen Ausgabe "Milchmädchen" zu nennen, möchte ich jedenfalls Beifall zollen – auch wenn wir es familienintern bevorzugt "das Kuh-Buch" genannt haben. – Um nun aber mal zu einem abschließenden Urteil zu kommen: Ja, ich würde schon sagen, dass dieses Buch in derselben Liga spielt wie "Ein Baum voller Geheimnisse" und "Dumme Ideen für einen guten Sommer". Es atmet eine andere Atmosphäre, es ist irgendwie "europäischer", ernster, kühler, in gedämpfteren Farben gemalt, aber es kann mit den genannten Büchern mithalten. Jetzt bin ich gespannt, ob ich in der Bibliothek noch mehr Bücher werde entdecken können, die auf diesem Niveau liegen. 


  • Michael Ende: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Mit Zeichnungen von F.J. Tripp. München: dtv, 1977 (erstmals: Stuttgart: Thienemanns, 1960).

Hier kann ich die Handlung nun aber wirklich als bekannt voraussetzen, oder? – Tja, könnte man meinen; aber so ganz sicher bin ich mir da, schon aus eigener Erfahrung, doch nicht. Wie wahrscheinlich viele Kinder meiner Generation habe ich diese Geschichte zuerst in Gestalt der Puppentrick-Fernsehserienfassung der "Augsburger Puppenkiste" kennengelernt, und es dauerte dann noch einige Jahre, bis ich tatsächlich mal das Buch las; ich bin nicht einmal sicher, ob mir damals bewusst war, dass es vom selben Verfasser stammte wie "Momo" und "Die Unendliche Geschichte". Tatsächlich stellte "Jim Knopf" das Kinderbuch-Debüt des bis dahin ohne großen Erfolg als Theater- und Kabarettautor sowie als Filmkritiker tätigen Ende dar; die in zwei Bänden ("Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer", 1960, und "Jim Knopf und die Wilde 13", 1962) veröffentlichte Geschichte hatte Ende ursprünglich als einen zusammenhängenden Roman geschrieben, weshalb es vielleicht nicht verwunderlich ist, dass ich mich nicht mehr ganz genau erinnern konnte, welche Handlungselemente im ersten Band vorkommen und welche im zweiten. Vor allem war ich überrascht, dass Lukas und Jim schon ganz am Anfang ihrer Abenteuerreise in China landen; dabei entspricht das völlig der inneren Logik einer klassischen Heldenerzählung: Der jugendliche Held (Jim) und sein Mentor (Lukas) werden durch Zufall oder Schicksal an einen Ort verschlagen, der zwar als fremd und "anders" gekennzeichnet wird, aber immerhin noch Ähnlichkeit mit der Welt hat, die sie kennen (case in point: Ebenso wie der König von Lummerland hat auch der Kaiser von China ein Telefon), und erhalten dort einen Auftrag, der sie noch tiefer ins Unbekannte führt. In diesem Sinne kommt Endes phantastisch überzeichnetem China (das in anderen Ausgaben des Romans "Mandala" heißt) die Funktion der "Schwelle zur Anderswelt" zu. Klassisch ist auch, dass der Held im Zuge der Erfüllung der ihm gestellten Aufgabe auch dem Geheimnis seiner eigenen Herkunft auf die Spur kommt.

Kurzum, man kann wohl sagen, dass es sich bei "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" um einen Heldenmythos in skurril-humorvoller Einkleidung handelt und dass der Autor mit diesem Buch eine Probe seines Könnens abliefert, das sich in späteren Werken auf ungleich höherem Niveau entfaltet. Für ein Kinderbuch ist das Niveau von "Jim Knopf" indes schon ganz richtig. – Übrigens möchte ich in meiner Eigenschaft als dezidiert christlicher Kinder- und Jugendbuchkritiker durchaus nicht der Frage aus dem Weg gehen, ob Michael Ende nicht auch seine problematischen Züge habe, die es ratsam erscheinen lassen, eine gewisse Vorsicht dabei walten zu lassen, Kinder an seine Werke heranzuführen. Nun kann man natürlich erst mal sagen: Vorsicht ist immer gut, und es gibt wohl kaum einen "klassischen" Kinder- und Jugendbuchautor, bei dem es solche problematischen Aspekte nicht gäbe. Bei Michael Ende handelt es sich indes um einen ausgeprägten Hang zu Esoterik und Okkultismus; auch wenn ich sagen würde, dass das in "Jim Knopf" noch nicht so eine große Rolle spielt, ist das doch insgesamt ein vielschichtiges Thema, mit dem ich mich schon mehrfach befasst, aber, wenn die Erinnerung mich nicht trügt, noch nie etwas dazu veröffentlicht habe. Was mich daran erinnert, dass ich während der Corona-Zeit im Rahmen meiner Artikelserie "Die 100-Bücher-Challenge" eine Rezension von Michael Endes relativ kurz vor seinem Tod erschienenen Fragmentensammlung "Zettelkasten" in Angriff genommen hatte, damit aber schlichtweg nicht fertig geworden war. Nun spiele ich mit dem Gedanken, sie, soweit sie eben gediehen ist, auf Patreon zu veröffentlichen; vielleicht motiviert mich das dann sogar dazu, endlich doch noch an ihr weiterzuarbeiten.

