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Samstag, 28. September 2019

God Gave Rock'n'Roll To You (V): The Misevangelization of Lauryn Hill

Eigentlich wundert es mich selbst, dass ich mich bis vor kurzem nie gefragt habe, was eigentlich aus Lauryn Hill geworden ist. Pfingsten 1997 habe ich sie live gesehen, bei "Rock im Park" im Nürnberger Frankenstadion -- damals noch mit den Fugees, die sich kurze Zeit später auflösten. Lauryn Hill war zu diesem Zeitpunkt hochschwanger (mit einem Enkelkind von Bob Marley, ist das nicht großartig?!) und machte deswegen nur einen Teil des Auftritts mit, aber immer wenn sie die Bühne betrat war ihr Charisma überwältigend. Gut ein Jahr später erschien ihr Solo-Debütalbum "The Miseducation of Lauryn Hill", das Fans und Kritiker gleichermaßen entzückte und im Handumdrehen zum Klassiker avancierte. Das Magazin Spin wählte die Scheibe auf Platz 28 der besten Alben der 1990er Jahre, beim New Musical Express rangiert "Miseducation" sogar auf Platz 89 der 500 besten Alben aller Zeiten. Bei der Grammy-Verleihung des Jahres 1999 räumte Lauryn Hill fünf Auszeichnungen ab, inklusive "Album of the Year"

Und seitdem hat nie wieder jemand etwas von ihr gehört. 

Okay, das ist jetzt ein bisschen übertrieben, aber nicht sehr. Und wirklich erstaunlich finde ich es, dass ich mich über diesen Umstand überhaupt nicht gewundert habe. Bis ich vor kurzem auf YouTube über dieses Video stolperte: 


Zunächst mal: Todd in the Shadows ist ein YouTube-Popmusikkritiker, auf den mich vor längerer Zeit mal, und ohne direkten Zusammenhang mit dem hier in Frage stehenden Thema, eine Bloggerkollegin aufmerksam gemacht hat; und der junge Mann ist echt gut. Ich bin, was Fragen des Musikgeschmacks betrifft, nicht immer ganz mit ihm einverstanden, aber doch sehr oft ziemlich weitgehend; vor allem aber sind seine Popmusik-Kritiken witzig, bissig, clever und enorm kenntnisreich. Nicht selten enthalten seine Videos eine solche Fülle an Hintergrundwissen, dass man fast schon behaupten kann, er betreibe Popmusik-Kritik als eine (enorm unterhaltsame) Form von Kultur- und Zeitgeschichtsschreibung. In besonderem Maße gilt das für die Serien "One Hit Wonderland" und "Trainwreckords". Während es in "One Hit Wonderland", wie der Name schon zu erkennen gibt, um Bands und Solokünstler geht, die in ihrer gesamten Karriere nur einen  einzigen richtig großen Hit hatten, befasst sich die Reihe"Trainwreckords" mit Platten, die so katastrophale Fehlschläge waren, dass die Karrieren ihrer vormals erfolgreichen Interpreten sich nie wieder richtig davon erholten. Und für diese Serie ist Lauryn Hills 2002 erschienenes Live-Doppelalbum "MTV unplugged 2.0" tatsächlich ein gefundenes Fressen. Denn dieses Album ist nicht einfach nur schlecht; es ist dermaßen grotesk schlecht, dass es auf seine Weise schon wieder etwas ausgesprochen Großartiges hat. -- Ich sag mal so: Ich habe seit Jahren einen Romanentwurf in der Schublade, in dem ein Konzert einer exzentrischen, abgehalfterten Bluesrock-Legende vorkommen sollte, und bei allem Willen zur satirischen Überspitzung hatte ich mir selbst dieses fiktive Konzert nicht als so bizarr vorgestellt wie das sehr reale, das Lauryn Hill am 21. Juli 2001 in den MTV-Studios in New York gab.

Anders als es für die "MTV unplugged"-Reihe typisch ist, spielt sie nicht etwa akustische Versionen ihrer Hits, sondern - abgesehen von einer Bob-Marley-Coverversion - ausschließlich neue, bislang unveröffentlichte Songs; okay. Zum Teil sind diese Songs noch nicht so richtig fertig; na gut. Sie tritt allein mit einer Gitarre auf, obwohl sie nicht so richtig gut Gitarre spielen kann; na ja, aber singen kann sie doch, oder? -- Äh: eigentlich schon. Hier jedoch klingt sie, als habe sie a) eine böse Erkältung und/oder b) sich am Abend zuvor heiser geschrien. Fast alle Songs haben Überlänge, wirken unstrukturiert und klingen dadurch mehr oder weniger alle gleich. Mehrfach verspielt sie sich, unterbricht sich. Und zwischen den Songs redet sie sehr viel.  Der Konzertmitschnitt ist ungekürzt, ungeschnitten auf zwei CDs gebrannt worden, er ist eine Stunde und 46 Minuten lang, und mehr als eine halbe Stunde davon redet sie nur. Alles in allem ist es eigentlich unbegreiflich, dass diese Aufnahme überhaupt veröffentlicht wurde, und zwar als offizielles Album und nicht etwa als Bootleg.

