Gesamtzahl der Seitenaufrufe

Freitag, 31. August 2018

Es geht nicht nur um "Wer wusste was wann?"

Vorigen Samstag war ich auf einer Hochzeitsfeier -- einer nicht-kirchlichen, nebenbei bemerkt. Es handelte sich um die Hochzeit der Tochter eines alten Freundes, der seinerseits auch bei meiner Hochzeit zu Gast gewesen ist. Er ist Atheist und Marxist, aber durchaus interessiert an religiösen und kirchenpolitischen Themen, und so haben wir schon oft ausufernde Diskussionen miteinander geführt. So konnte es nicht ausbleiben, dass wir am Rande der Hochzeitsfeier seiner Tochter auch über den aktuellen Missbrauchs- und Vertuschungsskandal in der katholischen Kirche sprachen. Im Zuge dieser Diskussion äußerte ich, gegen die Netzwerke innerhalb der kirchlichen Hierarchie, die sexuelle Missbräuche und deren Vertuschung ermöglichen bzw. begünstigen, könne "der Papst nicht effektiv vorgehen, weil er da selbst zu tief mit drin steckt". 

Diese Aussage sorgte bei meinem Gesprächspartner für hochgezogene Augenbrauen, und ich war mir selbst nicht ganz sicher, ob die Formulierung nicht etwas zu überspitzt gewesen war. 

Am nächsten Morgen las ich die ersten Berichte über das sogenannte "Viganò Testimony", in dem der ehemalige Apostolische Nuntius in den USA und frühere Generalsekretär des Governatorats der Vatikanstadt Carlo Maria Viganò Papst Franziskus vorwirft, mindestens seit 2013 von den Missbrauchsanschuldigungen gegen den emeritierten Erzbischof von Washington, D.C., Theodore E. McCarrick, gewusst zu haben und nicht nur nichts gegen McCarrick unternommen, sondern dessen Einfluss im Vatikan und im US-Episkopat sogar noch gefördert zu haben. 

Bin ich Hellseher? Nö. Ich erwähne meine Äußerung auf der besagten Hochzeitsfeier auch nicht, um mich selbst dafür zu loben, dass ich so schlau oder so wahnsinnig gut informiert bin. Aber diese Anekdote mag vielleicht als Beleg dafür dienen, dass ich ein bisschen was von dem verstehe, worüber ich hier rede. 

Wenn ich mich in dieser Angelegenheit leidlich gut informiert fühle, dann verdanke ich das in erster Linie dem Blog meines Freundes Rod Dreher. Rod berichtet schon seit Ende Juni regelmäßig und ausführlich über den Fall McCarrick -- und daneben auch immer wieder über andere Fälle von systematisch vertuschtem Missbrauch, von "homosexuellen Subkulturen" in Priesterseminaren und dergleichen mehr. Ich lese das nicht alles; es ist einfach zu viel und zum Teil obendrein emotional ziemlich belastend. Aber aus dem, was ich über den Fall McCarrick gelesen habe, habe ich beispielsweise gelernt: 

  • Wesentliche Teile der Anschuldigungen gegen den Ex-Kardinal - etwa, dass er ein Strandhaus unterhielt, in das er regelmäßig Seminaristen einlud, um sie dann zum Sex zu nötigen - waren schon lange ein offenes Geheimnis. Und mit "lange" meine ich: Rod selbst gibt an, bereits im Zuge seiner Recherchen zum Missbrauchsskandal des Jahres 2002 davon erfahren zu haben. Damals habe aber niemand mit diesen Informationen an die Öffentlichkeit gehen wollen, da McCarrick zu einflussreich und gut vernetzt gewesen sei. 
  • Diverse einflussreiche Figuren in der Kurie und im Episkopat der USA verdanken ihre Karriere zu einem wesentlichen Teil der Protektion McCarricks; insbesondere gilt der 2016 von Papst Franziskus zum Präfekten des neugeschaffenen Dikasteriums für Laien, Familie und Leben und zum Kardinal ernannte Kevin Farrell geradezu als Ziehsohn McCarricks. 

Nachdem ich das gelesen hatte, war mir im Grunde klar, dass ein konsequentes Verfolgen der Spuren von McCarricks Netzwerk - und sei es nur in Form der unvermeidlichen "Wer wusste was wann"-Fragen - früher oder später beim Papst persönlich ankommen musste. Deswegen hat mich das "Viganò Testimony" nicht sonderlich überrascht -- was freilich auch bedeutet, dass die Frage, ob und inwieweit die Angaben, die Erzbischof Viganò in seinem Schreiben macht, en detail bewiesen oder widerlegt werden können, für meine Einschätzung der Gesamtsituation keinen so riesigen Unterschied macht. 

Klingt das schockierend, Leser? Keine Bange, ich erläutere es gleich. 

Hans Holbein d.J. (ca. 1497-1543): Totentanz. (gemeinfrei)

Dass McCarrick, der als Erzbischof von Washington seit 2006 emeritiert war, während des Pontifikats Benedikts XVI. weitgehend marginalisiert war, dann aber unter Papst Franziskus zu mehr Einfluss und Ansehen gelangte als je zuvor: Für diese Information braucht es kein "Viganò Testimony". Das kann man beispielsweise einem bereits 2014 sowohl in der "Washington Post" als auch im ausgeprägt liberal-katholischen "National Catholic Reporter" erschienenen Artikel entnehmen, der dem damals in der Öffentlichkeit noch unbescholtenen McCarrick gegenüber übrigens ausgesprochen wohlwollend ist. Diesem Artikel kann man sogar entnehmen, dass Franziskus mit McCarrick nachgerade befreundet war, und zwar schon lange bevor er Papst wurde. 

