Über sechs Jahre ist es mittlerweile her, dass ich meinen Artikel "Kirche wozu? Oder: Lagerdenken gibt's nur bei den anderen!" mit den Worten "Fortsetzung folgt!" beendete und ihn folgerichtig mit dem Titelzusatz "Teil 1" versah. Dass ich die Ankündigung einer Fortsetzung all die Jahre nicht wahr gemacht habe, jetzt aber doch, hat sehr wesentlich damit zu tun, dass ich gegen Ende des ersten Teils auf einen "skizzenhaften Essay über verschiedene Fraktionen innerhalb der Kirche, so wie ich sie wahrnahm", zu sprechen gekommen war, den ich während meiner "erste[n] Fundi-Phase" im Alter von ca. 14-16 Jahren "in mein Tagebuch kritzelte"; und zu diesem Essay hatte ich angemerkt: "Ich hoffe, ich finde den Text mal wieder". Tja – und erst im vergangenen Frühjahr, im Zuge der großen Aufräumaktion in unserer Wohnung, hat diese Hoffnung sich erfüllt.
Ehe wir uns nun aber diesem historischen Dokument aus dem Jahre 1992 zuwenden, sollten wir wohl erst einmal rekapitulieren, warum und wozu ich diesen Text – soweit ich mich an ihn erinnern konnte – in meinem Blogartikel von 2019 eigentlich erwähnt habe. Nun, der Kontext ist der, dass ich mich gegen eine allzu simplizistische Wahrnehmung bzw. Darstellung innerkirchlicher "Lager" positioniere; genauer gesagt gegen die Auffassung, alle möglichen Strömungen, die mit dem im institutionellen Apparat der Kirche vorherrschenden liberal-relativistischen Mainstream im Konflikt liegen, ließen sich unter dem Begriff "konservativ" zusammenfassen. Das ist natürlich ein Thema, das mich auf meinem Blog immer wieder beschäftigt, so schon in "Let's talk about Reformverhinderung" (2015) und dann wieder in "Auf einer Skala von Bischof Oster bis Maria 1.0" (2023); und natürlich geht es mir da auch um eine persönliche Positionsbestimmung, denn wie ich in Teil 1 von "Kirche wozu?" schrieb, "betrachte ich das Etikett 'konservativ" [...] als einen Schuh, der mir nicht passt", und dies "nicht so sehr aufgrund bestimmter Begriffsdefinitionen [...], sondern vor allem aufgrund bestimmter assoziativer Vorstellungen, die sich nicht-nur-aber-auch für mich an diese Bezeichnung knüpfen". Wenn es indes nur um das Thema "Warum ich mich nicht gern als 'konservativ' bezeichne bzw. bezeichnen lasse" ginge, wäre es wohl kaum der Mühe wert, darüber so viele Worte zu machen. Der eigentlich interessantere und jedenfalls wichtigere Aspekt des Themas ist die Beobachtung bzw. These, dass das Bemühen um eine geistliche Erneuerung der Kirche von den Wurzeln her – was eine mögliche Übersetzung des Begriffs "radikal" wäre – nicht allein den besagten liberal-relativistischen Mainstream gegen sich hat, sondern auch bestimmte Ausprägungen eines konservativen Katholizismus. Wobei es da in letzter Konsequenz vielleicht gar nicht so sehr um konservative Überzeugungen geht, sondern weit mehr um ein konservatives Gemüt – etwa in dem Sinne, wie Dietrich von Hildebrand es beschreibt, nämlich als "Menschen, die an dem Bekannten, Gewohnten hängen, noch unabhängig von seinem spezifischen Gehalt":
"Etwas ist ihnen lieb und vertraut, weil sie daran gewöhnt sind, weil es den selbstverständlichen Rahmen für ihr Leben abgibt. Alles Neue, Ungewohnte erschreckt sie und erfüllt sie mit Verdacht – eben weil es ihnen ungewohnt ist."