Das Album erntete bei Fans und Kritikern durchaus gemischte Reaktionen; wohlgemerkt: "gemischt" heißt, es gab auch positive. Vereinzelt sogar sehr positive. Was sich im Grunde nur dadurch erklären lässt, dass, wie schon angedeutet, so eine Totalkatastrophe ja irgendwie auch faszinierend ist. In diesem speziellen Fall hat diese Faszination allerdings etwas sehr Makaberes, man könnte sogar sagen: etwas Voyeuristisches an sich. Leute, die diese Platte mögen, betonen, wie ehrlich, wie roh, wie echt sie sei. Die realness ist voll important, Alter. Auch Lauryn Hill selbst spricht in ihren nicht enden wollenden, oft ziemlich wirren Monologen zwischen den Songs wieder und wieder von "reality". Aber die reality der Situation ist, dass die Sängerin in einem gefährlichen Maße psychisch instabil 'rüberkommt. Im letzten Drittel des Songs "I Gotta Find Peace of Mind" hat sie einen regelrechten emotionalen Zusammenbruch.

Nun ist es ja so - wofür ich in früheren Folgen meiner Artikelserie "God Gave Rock'n'Roll To You", die ich aus diesem Anlass "wiederbelebt" habe, allerlei Fallbeispiele zusammengetragen habe -, dass spektakuläre Karriere-Brüche von Rock- und Popstars nicht selten einen religiösen Aspekt haben; und im obigen Video findet "Todd in the Shadows" einige Anhaltspunkte dafür, dass dies auch hier der Fall ist. Er geht ihnen allerdings kaum nach, da Religion insgesamt nicht so sein Thema ist. Die Songtexte, einige von ihnen jedenfalls, sind voll von biblischen Motiven und teilweise recht kryptischen religiös-philosophischen Bezügen; Todd empört sich ziemlich über eine Passage aus "Adam Lives in Theory", welche lautet: 
"Eve was so naive, blinded by the pride and greed
Wanting to be intellectual
Drifting from the way she got turned down one day 
And now she thinks that she's bisexual". 
Nun halte ich zwar - diesen Vorwurf kann ich meinem Lieblings-Popmusikkritiker an dieser Stelle nicht ersparen - wenig davon, sich angesichts solcher Aussagen die Ohren zuzuhalten und "Homophobie!" zu schreien,  aber immerhin stellt "Todd in the Shadows" an dieser Stelle die richtige Frage: Kann es sein, dass Lauryn Hill auch früher schon etwas anders tickte, als wir angenommen haben? Er blickt zurück auf "Doo Wop (That Thing)", den großen Single-Hit des "Miseducation"-Albums, und stellt fest (und diese Formulierung ist einfach zu schön, um sie zu übersetzen): 
"You can totally imagine Lauryn telling teenage boys to pull up their pants and find Jesus." 
Aber hallo. 

Schon 1996 bekannte Lauryn Hill sich in einem MTV-Interview nachdrücklich zu ihrem Glauben an Gott; zugegeben, das kann natürlich alles Mögliche bedeuten, aber ich würde doch behaupten, dass ein solches Glaubensbekenntnis zu dieser Zeit und an einem solchen Ort nicht unbedingt alltäglich war. Ab dem Jahr 2000 zog sie sich zunehmend aus der Öffentlichkeit zurück; wie ihr damaliger Manager Jayson Jackson dem Rolling Stone-Magazin erzählte, besuchte sie in dieser Zeit bis zu fünfmal pro Woche einen Bibelkreis. Ein anderer Rolling Stone-Artikel schreibt einem "undurchsichtigen spirituellen Berater" namens Brother Anthony eine Schlüsselrolle bei der auffälligen Veränderung zu, die Lauryn Hill zu dieser Zeit durchmachte. Frühere Freunde und Weggefährten der Sängerin, allen voran Fugees-Mitbegründer Pras Michel, äußern den Verdacht, dieser Brother Anthony sei so etwas wie ein psychopatischer Sektenführer. Okay, es wird wahrscheinlich niemand der Einschätzung widersprechen, dass Pras nicht die allerhellste Kerze auf der Torte ist; wenn er also die Lehren von Brother Anthony, die er in Form einer Tonaufzeichnung kennengelernt hat, als "weird shit" beschreibt, dann kann das durchaus auch an ihm liegen. Andererseits liegt es angesichts der katastrophalen mentalen und emotionalen Verfassung, die Lauryn Hill während der Aufnahmen zu "MTV unplugged 2.0" an den Tag legt, zweifellos nahe, sich zu fragen, ob Brother Anthonys Einfluss auf sie nicht eher unheilvoll war.

