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Freitag, 2. September 2016

Ich bin ein Pilger - holt mich hier raus! (Aus meinem Pilgertagebuch, Teil 4)

Tag 3: Sonntag, 24.07.2016. Espinal - Bizkarreta - Zubiri. 

Am Sonntagmorgen gegen 7:30 Uhr brachen wir in Espinal auf - bei nach wie vor relativ kühlem und regenverdächtigen Wetter und ohne Frühstück, denn Frühstück gab es im Hostal Haizea erst ab 8 Uhr, und wie ich mich schon am Abend zuvor, zu meinem eigenen Erstaunen, zu Suse hatte sagen hören: "Erst um acht Uhr frühstücken ist mir zu spät." Hätte ich mir auch nicht träumen lassen, dass ich so was mal sagen würde. "Erst um acht Uhr frühstücken ist mir zu spät." Im Urlaub! Das Pilgern verändert einen Menschen doch sehr, scheint's. 

Jedenfalls sagten wir uns, frühstücken könnten wir ja auch im nächsten Ort - Bizkarreta, 5,3 km entfernt. Insgesamt hatten wir uns für diesen Tag eine Strecke von knapp 16 km vorgenommen - bis Zubiri, wo wir laut Suses ursprünglichem Etappenplan eigentlich schon einen Tag früher hätten sein wollen. 

Wenn ich mir im Nachhinein das Höhenprofil dieser Strecke ansehe, kann ich im Grunde nicht begreifen, warum wir annahmen, diese Etappe würde uns keine besonderen Schwierigkeiten bereiten. Wahrscheinlich glaubten wir, nach der erfolgreich gemeisterten Pyrenäenüberquerung könne uns nichts mehr schocken. Tatsächlich jedoch waren in unserer Wanderkarte zwei vor uns liegende Passagen - der Abstieg vom Alto de Mezkiritz (922 m) zum Flusstal des Rio Erro (ca. 720 m) sowie vor allem der Abstieg vom Alto de Erro (810 m) zum Rio Arga (ca. 520 m) - mit Warnsymbolen versehen. 

Zunächst einmal ging es jedoch den Berg hinauf, und hier zeigte sich bald, dass Suses Fuß sich noch nicht so ganz von den Strapazen der Pyrenäenetappe erholt hatte und sie daher nur sehr langsam voran kam. Nach einer Weile fand sie, statt alle paar Meter stehen zu bleiben und auf sie zu warten, solle ich doch lieber schon mal bis nach Bizkarreta vorausmarschieren, mich dort in (oder gegebenenfalls vor) die erste Bar am Wegesrand setzen und dort auf sie warten. Mir war zwar anfangs nicht ganz wohl dabei, sie allein zu lassen, aber schließlich ließ ich mich überreden.

Tatsächlich empfand ich es als sehr angenehm, schneller voranzukommen und dabei festzustellen, dass ich mit dem Tempo anderer Pilger, die auf dieser Etappe unterwegs waren, sehr wohl mithalten konnte. Der höchste Punkt der Etappe, der Alto de Mezkiritz, war bald erreicht; an dieser Stelle stieß der Pilgerweg auf die Nationalstraße 135. Auf der anderen Straßenseite stand ein schöner Votivstein für die Nuestra Señora de Roncesvalles, mit einer Reliefdarstellung der Allerseligsten Jungfrau und einer zweisprachigen Inschrift (baskisch und spanisch).


Von hier aus ging es bergab; und bald zeigte sich, dass ich doch nicht wie geplant in meinem eigenen Wohlfühltempo bis Bizkarreta durchmarschieren konnte, denn ich kam an einige heikle Stellen, an denen ich Suse mit ihrem Problemfuß lieber nicht allein lassen wollte und daher auf sie wartete. Ein bisschen kam ich mir dabei schon selbst vor wie ein Waldgeist, der die Pilger vor Gefahren warnt. Suse taufte die auf dem Weg verstreuten problematischen Stellen später scherzhaft "Pilgerprüfungen". Die erste derselben bestand in einer steilen und steinigen Passage, die obendrein durch ein hölzernes Gatter versperrt wurde. Gut, es war nicht verriegelt, aber man musste es doch mit einer Hand offen halten, während man hindurchging. Etwas später folgte eine Steintreppe, deren langgestreckte Stufen schon in sich selbst abschüssig und obendrein so hoch waren, dass man recht große Schritte machen musste, um von einer Stufe zur nächsten zu kommen. Zudem war die steinerne Oberfläche rutschig von der in der Luft liegenden Feuchtigkeit.