Dass ein solches konservatives Gemüt heute, sechs Jahrzehnte nach dem II. Vatikanischen Konzil, nicht zwangsläufig mit Standpunkten einhergeht, die im innerkirchlichen Diskurs als "konservativ" gelten, ist ein Aspekt, über den auch noch zu reden sein wird; aber bleiben wir erst mal noch bei denjenigen Glaubensgeschwistern, bei denen es das doch tut. Dass die Auseinandersetzung mit dieser Fraktion innerhalb der Kirche ein Thema ist, das mich immer wieder beschäftigt, hat sicherlich zu einem guten Teil auch mit persönlichen Erfahrungen zu tun. Während meiner aktiven Zeit in der Tegeler Pfarrei las ich das Buch "Stark wie das Leben" von Francine Rivers – und notierte dazu die bezeichnende Kritik, die Autorin zeige "für meinen Geschmack erheblich zu viel Sympathie für die Fraktion der alten Säcke, die sich aus Prinzip gegen jede Art von Veränderung sträuben":
"Deren Verhalten ist schließlich offenkundig widersinnig: Sie sehen zwar, dass es in ihrer Gemeinde nicht so weitergehen kann wie bisher – genau deswegen engagieren sie ja den neuen Pastor –, aber gleichzeitig wollen sie, dass alles so bleibt, wie es schon immer war."
Ich räumte ein, möglicherweise reagierte ich "nicht zuletzt deshalb so allergisch darauf, weil solche Leute mir bei der Basisarbeit zu Hause in Tegel mehr zu schaffen machen als irgendwelche 'progressiven' Kryptohäretiker". Was man wohl als eine Art déja-vû betrachten kann, denn in meiner "ersten Fundi-Phase" ging's mir schon genauso; weshalb es nur folgerichtig ist, dass ich den soeben zitierten Betrachtungen noch hinzufügte, "dass ich meinen angefangenen Lang-Essay zum Thema 'Lagerdenken in der Kirche' mal weiterschreiben muss" – wozu ich dann aber doch nicht gekommen bin, bis jetzt.
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– Übrigens: Auch ein Grund, weshalb es Zeit wird, dass ich den besagten Text aus meinem alten Tagebuch hier dokumentiere, ist, dass im Originalmanuskript die Tinte schon ziemlich verblasst ist und bald ganz unlesbar werden könnte. Das betrifft natürlich viele andere interessante Tagebucheinträge aus dieser Zeit auch; eventuell wäre da also mal eine Artikelserie "Dokumente meiner ersten Fundi-Phase" angezeigt.
– Veranlasst wird der betreffende Tagebucheintrag vom 16.07.1992 durch den Besuch einer Vortrags- und Diskussionsveranstaltung im "Rat-Schinke-Haus" in Burhave; dort fanden damals in der Sommerferiensaison regelmäßig ökumenische Gesprächsabende statt, veranstaltet von den beiden örtlichen Kirchengemeinden; und im vorliegenden Fall hielt dort eine Psychologin, die für eine Beratungsstelle der evangelischen Kirche arbeitete, einen Vortrag zum Thema "Trennung – eine Grunderfahrung menschlichen Lebens". Eigentlich ist es schade, dass man aus meinem Tagebucheintrag nicht viel über den Inhalt des Vortrags erfährt – genauer gesagt: nicht viel mehr als dass ich ihn doof fand. Immerhin lässt sich aus meinen Notizen erschließen, dass es mich ärgerte, dass die Referentin "psychologisch, sozialpädagogisch und was noch alles", aber kaum religiös argumentierte – wenn man davon absieht, dass sie in ihren Vortrag "hier und da [...] ein paar Bibelzitate einfließen ließ, allerdings total zusammenhangslos". Als meine Schwester der Referentin auf den Kopf zusagte, ihre Anschauungen seien in "manchen Teilen schon nicht mehr christlich zu nennen", entgegnete diese "Ich bezeichne mich aber als Christ" und versuchte dies mit dem Hinweis zu untermauern, "andernfalls würde sie nicht mit Bibelzitaten argumentiert haben" – was ich schon damals als "extrem billig" bewertete.