Knapp zweieinhalb Jahre nach diesen Aufnahmen gab Lauryn Hill übrigens ein Konzert im Vatikan. Ohne Scheiß. In der Audienzhalle. vor rund 7.000 Zuhörern, darunter hochrangige Kurienmitarbeiter; Papst Johannes Paul II. war hingegen nicht anwesend. Die Sängerin nutzte diesen Auftritt, um mit scharfen Worten die Korruption in der Kirche und insbesondere den sexuellen Missbrauch von Kindern anzuprangern. Dies brachte ihr damals praktisch einhellig negative Reaktionen ein: Teils wurden ihre Äußerungen als "publicity stunt", teils als weiteres Anzeichen für ihren problematischen Geisteszustand wahrgenommen bzw. beurteilt. Der heutige Kurienerzbischof und Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Neuevangelisierung Salvatore "Rino" Fisichella, der für die Organisation des Konzerts mitverantwortlich gewesen war, tadelte die Wortmeldung der Sängerin als "geschmacklos" und "schlechtes Benehmen". "Ist es schlechtes Benehmen, die Wahrheit zu sagen?", konterte Lauryn Hill. Und bei allem Respekt, Exzellenz: Gerade aus heutiger Sicht, mit dem heutigen Wissen um das Ausmaß des Missbrauchsskandals und die Verstrickung höchster Kreise der kirchlichen Hierarchie in diesen, bin ich geneigt zu sagen, die Frau hatte schlicht und einfach Recht

Um aber abschließend noch einmal auf das Album "MTV unplugged 2.0" zurückzukommen, muss ich gestehen, dass ich es, nachdem ich mich hier nun eine Weile damit beschäftigt habe, nicht mehr so richtig schlecht finden kann. Nein, ich muss das anders ausdrücken: Ich finde, dass das Material, das Lauryn Hill auf diesem Album präsentiert, Potential hat, oder jedenfalls gehabt hätte. Wenn ich mal das 1996 erschienene Album "Peace Beyond Passion" von Me'Shell Ndegeocello zum Vergleich heranziehe und mir vorstelle, Lauryn Hill wäre ins Studio gegangen und hätte Songs wie "Adam Lives in Theory" oder "Mystery of Iniquity" in so einem Stil produziert bzw. produzieren lassen...

BOAH.

Das wäre der HAMMER gewesen.


6 Kommentare:

  1. Lauryn Hill wird in den Vatikan eingeladen und zieht über den Gastgeber her. Das ist ja so, als würde ich meinen Nachbarn einladen und die über die Wohnungseinrichtung stänkern.

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  2. "Holy God is a witness to the corruption of your leadership, of the exploitation and abuses which are the minimum that can be said for the clergy. There is no acceptable excuse to defend the church."

    Das kommt auch darauf an ob Sie diesen Rundumschlag von Lauryn Hill als "angemessen" bezeichnen. Ich tue das nicht. Die Führung (J.P.II. wusste wohl warum er dieser Veranstaltung fern blieb) der Kirche vor 7000 anderen Gästen als Korruptions- und Ausbeuter Clique zu bezeichnen lernt man in welchen Bibelkreisen? Im übrigen wurde Lauryn Hill 2013 zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe wegen Steuerhinterziehung verurteilt, nachdem sie in den Jahren 2005 bis 2007 ein Einkommen in Höhe von 1,8 Millionen US-Dollar nicht versteuert hatte. (Quelle Wikipedia)
    "Wasser predigen, Wein saufen." Nix neues unter der Sonne.

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    1. Ich kann nicht erkennen, was das eine mit dem anderen zu tun haben soll. Prophetische Rede ist ein Charisma, das der Geist verleiht, wem Er will. Unter Umständen auch Steuersündern.

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  3. Im Gegensatz zu Ihnen kann ich in den Ausführungen der Dame keine prophetische Rede erkennen. Nach ihren eigenen Angaben, war sie nur in den Vatikan gereist, um gegen Kindersexskandale in den Staaten zu protestieren. Von einem Konzert war ja dann wohl nie die Rede. Das könnte sie ja ohne Schwierigkeiten bei den örtlichen Bischöfen tun, ganz ohne Prophetie. Dann zum Rundumschlag auszuholen und die Führung der Kirche in ihrer Gesamtheit unentschuldbares Verhalten vorzuwerfen ist, na sagen wir mal, grenzwertig.
    Im übrigen ist das Charisma zur Unterscheidung der Geister mindest ebenso wichtig wie das der Prophetie. Das eine gibt es nicht ohne das andere.

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    1. Ich muss gerd hier beipflichten.
      Eine prophetische(!) Rede kann ich in den seinerzeitgen pauschalen Anklagen Lauren Hill's beim besten Willen nicht erkennen, denn die kirchlichen Missbrauchsskandale zumindest in den USA waren da längst bekannt. Und wurden vom Vatikan entschlossen angegangen. Chef der Glaubenskongregation war damals bekanntlich Kardinal Joseph Ratzinger.

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