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Donnerstag, 11. Dezember 2014

Besinnung und Besinnlichkeit




"Ich mache den ganzen Besinnungsstress diesmal nicht mit." Mit diesem bemerkenswerten Satz begann jüngst ein Radiobeitrag der Reihe "Kirche in WDR2", der in schriftlicher Form auch im Blog der Autorin erschien. Na klar, denkt sich da der geneigte Hörer oder Leser. Es ist ja auch eine Zumutung: "Als gäb es mit allen anderen stressigen Weihnachtsvorbereitungen nicht schon genug zu tun", soll man sich obendrein auch noch besinnen

Mir fällt beim Stichwort "Besinnung" im Zusammenhang mit Weihnachten immer ein Theaterstück ein, das, als ich in der 6. Klasse war, als Schüleraufführung für die Weihnachtsfeier meiner Schule einstudiert wurde. Den Titel habe ich vergessen. Ich hätte darin ursprünglich eine Hauptrolle spielen sollen, wozu es dann aber nicht kam, weil ich bei den Proben oft unkonzentriert war - was vielleicht verständlich ist, wenn man bedenkt, dass damals gerade mein Vater im Sterben lag. In diesem Stück jedenfalls ging es darum, dass ein Schüler einen Aufsatz über die Bedeutung von Weihnachten schreiben soll, während um ihn herum seine ganze Familie im Zuge der stressigen Weihnachtsvorbereitungen mehr und mehr die Nerven verliert. Inmitten der vorweihnachtlichen Hektik werfen diverse Familienmitglieder dem Sohn immer mal wieder Stichworte für seinen Aufsatz zu. Ganz zum Schluss stellt jemand das Schlagwort "Weihnachten - Fest der Besinnung" in den Raum, und der Sohn fragt: "Worauf sollen wir uns eigentlich besinnen?" Da er im allgemeinen Trubel keine Antwort erhält, insistiert er: "Worauf wir uns eigentlich besinnen sollen!?" Und dann fällt der Vorhang, die Frage bleibt unbeantwortet.

Christen sollte eine Antwort auf diese Frage eigentlich nicht schwer fallen: Im Advent geht es darum, sich auf die Ankunft des Herrn vorzubereiten. Gemeint ist damit nicht nur die Erinnerung an die Geburt Jesu als ein rund 2.000 Jahre zurückliegendes Ereignis, sondern auch die Vorbereitung auf Seine verheißene Wiederkunft - und nicht zuletzt auch, Ihn in uns selbst "ankommen" zu lassen. Andere Beiträger(-innen) zum Blogoezesen-Adventskalender haben das bereits besser und schöner in Worte gefasst, als ich es könnte. Erlaubt sei mir jedoch, einige Bibelstellen zu wiederholen, die das, was die adventliche Besinnung bewirken soll, in kraftvolle Bilder fassen:
"Eine Stimme ruft: Bahnt für den Herrn einen Weg durch die Wüste! Baut in der Steppe eine ebene Straße für unseren Gott! Jedes Tal soll sich heben, jeder Berg und Hügel sich senken. Was krumm ist, soll gerade werden, und was hüglig ist, werde eben." (Jesaja 40, 3-4
"Seht, ich sende meinen Boten; er soll den Weg für mich bahnen. Dann kommt plötzlich zu seinem Tempel der Herr, den ihr sucht, und der Bote des Bundes, den ihr herbeiwünscht. Seht, er kommt!, spricht der Herr der Heere." (Maleachi 3,1
"Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Sieh, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft; er ist demütig und reitet auf einem Esel, auf einem Fohlen, dem Jungen einer Eselin." (Sacharja 9,9
"Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt, ob am Abend oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen. Er soll euch, wenn er plötzlich kommt, nicht schlafend antreffen. (Markus 13,35-36
"Mitten in der Nacht aber hörte man plötzlich laute Rufe: Der Bräutigam kommt! Geht Ihm entgegen! Da standen die Jungfrauen alle auf und machten ihre Lampen zurecht." (Matthäus 25, 6-7; wir wissen, wie das Gleichnis weitergeht.)  
Im WDR2-Beitrag heißt es jedoch: "In den Bibeltexten, die meine Kirche im Advent liest, ist auch nicht viel von Besinnung die Rede". Ach nicht. Aha. Und wovon sonst?
"Da wird von einer ärmlichen Familie erzählt, in der die hochschwangere Frau sich noch einer beschwerlichen Reise aussetzen muss, weil ihr Lebensgefährte von der Besatzungsmacht zur Registrierung in Meldelisten gedrängt wird."
Ächz. Alle Jahre wieder begegnen einem in diversen Gemeindeblättchen, in der Weihnachtsbeilage der Lokalzeitung und/oder im "Wort zum Sonntag" solche Elaborate, in denen die Weihnachtsgeschichte nach Lukas (warum eigentlich nie die nach Matthäus? Die Flucht nach Ägypten würde sich doch mindestens ebensogut dazu eignen!) als alltägliches Flüchtlingsschicksal nacherzählt wird. -- Freilich: Dass solche Flüchtlingsschicksale alltäglich sind, ist ein Skandal, der auch und gerade Christen nicht kalt lassen kann und darf. Schließlich sollen wir in den ärmsten unserer Brüder (und Schwestern) Christus erkennen (vgl. Mt 25, 31-46). Aber umgekehrt geht dieser Satz nicht auf. Jedenfalls nicht ganz. Der arme Jesus, der in einem Stall zur Welt kommt, weil für seine hochschwangere Mutter in der Herberge kein Platz war, kann und soll uns ebenso wie der leidende Jesus am Kreuz (und auf dem Weg dorthin) an die Armen und Leidenden unserer Gegenwart mahnen; aber seine Bedeutung erschöpft sich nicht darin. Der da geboren wird, ist Gottes lebendiges Wort, der Erlöser der Menschen von Sünde und Tod - derjenige, über den es in Jesaja 9,5 heißt: "Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter; man nennt ihn: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens." Ganz simpel ausgedrückt: An Weihnachten geht es nicht nur um die Menschwerdung Gottes, sondern auch um die Menschwerdung Gottes. Wenn wir das übersehen, laufen wir Gefahr, den christlichen Glauben auf ein bloßes ethisches und/oder politisches Programm zu reduzieren. 