Ein anderer interessanter Teilnehmer der Diskussion war Kai-Uwe Schroeter, der in jenem Jahr die vom Geistlichen Rüstzentrum Krelingen ausgerichtete "Strandmission" in meinem Heimatdorf leitete und später (von 2004-2007) Leiter des GRZ wurde; heute ist er Pfarrer in Dortmund. Bezüglich der alten Damen aus der örtlichen katholischen Gemeinde hielt ich die Beobachtung fest, dass sie einerseits übertrieben respektvoll gegenüber der Referentin wirkten, andererseits aber inhaltlich wenig interessiert an dem Vortrag schienen: So notierte ich, meine Oma sei "zwischendurch schon mehrfach eingeschlafen", und als zwischen Vortrag und Diskussion eine Pause entstand, weil zunächst niemand etwas zu sagen wusste, nutzte meine Tante Gertrud diese Gelegenheit, "um einigen Bekannten von ihrer wenige Monate alten Enkelin [...] zu erzählen". – "Schließlich stellten einige Zuhörer der Psychologin Fragen, aber nicht zum Thema, sondern zu ihrer Beratungsarbeit im Allgemeinen", und "Oma meinte, es sei ja eine 'große Ehre', dass die Frau in unseren kleinen Ort kam! Ich persönlich fühlte mich nicht so unheimlich geehrt."
Insgesamt bot mir die Personenkonstellation bei dieser Veranstaltung somit reichlich Anschauungsmaterial "für die Konsolidierung meiner Theorie über die verschiedenen Arten von Christen oder solchen, die sich dafür hielten", wie ich es seinerzeit formulierte. Ich schicke gleich voraus, dass mir Manches an diesem Text heute peinlich ist, aber zu meiner Verteidigung möchte ich vorbringen, dass ich gerade mal 16 war, als ich das schrieb. Wie dem auch sei, ich werde diesen Text hier jetzt nicht in einem Stück und unkommentiert folgen lassen, andererseits aber auch nichts Wesentliches weglassen.
Ausgangspunkt meiner "Theorie" über verschiedene Fraktionen bzw. Richtungen innerhalb der Kirche – von der ich allerdings eingestandenermaßen selbst "bezweifelte", dass sie "schon für eine Doktorarbeit reichte", waren Beobachtungen über eine Gruppe, die ich die "Alteingesessenen" nannte – wobei ich vorrangig die alten Schlesierinnen in der Gemeinde meines Heimatdorfes vor Augen hatte, von denen ich viele von Kindheit an "Tante" zu nennen gewohnt war, ohne genau zu wissen, ob und wie ich tatsächlich mit ihnen verwandt war. "Hier in der Provinz", so theoretisierte ich, bildete diese Gruppe "vermutlich zumindest unter den 'Aktiven' die Mehrheit", wohingegen sie "in städtischen Gebieten höchstwahrscheinlich vom Aussterben bedroht" sei; das sei "auch kein Wunder, denn die Alteingesessenen waren ein Überbleibsel aus dem Mittelalter." Mit dieser unfreundlichen Einschätzung meinte ich, dass sie einer Glaubensauffassung anhingen, die "[d]amals" – also im Mittelalter – "alle Menschen außer den Intellektuellen und den Herrschenden" geteilt hätten. Nun ja: Was man mit 16 Jahren so alles zu wissen glaubt... Als "Kennzeichen der Alteingesessenen" führte ich an:
"Sie gingen regelmäßig wie selbstverständlich zur Kirche, stellten ihren Glauben in keiner Weise in Frage, dachten aber auch nicht darüber nach. Zum jeweiligen Gemeindepfarrer sahen sie auf wie zu einem König, und weil sie ihren Glauben nicht anhand der Bibel oder durch kritische Überprüfung 'korrigierten', schlichen sich bei ihnen Fehlentwicklungen ein (Aberglauben, usw.). Außerdem legten die Alteingesessenen viel Wert auf Äußerlichkeiten. Sie machten gern Wallfahrten, stellten Kerzen vor der Muttergottesstatue auf und ähnliches."