Die dritte und wohl spektakulärste "Pilgerprüfung" war jedoch die Furt der fallenden Fahrradfahrer.

An dieser Stelle waren die Wegmarkierungen – die berühmten gelben Pfeile – widersprüchlich: Der Weg stieß hier auf eine vielbefahrene Straße, die an dieser Stelle eine Brücke über ein seichtes Flüsschen bildete. Auf einem Markstein war ein gelber Pfeil aufgemalt, der anzeigte, man solle über diese Brücke gehen; aber er war überklebt mit einem anderen gelben Pfeil, der auf einen unterhalb der Brücke verlaufenden betonierten Weg hinwies. Dieser führte allerdings durch den Fluss, das heißt, er lag teilweise unter Wasser.



Um keine nassen Füße zu bekommen, konnte man auch über eine Reihe hochkant stehender Betonquader am Rande des Weges balancieren; aber ich sagte mir, das Wasser stehe wohl kaum höher als zwei Finger breit, und ich hätte schließlich festes Schuhwerk. Also watete ich hindurch – und wäre beinahe hintenüber gefallen (was mit ca. 8 kg Marschgepäck auf dem Rücken kein Spaß gewesen wäre!), denn da, wo der Weg unter Wasser lag, war er mit glitschigen Algen bewachsen. Nachdem ich glücklich am anderen Ufer angekommen war, stapfte ich hoch zur Straße und ging auf dieser zu meinem Ausgangspunkt zurück – um abermals auf Suse zu warten und sie vor der Furt zu warnen. Während ich wartete, sausten zwei Fahrradpilger den Hang herunter, nahmen in forschem Tempo die Furt in Angriff – und legten sich mit Karacho auf die Fresse. Kaum hatten sie sich aufgerappelt und waren weitergefahren, da nahte der nächste Trupp Mountainbiker – vier an der Zahl diesmal. Die ersten zwei passierten die Furt ohne Probleme, aber der dritte glitt wiederum aus und fiel – was den vierten Radler veranlasste, abzusteigen und sein Gefährt über die erwähnten Betonquader zu tragen. 

Nach etwa einer Viertelstunde erschien Suse – ausgerüstet mit einem großen Ast als Wanderstab. Den habe ihr unterwegs ein Spanier geschenkt, verriet sie. Wir nahmen trotzdem lieber die Brücke.


Ein Stück gingen wir gemeinsam, dann meinte Suse, ich könne ruhig wieder vorausgehen. Das tat ich, und kaum mehr als zehn Minuten später erreichte ich auch schon Bizkarreta – oder, genauer gesagt, die Bar Denaona unmittelbar vor dem Ortseingang. Wenig überraschend war die Bar voll mit Pilgern aus aller Herren Länder; und an der Wand hing, natürlich, eine Notfallklampfe.



Ich bestellte einen Kaffee und ein Bocadillo, und bald darauf traf auch Suse ein, die sich hier ebenfalls ein Frühstück gönnte. Gemeinsam berieten wir das weitere Vorgehen. Eigentlich, sagte sie, habe ihr Fuß schon wieder genug für heute. Sie wolle sich daher mal erkundigen, ob es von hier aus vielleicht einen Bus nach Zubiri gebe. Der Inhaber der Bar verriet, einen Bus gebe es nicht, aber er könne ihr ein Taxi bestellen. „Okay“, beschloss Suse, „dann nehm‘ ich das Taxi.“ – „Und wo treffen wir uns dann?“, fragte ich, denn ich wollte die verbleibenden zehn Kilometer bis Zubiri auf jeden Fall zu Fuß gehen. „Bei der Albergue Municipal“, sagte Suse. „Die ist ausgeschildert, die kannst du gar nicht verfehlen. Oder ich warte an der Brücke auf dich. Du wirst mich schon finden.“ 