Dass Franziskus nie etwas von den Missbrauchsanschuldigungen gegen seinen Freund McCarrick gehört haben sollte, erscheint - völlig unabhängig davon, für wie glaubwürdig oder unglaubwürdig man das "Viganò Testimony" hält - nahezu undenkbar. Was man mit dem größtmöglichen Wohlwollend gegenüber dem Papst gerade noch annehmen könnte, wäre: 

Er hat von den Anschuldigungen gewusst, hat ihnen aber keinen Glauben geschenkt. 

Das wäre, wie wir heute wissen, ein schwerer Fehler gewesen, aber doch ein menschlicher und entschuldbarer. Die Erfahrung zeigt, dass Sexualstraftäter - auch solche, deren Taten man als ausgesprochen monströs bezeichnen muss - nicht selten Menschen sind, denen selbst ihr engstes Umfeld, und gerade dieses, solche Taten niemals zutrauen würde. Vielleicht war Franziskus gerade infolge seiner persönlichen Freundschaft zu McCarrick voreingenommen, war so überzeugt davon, dass der emeritierte Erzbischof von Washington ein "Guter" sei, dass er alle Vorwürfe gegen ihn nur für Verleumdung halten konnte. 

Das Problem ist, der Papst verhält sich in dieser Angelegenheit nicht wie jemand, der sich eines Fehlers bewusst ist und ihn nach Möglichkeit wiedergutmachen will. Er hat zwar disziplinarische Sanktionen über McCarrick verhängt, ihn aus dem Kardinalsstand entlassen, aber an einer weitergehenden Aufklärung, auch hinsichtlich des Netzwerks an Mitwissern und eventuellen Mittätern, mit dem der Ex-Kardinal sich über Jahrzehnte umgeben hatte, scheint er nicht interessiert. Eher im Gegenteil. Nur ein paar Beispiele: McCarricks Nachfolger in Washington, Donald Kardinal Wuerl, steht im dringenden Verdacht, seinen Vorgänger jahrelang gedeckt zu haben und ihn auch jetzt noch vor der Presse zu schützen; damit nicht genug, wird ihm auch aus seiner Zeit als Bischof von Pittsburgh (1988-2006) die Vertuschung diverser Missbrauchsfälle vorgeworfen. Kardinal Wuerl hat aus Altersgründen bereits 2015 beim Papst seinen Rücktritt eingereicht, aber der hält selbst jetzt noch an ihm fest. Und den mutmaßlich auf Empfehlung McCarricks zum Erzbischof von Newark (einer seiner früheren Diözesen) und nur wenig später zum Kardinal ernannten Joseph Tobin, der sich zudem durch einen offenbar als Privatnachricht gedachten, aber versehentlich öffentlich gesendeten Tweet zweideutigen Inhalts kompromittiert hat, hat Papst Franziskus gerade erst für die kommende Jugendsynode nachnominiert

Derweil reißen sich die eingefleischten Anhänger des Papstes eineinhalb Beine und ein Auge aus, um seine Kritiker zu diskreditieren, anstatt sich mal inhaltlich mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen. Ich sag mal: Das sieht alles nicht sehr vertrauenerweckend aus... 


1 Kommentar:

  1. Viganos Rücktrittsforderungen werden von Franziskus-Gegnern verwendet, um den Papst rundum zu diskreditieren, während von Franziskus-Jünger (so darf man nicht wenige seiner Apologeten wohl nennen) sie nur als Beweis für die homophobe, reaktionäre Agenda der anderen Seite gewertet.
    Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Mittlerweile habe ich wirklich den Eindruck, dass ein Schisma so kaum noch zu vermeiden ist. Jedenfalls habe in meinen viereinhalb Lebensjahrzehnten die Sollruchstellen in der Kirche noch nie so deutlich gesehen und empfunden wie jetzt.

    Ich persönlich finde die Äußerungen des Papstes zum Missbrauch übrigens auch enttäuschend unscharf. Und dass er jetzt das ganze Kirchenvolk zur „Bußübung des Gebets und des Fastens“ aufruft, ist sogar extrem ärgerlich. „Er weckt unser Gewissen, unsere Solidarität und unseren Einsatz für eine Kultur des Schutzes und des ‚Nie wieder‘ gegenüber jeder Art und jeder Form von Missbrauch.“ „Unser“ Gewissen? Wird da das ganze Gottesvolk zur Buße für die Sünden jener herangezogen, die als kirchliche Amtsträger mehr als jeder andere dafür sorgen müssten, dass Gottes Gebote eingehalten werden? Nein danke.

    Darf ich zu Ihrem – insgesamt wie immer sehr guten – Text eines anmerken? Rod Dreher als Gewährsmann finde ich problematisch, wie immer, wenn Sie ihn zitieren. Ich bezweifle nicht, dass er gut informiert ist, und dass das meiste von dem, was er auf seinem Blog schreibt, Hand und Fuß hat. Aber es handelt sich hier – ebenso wie bei Leuten wie Damon Linker – um Konvertiten, die dann, wenn ihnen etwas in der Kirche nicht passt, rasch wieder austreten, um dann von außen als „ehemalige Katholiken“ weiter eine Art Insider-Kritik zu üben. Das ist aus meiner Sicht unredlich - in England nennt man so etwas "cakeism". Nur mal so als Marginalie.

    AntwortenLöschen