Als bemerkenswert darf man es wohl bezeichnen, dass ich in diesem Zusammenhang das Rosenkranzgebet nicht erwähnte – was, wie mir scheint, Rückschlüsse darauf zulässt, wie wenig ich die Glaubenspraxis der "Alteingesessenen" tatsächlich kannte. Nicht umsonst merkte ich ja schon in meinem Artikel von 2019 an, inzwischen würde ich "über die 'schlesische Oma-Fraktion' sicher milder urteilen", und zwar nicht zuletzt deshalb, "weil ich bestimmte traditionell katholische Frömmigkeitsformen, die mir damals suspekt waren [...], inzwischen schätzen, ja lieben gelernt habe"; und warum waren sie mir "damals suspekt"? Primär deshalb, "weil man mich in meiner Kindheit und Jugend nicht an sie 'herangeführt' hatte". Dass ich "mitreißende Begeisterung für Christus eher in evangelikalen Kreisen kennengelernt hatte", spielte natürlich auch eine Rolle, aber dazu ein andermal. – Der Hang zu einer "teenagertypischen Arroganz", den ich meinem 16-jährigen Ich schon aus der Rückschau des Jahres 2019 attestierte, äußerte sich auch und nicht zuletzt in der Einschätzung, die "Art von Glauben", die ich an den sogenannten "Alteingesessenen" wahrnahm, sei "schon seit Jahrhunderten überholt": Da würde ich aus heutiger Sicht ja erst mal fragen, was dieses "überholt" in diesem Zusammenhang eigentlich bedeuten soll. Dass diese Art des Glaubens keine gesellschaftliche Relevanz mehr hat, nicht mehr kulturprägend ist, nur mehr in geschlossenen Milieus (die es aber kaum noch gibt) überlebensfähig ist? Nun gut, das wäre immerhin diskutabel. Weiter theoretisierte ich, "[u]nter dem Einfluss der Aufklärung" hätten sich unter derjenigen Christen, "die nicht gleich Atheisten wurden" zwei Richtungen entwickelt", die ich als die liberale und die radikale Richtung bezeichnete. Und da wird's nun erst richtig interessant. Dass Erweckungsbewegungen, die eine "radikalere" Form des Christseins propagieren, ebenso eine Reaktion auf die Erschütterung hergebrachter Glaubensgewiss- und -gewohnheiten durch die Aufklärung darstellen wie der theologische Liberalismus, ist eine These, die ich auch heute noch dort vertreten würde, aber ehrlich gesagt bin ich überrascht, dass ich das schon mit 16 Jahren so gesehen habe. Auffallend abwesend in meinen damaligen Betrachtungen ist derweil die Berücksichtigung konfessioneller Unterschiede. Aus der Rückschau scheint es mir recht offensichtlich, dass meine damalige Vorstellung von "radikalem" Christsein, so unscharf sie in diesem Tagebucheintrag von 1992 auch bleibt, wesentlich von Erfahrungen geprägt ist, die ich im evangelikalen Milieu gemacht habe; die Frage, ob es etwas Vergleichbares auch innerhalb der katholischen Kirche gebe (und wenn ja wo, und wenn nein warum nicht), scheint mich aber nicht sonderlich beschäftigt oder gar beunruhigt zu haben. Aus heutiger Sicht würde ich ja zu der Auffassung neigen, beide von mir benannten Strömungen seien zunächst vorrangig Phänomene innerhalb des Protestantismus gewesen, während in der katholischen Kirche das "vor-aufklärerische" Modell von Glaubensverständnis und –praxis, das ich als kennzeichnend für die sogenannten "Alteingesessenen" wahrnahm, sehr viel länger, in manchen Milieus bis ins 20. Jh. hinein, konserviert wurde. Und man könnte darüber hinaus die These wagen, dass in den gegenwärtigen Richtungskämpfen innerhalb der katholischen Kirche Prozesse am Werk sind, die der Spaltung zwischen liberalem und evangelikalem Protestantismus prinzipiell ähneln.