Also pilgerten wir – nach einer rund einstündigen Pause in der Bar Denaona – erst einmal getrennt weiter, Suse mit dem Taxi, ich zu Fuß. In Bizkarreta wollte ich mir erst einmal die Kirche San Pedro ansehen – und zu meiner Freude war sie geöffnet. Vier alte Muttchen saßen in den vorderen Bänken, und kaum hatte ich mich ein wenig umgesehen, da läutete eine Glocke, und ein sehr alter Priester trat ein. Es war gerade 11 Uhr, die Sonntagsmesse begann. Ich freute mich. 






Zu den vier alten Muttchen gesellten sich noch drei weitere; die Messe war in keiner Hinsicht besonders bemerkenswert, außer vielleicht, dass sie für eine Sonntagsmesse bemerkenswert kurz war (38 Minuten) – aber es war eine Heilige Messe, und sie hatte genau in dem Moment begonnen, als ich in die Kirche gekommen war. Innerlich gestärkt durch den Empfang der Eucharistie trat ich meine Wanderung nach Zubiri an – und war ziemlich erstaunt, schon relativ kurz hinter Bizkarreta durch einen weiteren Ort zu kommen. Lintzoain. Doch, doch, der steht in der Karte. 

Ab ungefähr 12 Uhr wurde es ziemlich unvermittelt sonnig und warm, und das war vielleicht – neben der Tatsache, dass ich in der Messe gewesen war – ein Grund dafür, dass ich den Wald, durch den ich jetzt kam, nicht als verhext empfand: Bei Wärme und Sonnenschein ist der Wald dein Freund und beschützt dich. 



Eine ganz neue Erfahrung war es für mich, dass ich beim Aufstieg vom Lintzoain zum Alto de Erro ständig andere Pilger überholte – mit anderen Worten, ich war ziemlich flott unterwegs. Auch das unter Pilgern übliche Grußritual hatte ich schnell raus: Wenn man sich trifft, sagt man erst mal „Hóla“; geht man dann nicht gemeinsam weiter, sondern überholt den Anderen (oder wird gegebenenfalls von ihm überholt), verabschiedet man sich mit „¡Buen Camino!“. 

Nach einer Weile traf ich zwei Pilger, mit denen ich ein gutes Stück gemeinsam ging. Es handelte sich offenbar um ein Pärchen, sie aus Deutschland, er aus Dänemark; die beiden waren tags zuvor in St. Jean gestartet und erst gegen neun Uhr abends in Roncesvalles angekommen – wie sie sagten, hatten sie es gerade noch geschafft, ihre Betten herzurichten, ehe das Licht ausgemacht wurde. Nun waren sie früh am Morgen in Roncesvalles aufgebrochen und wollten eigentlich noch bis Pamplona; ich wies sie allerdings darauf hin, dass sie sich da vielleicht ein bisschen viel für einen Tag vorgenommen hatten, denn das waren insgesamt rund 44 Kilometer, von denen sie erst gut 15 geschafft hatten. Insgesamt wollten die beiden allerdings nur bis Burgos und waren ziemlich beeindruckt, dass ich vorhatte, den ganzen Weg bis Santiago zu gehen. 

Der Alto de Erro bot nicht nur eine großartige Aussicht, sondern hier stand auch ein sogenannter Magic Truck – ein zum fahrbaren Kiosk ausgebauter Kleinlaster, an dem Snacks und Getränke verkauft wurden. Eine willkommene Gelegenheit für eine Pause also, daher hatten sich hier auch bereits recht viele Pilger versammelt. Ich blieb allerdings nur so lange dort, wie ich brauchte, um meine am Truck gekaufte Dose Aquarius (ein unter Pilgern sehr beliebtes Getränk!) auszutrinken, dann verabschiedete ich mich von meinen neuen Bekannten („Vielleicht sehen wir uns in Zubiri!“) und zog weiter. Bis zum Ortseingang von Zubiri waren es noch etwa dreieinhalb Kilometer. 