In dem zitierten Beitrag folgt jedoch die steile These:
"Die, die da auf der Reise nach Bethlehem waren [...], die werden alles gemacht haben, was anstrengend ist, aber keine abendliche Schweigemeditation oder sowas ähnliches."
Hm. Sollten wir wirklich annehmen, die Selige Jungfrau und Gottesmutter Maria und der Heilige Joseph hätten vor lauter irdischen Bedrängnissen keine Zeit mehr gefunden, an Gott zu denken? Ich würde behaupten, die Evangelien erzählen uns da etwas Anderes. Sicher, für den Menschen von heute ist es oft schwierig, inmitten von alltäglichen Sorgen, Mühen, Verpflichtungen, aber auch Ablenkungen aller Art die Zeit für Gott zu finden. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, und ich nehme mal an, viele, wahrscheinlich die meisten meiner Leser teilen diese Erfahrung. Da mag es nahe liegen, zu unterstellen, es sei allen Menschen zu allen Zeiten so gegangen. Aber vielleicht täten wir besser daran, unsere Prioritäten zu überdenken und die vielleicht nur unbewusst in uns wirkende Auffassung in Frage zu stellen, "Spiritualität" sei ein Luxusartikel, den man sich erst dann "leisten" kann, wenn die Grundbedürfnisse des alltäglichen Lebens bereits abgedeckt sind. Dagegen empfiehlt der Hl. Franz von Sales: "Nimm dir jeden Tag eine halbe Stunde Zeit zum Gebet. Außer wenn du viel zu tun hast - dann nimm dir eine Stunde." - Auf die Besinnung verzichten, um Stress zu reduzieren? Nix da, sagt der Schutzpatron der Schriftsteller, Journalisten und Gehörlosen - ganz im Gegenteil! Sinnvoller mag da eine "Maßnahme gegen Adventshektik" sein, die der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick jüngst auf Twitter angeregt hat: " kommunikatives Neinsagen gegen vorweihnachtliche Feiern, Geschenkekaufrausch, Weihnachtsmärktebesuch etc.". Das mag schwer durchzuhalten sein, aber man kann's ja mal versuchen.