Dieser Hypothese mag man widersprechen, und erst recht mag es darüber, was daraus denn nun konkret für Schlüsse zu ziehen seien, sehr unterschiedliche Auffassungen geben; auf jeden Fall aber scheint sie mir ein geeigneter Ansatzpunkt, um die Aussage aus meinem Artikel von 2019 zu vertiefen und zu differenzieren, meine im Tagebucheintrag von 1992 eher kenntnisarm und übertrieben polemisch hingeklatschte Kritik an den "Alteingesessenen", deren religiöse Auffassungen und Praktiken ich damals "als ebenso im Widerspruch zu meinen Vorstellungen von 'radikalem Christsein' stehend betrachtete wie den verweltlichten Moralismus der 'Liberalen'", sei trotz allem "nicht gänzlich falsch" gewesen. Gegenüber der "Großen Scheidung" zwischen einem liberalen Katholizismus, der sich vom liberalen Protestantismus kaum wesentlich unterscheidet, und einem, wenn man denn so will, "evangelikalen Katholizismus" (der sich allerdings in mancherlei Hinsicht deutlich vom evangelikalen Protestantismus unterscheiden müsste) ist eine nur konservative, auf das Festhalten am Gewohnten und Vertrauten konzentrierte Haltung unfruchtbar, kontraproduktiv, eine Sackgasse. (Dazu eine Nebenbemerkung: Wie sehr auch die in die Jahre gekommenen Liberalen an dem festhalten, was für sie das Gewohnte und Vertraute ist, kann man landauf, landab bei der Gestaltung von Familiengottesdiensten und Erstkommunionfeiern beobachten. Da sollte eigentlich jedem klar werden, dass eine in diesem Sinne konservative Haltung kein Wert an sich ist.) – Ich rede hier übrigens nicht von der Traditionalistischen Bewegung. Die ist gerade nicht in dem hier gemeinten Sinne konservativ; denn wie jeder, der seit Summorum pontificum (2007) mal eine Heilige Messe in der außerordentlichen Form des Römischen Ritus besucht hat, bestätigen kann, wird diese Bewegung sehr wesentlich von Menschen getragen, die offensichtlich zu jung sind, um die Zeit vor der Liturgiereform noch bewusst (oder überhaupt) miterlebt zu haben. Das heißt, für sie ist diese Form des Ritus gerade nicht das Gewohnte und Vertraute, sondern etwas, wofür sie sich bewusst entschieden haben, nicht selten unter Opfern. Probleme mit "Tradis" habe ich erst dann, wenn sie sich allzu exklusiv gebärden, keine anderen Formen neben der ihren dulden wollen, gar die sakramentale Gültigkeit der Heiligen Messe im "nachkonziliaren" Ritus in Zweifel ziehen. Das ist hier aber nicht mein Thema.
Gehen wir daher kurz noch einmal zurück an den Anfang dieses Texts zurück, nämlich dazu, was Dietrich von Hildebrand über Menschen sagt, die einfach vom Gemüt her konservativ sind – was eine generelle Skepsis gegenüber allem Neuen und Ungewohnten einschließt. Man könnte die These wagen, diesen Menschentypus treffe man – auch heute noch, nachdem die schlesischen Omas meiner Kindertage weitestgehend ausgestorben sind – deshalb so vergleichsweise häufig in der Kirche an, weil diese Leute sich in einer Jahrtausende alten, weltumspannenden Institution, die schon durch pure Massenträgheit einigermaßen gefeit vor allzu rapiden und umwälzenden Veränderungen ist, verhältnismäßig wohl und sicher fühlen. Oder zumindest bis vor relativ kurzer Zeit noch gefühlt haben. Folgerichtig reagiert diese Klientel besonders irritiert, wenn neuerdings Regenbogenflaggen an Kirchen gehisst werden und katholische Jugendverbände Kondome verteilen. – Man verstehe mich nicht falsch: Sie haben durchaus Recht damit, dies abzulehnen. Allerdings steht zu befürchten, dass sie genauso vehement auch Dinge ablehnen würden, an denen an und für sich gar nichts verkehrt ist, außer dass sie nicht in ihr vorgefasstes Bild davon passen, wie Kirche zu sein habe.
Nicht unbedingt mit diesem Gemütskonservatismus identisch, aber in seinen Auswirkungen schwer davon zu unterscheiden ist ein Phänomen, für das ich mir vor Jahren mal die Bezeichnung "identitärer Katholizismus" zurechtgelegt habe; man könnte auch von einem "rechten Flügel des Kulturkatholizismus" sprechen, wenn die Einordnung als "rechts" heutzutage nicht so viele problematische Untertöne hätte. Was ich unter der Bezeichnung "identitärer Katholizismus" verstehe, ist eine Haltung, bei der die Kirchenzugehörigkeit, der mehr oder weniger regelmäßige und häufige Gottesdienstbesuch, aber auch die Vorliebe für eine gewisse "hochkirchliche" Ästhetik und als "typisch katholisch" wahrgenommene Frömmigkeitsformen vorrangig die Funktion eines Identitätsmarkers hat und nicht unbedingt etwas mit Glauben zu tun hat. Zugespitzt gesagt, ist der idealtypische "identitäre Katholik" mehr Katholik als Christ, weshalb er auch im Verhältnis zu anderen christlichen Konfessionen mehr auf das Trennende als auf das Verbindende sieht. Noch ein bisschen stärker zugespitzt, könnte man sagen, "identitäre Katholiken" sind Leute, die einen gewissen Stolz darein setzen, wirklich so zu sein, wie Hardcore-Evangelikale sich Katholiken in ihren dumpfesten Vorurteilen vorstellen. Die Bibel lesen und zitieren? Das machen doch nur Protestanten! Persönliche Beziehung zu Jesus Christus? Hör mir bloß auf mit diesem Freikirchler-Gelaber!