Hier und jetzt aber erst mal noch was anderes: Wie einigen Lesern bekannt sein dürfte, gehört "Jim Knopf" zu denjenigen Büchern, die seit einigen Jahren immer wieder in Debatten darüber auftauchen, ob man Kinderbuchklassiker von nicht mehr zeitgemäßen, reaktionären, diskriminierenden Elementen säubern müsse. Konkret handelt es sich um den Vorwurf "rassischer Stereotypen". Das sieht erst einmal nach einem klassischen Beispiel dafür aus, dass man es den woken Tugendwächtern einfach nicht recht machen kann: Kommen in einem Kinder- oder Jugendbuch keine sogenannten "people of color" vor, dann fehlt es ihm an "diversity"; kommen aber welche vor, dann ist ihre Darstellung rassistisch. Dabei sollte man denken, der Autor positioniere sich recht unmissverständlich gegen Rassismus und andere Formen von Diskriminierung, etwa indem er dem einsam und ausgestoßen in der Wüste lebenden Scheinriesen Tur Tur die Worte in den Mund legt:

"Eine Menge Menschen haben doch irgendwelche besonderen Eigenschaften. Herr Knopf zum Beispiel hat eine schwarze Haut. So ist er von Natur aus, und dabei ist weiter nichts Seltsames, nicht wahr? Warum soll man nicht schwarz sein? Aber so denken leider die meisten Leute nicht. Wenn sie selber zum Beispiel weiß sind, dann sind sie überzeugt, nur ihre Farbe wäre richtig, und haben etwas dagegen, wenn jemand schwarz ist. So unvernünftig sind die Menschen bedauerlicherweise oft" (S. 129).

Zweifellos könnten in Intersektionalismus und "Critical Race Theory" geschulte Diskursteilnehmer ausführlich begründen, warum diese Stellungnahme unzulänglich sei, aber nach den Maßstäben dieser Leute ist ja sogar Martin Luther Kings "I Have a Dream"-Ansprache reaktionär. –

Aber was ist mit dem "N-Wort"? Ganz am Anfang der Geschichte, als die Bewohner der Insel Lummerland in einem Postpaket das dunkelhäutige Baby vorfinden, das später Jim Knopf genannt wird, sagt Herr Ärmel den verhängnisvollen Satz "Das dürfte vermutlich ein kleiner Neger sein" (S. 15). Wie geht man damit um, wenn man das Buch einem Schulkind vorliest, das das "N-Wort" ja möglichst nicht in seinen aktiven Wortschatz aufnehmen soll? Unterbricht man die Lektüre, um dem Schulkind zu erklären, dass zu der Zeit, als das Buch geschrieben und veröffentlicht wurde, das "N-Wort" eine allgemein gebräuchliche Bezeichnung für dunkelhäutige Menschen war und als solche sogar im Lexikon stand, heute aber als beleidigend und respektlos aufgefasst wird und deshalb nicht mehr verwendet werden sollte? Oder lässt man den Satz beim Vorlesen einfach weg? – In diesem konkreten Fall erwies sich die letztere Lösung als die einfachere, da der problematische Satz an dieser Stelle eigentlich überflüssig ist; bestenfalls dient er dazu, Herrn Ärmel als neunmalklugen Wichtigtuer zu charakterisieren, was aber insofern verzichtbar ist, als er im weiteren Verlauf der Handlung ohnehin nur noch am Rande erwähnt wird. Schwieriger dürfte die Vermeidung des "N-Worts" in James Krüss' "Der Leuchtturm auf den Hummerklippen" werden; dieses Buch haben wir ebenfalls "für demnächst" auf unserer Leseliste... Ich werde berichten! 


Hinweis in eigener Sache: Dieser Artikel erschien zuerst am 25.05. auf der Patreon-Seite "Mittwochsklub". Gegen einen bescheidenen Beitrag von 5-15 € im Monat gibt es dort für Abonnenten neben der Möglichkeit, Blogartikel rund eine Woche früher zu lesen, auch allerlei exklusiven Content, und wenn das als Anreiz nicht ausreicht, dann seht es als solidarischen Akt: Jeder, der für die Patreon-Seite zahlt, leistet einen Beitrag dazu, dass dieser Blog für den Rest der Welt kostenlos bleibt! 


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