Dieser Pilger kommt offenbar von weit her. 
Der Abstieg war allerdings stellenweise wirklich extrem steil und unwegsam, und ich war froh, dass es inzwischen so trocken war; bei Nässe hätte es hier wirklich gefährlich werden können. Jedenfalls musste man bei nahezu jedem Schritt vorher gründlich überlegen, wo man den nächsten hinsetzen will – für mich als geborenem Flachländer eine interessante Erfahrung.

Aber alles lief gut, und an der Puente de la Rabia am Ortseingang von Zubiri erwartete mich Suse. Sie hatte in der Zwischenzeit ein Gedicht für mich geschrieben. <3  


Die Puente de la Rabia – zu deutsch „Tollwutbrücke“ – trägt ihren Namen übrigens daher, dass in ihrem Mittelpfeiler Reliquien der Hl. Quiteria, einer Schutzheiligen gegen die Tollwut, eingelassen sein sollen; Vieh, das man dreimal um diesen Brückenpfeiler herum treibt, soll dem Volksglauben zufolge vor Tollwut geschützt sein. 

Gemeinsam checkten wir in der kommunalen Herberge (Albergue Municipal) von Zubiri ein – einem Ensemble aus drei niedrigen, schlecht gepflegten Baracken rund um einen mit Kies bestreuten, mit Tischen und Bänken ausgestatteten, allerdings keinerlei Schatten bietenden Innenhof. Eine der Baracken beherbergte den Schlafsaal, eine zweite Toiletten und Duschen, die dritte – irreführenderweise mit „Internet“ beschriftet, was nichts Anderes hieß, als dass es dort WLAN gab – neben Waschmaschine und Trockner vor allem eine frei benutzbare Küche mit großem Esstisch. Grund genug, endlich einmal den Plan des „pastoralen Kochens“ in die Praxis umzusetzen, schließlich hatten wir Zutaten für Risotto im Rucksack.




Als erstes kamen wir mit einer Gruppe Italiener ins Gespräch, die Baguettebrot, Chorizo-Würstchen und Olivenöl dabei hatten und daraus an einem Tisch im Hof Bocadillos zubereiteten, die sie großzügig mit uns teilten. Auf eine Einladung zum gemeinsamen Risotto-Essen reagierten sie nicht abgeneigt, schränkten aber ein, sie hätten bereits mit Freunden verabredet, im Ort nach einer Möglichkeit zum Essengehen zu suchen. Als Suse die Vorbereitungen fürs Abendessen damit begann, die getrockneten Pilze einzuweichen, trafen wir eine Amerikanerin, die ich zwischen Lintzoain und Zubiri mehrmals überholt hatte; sie wollte zwar nicht mitessen, steuerte aber ein großes Stück Käse zum Risotto bei. Zwei junge Franzosen, Paul und Antoine, zeigten sich begeistert von der Aussicht auf ein gemeinschaftliches Abendessen und boten Hilfe bei der Zubereitung an; sie durften daraufhin Zwiebeln und Hartwurst kleinschneiden. Weitere Interessenten fanden sich zunächst nicht, aber Suse ließ sich davon nicht verunsichern. „Wir decken einfach einen Tisch im Hof für sieben oder acht Personen – für so viele reicht das Essen“, meinte sie. „Wer was essen will, wird sich dann schon melden.“ 






Und genau so kam es. Das Risotto gelang gut, auch wenn es – da es mit Rotwein statt mit Weißwein abgeschmeckt war – eine etwas undefinierbare Farbe hatte; außerdem fand Suse in der Küche eine herrenlose Dose Fleischbällchen, die sie in einem separaten Topf zubereitete. Und als Paul, Antoine, Suse und ich erst einmal angefangen hatten zu essen, fanden sich doch mehr und mehr andere Gäste der Herberge ein, setzten sich mit an den Esstisch, um zumindest mal einen Löffel zu probieren. Und einen Schluck Wein. So wurde es ein heiterer und geselliger Abend; Paul und Antoine übernahmen den Abwasch und honorierten das Essen sogar mit einer recht großzügigen Spende. Ganz aufgegessen wurde das Risotto allerdings nicht; also stellten wir den Rest in die Küche – und gingen schlafen.


(Fortsetzung folgt!) 


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