Das mag ein bisschen übertrieben dargestellt sein, aber im Prinzip, das wage ich zu behaupten, gibt es solche Leute in fast jeder Pfarrgemeinde; und wenn sie das Klima in der Gemeinde prägen oder zumindest in einem nicht unwesentlichen Maße beeinflussen, ist das für das Anliegen einer echten geistlichen Erneuerung nicht unbedingt weniger schädlich, als wenn ökofeministische, "queersensible", NGL-singende und Robbenbaby-meuchelnde Liberalkatholiken den Ton in der Gemeinde angeben. Gewissermaßen "worst of both worlds" ist es, wenn – wie meine Liebste und ich es in Tegel erlebt haben – eine im Großen und Ganzen "gemütskonservative" Gemeinde von einem tendenziell eher liberalen "Pastoralteam" geleitet wird; zu den Kennzeichen der "Gemütskonservativen" gehört nämlich eine ausgeprägte Autoritätsgläubigkeit, und so führt diese Konstellation dazu, dass sich ein Bonmot Chestertons bewahrheitet: "Die Liberalen machen Fehler und die Konservativen verhindern, dass diese Fehler berichtigt werden."
Kurzum: Mag man mit dem jüngst zum Kirchenlehrer erhobenen John Henry Newman der Auffassung sein, der Liberalismus in der Religion sei ein Übel, das es mit aller Kraft zu bekämpfen gelte, so ist dennoch nicht der Umkehrschluss zulässig, der Konservatismus in der Religion sei unter allen Umständen richtig und gut. Was Dietrich von Hildebrand über das konservative und das progressive Temperament sagte, macht deutlich, dass eine Voreingenommenheit für das Althergebrachte genauso wie die für das Neue "eine völlig illegitime, unsachliche Wirkung" haben kann, wenn sie die "Stellung zur Wahrheit und zu echten Werten beeinflusst":
"Angesichts einer [...] Frage, bei der es allein auf die wahre Antwort ankommt, von 'konservativ' und 'fortschrittlich' zu sprechen, ist nicht nur sinnlos, sondern sogar ausgesprochen dumm. Denn jedes andere Motiv als das der Wahrheit ist ebenso unsachlich, wie wenn jemand ein Bild für schön hält, bloß weil es sein Vetter gemalt hat."
Man mag einwenden, das Christentum sei seinem Wesen nach konservativ, weil es auf ewigen Wahrheiten fußt, ja weil Gott selbst unveränderlich ist. Ebenso könnte man aber auch argumentieren, eine konservative Grundeinstellung stehe im Widerspruch zum Geist des Christentums, dessen Wesen Umkehr sei – das griechische Wort, das das Neue Testament hierfür verwendet, Metanoia, kann auch als Um-denken übersetzt werden, und dazu neigt das konservative Temperament eher nicht. Was also wäre ein Ausweg aus diesem Dilemma? Hören wir noch einmal Chesterton:
"Alles Konservative beruht auf der Vorstellung, dass man, wenn man die Dinge sich selbst überlässt, sie so lässt, wie sie sind. Das tut man aber mitnichten. Überlässt man etwas sich selbst, so überlässt man es einem rasanten Wandel. Überlässt man einen weißen Pfosten sich selbst, wird er bald schwarz sein. Möchte man unbedingt, dass er weiß bleibt, so muss man ihn immer wieder streichen; das heißt, man muss beständig für eine Revolution sorgen."
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