Ich habe vielleicht, vielleicht auch nicht, an anderer Stelle schon einmal erwähnt, dass ich unter anderem mal Theaterwissenschaft studiert habe. Das sicherlich lesenswerteste und unterhaltsamste Stück Pflichtlektüre, das mir in diesem Studium unterkam, war Lessings Hamburgische Dramaturgie. Darin rechtfertigt Lessing den Umstand, dass er so gern und oft gegen Voltaire vom Leder zieht, mit den Worten:
"Ein kritischer Schriftsteller, dünkt mich, [...] suche sich nur erst jemanden, mit dem er streiten kann: so kömmt er nach und nach in die Materie, und das übrige findet sich. Hierzu habe ich mir in diesem Werke, ich bekenne es aufrichtig, nun einmal die französischen Skribenten vornehmlich erwählet, und unter diesen besonders den Hrn. von Voltaire."
Ebenso habe ich mir für diesen Adventskalenderbeitrag die Autorin des oben erwähnten WDR2-Beitrags zum Streiten ausgesucht. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass ich nichts von dem, was ich hier schreibe, als persönlichen Angriff auf diese Autorin verstanden wissen möchte. Ich kenne sie von Twitter her, sie ist eine sympathische Person. Sie gehörte zu den initiatoren des Projekts #Twomplet, das mir sehr am Herzen liegt. Vielleicht beruhen unsere Meinungsverschiedenheiten zum Teil auch einfach auf Missverständnissen, auf einem unterschiedlichen Verständnis von Begriffen. Diesen Eindruck habe ich vor allem, wenn sie im Zuge ihrer Abweisung von "Besinnungsstress" gegen "Kerzenmeditation" und "Schweigemeditation" polemisiert und "Besinnung" kurzerhand mit "Gemütlichkeit" und "Rückzug" gleichsetzt - und somit, zusammenfassend gesagt, den Begriff der Besinnung mit dem der Besinnlichkeit kurzschließt. -- Ich habe größtes Verständnis dafür, wenn jemand auf den Begriff "Besinnlichkeit" allergisch reagiert; ja, ich möchte fast sagen, ich teile diese Allergie. Der Begriff "Besinnlichkeit" hat einen unschönen Beigeschmack von Betulichkeit, er beschwört unweigerlich Vorstellungen von Häkeldeckchen, pausbäckigen Posaunenengeln, Teetassen mit Blumenmuster und nicht zuletzt Kerzen herauf, Kerzen, überall Kerzen. Nichts gegen Kerzen im Allgemeinen, aber sie können einem schon mal zu viel werden. Die Besinnlichkeit verhält sich zur Besinnung wie die Gemütlichkeit zum Gemüt: Sie ist eine Verniedlichung, eine Domestikation, sie nimmt der Sache ihren Ernst und verwandelt sie in einen pittoresken, zwar hübsch anzuschauenden, aber letztlich nutzlosen Nippesartikel auf der Kommode der bürgerlichen Kleinfamilie. Ist man der Welt der gutbürgerlichen Schrankwände einmal entkommen, liegt es nahe, der Meinung zu sein, Besinnlichkeit nicht brauchen zu können; und in dem beschriebenen Sinne verstanden, stimmt das wohl auch. Aber Besinnung - das heißt, im Wortsinne: Sinn finden, zu Sinnen kommen, während man im alltäglichen Leben allzu oft von Sinnen, besinnungslos ist - diese Besinnung brauchen wir. Dringend, und nicht nur im Advent. Aber wenn es schon eine Zeit im Kirchenjahr gibt, die explizit dieser Aufgabe gewidmet ist - sollte man diese Zeit dann nicht nutzen?

Morgen wird der Blogoezesen-Adventskalender auf dem Blog des Rosenkranz-Atelier fortgesetzt. 

2 Kommentare:

  1. Das war wirklich ein sehr schöner Beitrag. Vielen Dank!

    LG von Juliane

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  2. Danke für deine Zeilen. Ich versteh jetzt besser, wofür in ein paar Tweets (neben Emotionen) kein Platz war.

    Ich schreib einfach was zu meinem Hintergrund und zum Hintergrund des Beitrags für Kirche in WDR 2:
    Ich liebe den Advent und fühle mich jedes Jahr von ihm herausgefordert, im besten Sinne. Er ist alles andere als Tagesordnung. Ich hab die prophetischen Texte im Ohr, gerne auch Messias-Passagen im Sinn, ohne sie auf den Plattenteller legen zu müssen. Advent ist ein Weckruf, eine Wegstrecke, die durchrüttelt. Hoff ich noch auf die Wiederkunft des Herrn? Was bewegt das nahende Fest der Menschwerdung Gottes bei mir? Ein paar der Fragen, mit denen ich denkend und betend unterwegs bin in diesen Wochen.

    Mein Text für Kirche in WDR2 ist definitiv nicht mein alleiniges Adventscredo.
    Es ist ein kleiner Ausschnitt, für eine sehr kirchenferne Zuhörerschaft, in einem eigenen Verkündigungsformat. Er ist nicht *das*, aber auch nicht *mein* ganzes Evangelium.
    Aber zur Grundaussage steh ich: Es gibt Zeiten, da muss zu allem was man schon tut (und betet) nicht noch ein Schüppchen oben drauf.
    Oder, wie es in einem Liebesgedicht von Reiner Kunze heißt (das ich grad nicht so schnell finde und deswegen nicht richtig zitieren kann), in dem er sich an ein Du wendet, das sich entschuldigt, nach viel zu viel Arbeit abends nur kurz schreiben zu können: "Schlaf mir einen brief."

    P.S.
    Ich bin keine Mit-Initiatorin der #twomplet: Das ist der Ehre zuviel. Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um die Idee von @_DerHeidi_ , als sie grad entstand, sehr freudig zu begrüßen. Und um eher zufällig (aber sehr sehr gerne!) die erste zu leiten. Leider passt die #twomplet nur ganz selten mal in mein normales Abendprogramm: Um 21:00 Uhr bin ich normalerweise nicht bei Twitter. Aber ich bin und bleibe große Sympathisantin und bin sehr dankbar, dass es sie weiterhin gibt.

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