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Donnerstag, 7. Juli 2016

Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 8

Ich hatte es bereits angekündigt: Während der geneigte Leser von Dr. A. Rodes seinerzeit enormes Aufsehen erregt habendem Kolportageroman "Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau" nach mittlerweile acht Lieferungen und fast 400 Seiten immer noch vergeblich darauf wartet, dass es in der Handlung des Romans endlich einmal um jenen zeitgenössischen Skandal geht, auf den sich sein Titel bezieht, präsentiert der Autor zu Beginn des XXXIII. Kapitels, "Die Zigeuner", ein Szenario, das auf den ersten Blick keinerlei Zusammenhang mit der bisherigen Romanhandlung erkennen lässt. Dr. Rode führt den staunenden Leser in ein Zigeunerlager in der Nähe von Kiew; die Zigeuner beraten darüber, in der Nacht in die Stadt einzudringen und das Haus des jüdischen Händlers Isaak Gerson auszurauben. Die kleine Schar, die zu dieser Tat ausgesandt wird, stiehlt im Haus des Juden nicht nur allerlei Wertsachen, sondern - im speziellen Auftrag der "Mutter" der ganzen Sippe, eines alten Weibes namens Zarak - auch ein achtjähriges Mädchen. 

Hier greift der Autor einen in der Popularliteratur seiner Zeit ausgesprochen verbreiteten Topos auf. - Es bedarf wohl kaum einer besonderen Erwähnung, dass der Begriff "Zigeuner" als Fremdbezeichnung für die Roma, die, ursprünglich vom indischen Subkontinent stammend, seit dem Spätmittelalter nach Mitteleuropa einwanderten, heutzutage wegen seiner rassistisch diffamierenden Konnotationen als diskreditiert gilt. Umso mehr ist zu betonen, dass der Typus des "Zigeuners" in Kunst und Literatur von jeher erheblich mehr einem festen Fundus von Stereotypen verpflichtet ist als einer "realistisch" sein wollenden Darstellung der Roma. Im Jahr 1989 legte Petra-Gabriele Briel unter dem Titel "Lumpenkind und Traumprinzessin" eine Studie zur "Sozialgestalt der Zigeuner in der Kinder- und Jugendliteratur" vor; darin heißt es auf S. 29, die europäische Literatur sei 
"in einem unverhältnismäßig starken Maße von dem Thema Zigeuner geprägt [...]. Als Gegenstand bürgerlicher Sehnsüchte und bürgerlicher Verachtung sind die Zigeuner in der Literatur oft genug Prototypen des europäischen 'Wilden'." 
Trotz der von Briel betonten großen Repräsentanz der "Zigeuner" in der deutschen Literatur beschränken sich wissenschaftliche Studien zu diesem Motiv meist auf eine schmale Auswahl von Texten der "hohen" Literatur wie Goethes Götz von Berlichingen (drei Fassungen 1771-1804), Arnims Isabella von Egypten (1812) und Mörikes Maler Nolten (1832); Briels Studie konzentriert sich auf Texte der Kinder- und Jugendliteratur wie Ottilie Wildermuths Das braune Lenchen (1859), Tony Schumachers Komteßchen und Zigeunerkind (1915) und Halvar Flodens Das Mädchen von der Landstraße (1950). Die Darstellung der "Zigeuner" in den Werken Karl Mays hat Eckehard Koch 1989 in seinem Essay "Der Gitano ist ein gehetzter Hund" untersucht; davon abgesehen blieb die populäre Literatur des späten 19. Jhs. in der literaturwissenschaftlichen Untersuchung des "Zigeuner"-Motivs bislang weitgehend unberücksichtigt. Da ich in meiner Untersuchung von A. Rodes "Barbara Ubryk"-Roman schon wiederholt auf die "Historisch-politischen Romane aus der Gegenwart" von Sir John Retcliffe alias Hermann Goedsche verwiesen habe, sei an dieser Stelle erwähnt, dass in Retcliffes zwölfbändigem Romanzyklus Villafranca (1862-66) ein ungarisches Zigeunermädchen namens Tunsa, später Feodora genannt, eine bedeutende Rolle spielt. 

Das Motiv des Kinderraubs oder der Kindsvertauschung, dessen sich Dr. Rode im XXXIII. Kapitel seines "Barbara Ubryk"-Romans bedient, zählte seinerzeit zu den gängigsten Stereotypen des literarischen Zigeunerbildes; als prototypisch kann man hier wohl Cervantes' Novelle La Gitanilla (1613) und Victor Hugos Roman Der Glöckner von Notre-Dame (1831) betrachten, deren jeweilige weibliche Hauptfiguren, vermeintlich "schöne Zigeunerinnen", in Wirklichkeit gar keine Zigeunerinnen sind, sondern als Kleinkinder geraubt bzw. vertauscht wurden. Auch in Karl Mays Fortsetzungsromanen Scepter und Hammer/Die Juweleninsel (1879-82), Waldröschen (1882-84) und Der Weg zum Glück (1886-88) werden mehrere Fälle von Kindsvertauschungen durch Zigeuner geschildert; und auch die Gartenlauben-Autorin E. Marlitt (1825-1887), über die ich promoviert habe, spielt in mehreren ihrer Romane und Erzählungen auf dieses Motiv an. Das Klischee des Kinder raubenden Zigeuners blieb derweil keinesfalls auf die Welt der Literatur beschränkt: Pierers Universal-Conversations-Lexikon aus dem Jahr 1879 betont, den Zigeunern werde "beharrlich nachgesagt, daß sie fremde Kinder stehlen, während sie ihre eigenen Kinder ohne Weiteres verhandeln, wenn ein gutes Stück Geld dabei zu verdienen ist". 

Wie sich die Zigeuner-Episode des Ubryk-Romans in die bisherige Handlung einfügt, mag der aufmerksame Leser bereits ahnen; die Ahnung bestätigt sich, als am nächsten Morgen Isaak Gerson und seine Frau Sarah den Einbruchsdiebstahl entdecken: Das geraubte Kind ist niemand anders als die Tochter der Gräfin Satorin, die Sarah Gerson vor Jahren gegen den Willen ihres Mannes dem fahrenden Händler Aaron Königsberger abgekauft hat, der das Kind, das Jaromir Ubryk in der Schenke vergessen hatte, mit sich genommen hatte. Sarah Gerson hat dem Mädchen den Namen Judith gegeben. -- Somit kommt also endlich doch noch Bewegung in die Kindsvertauschungshandlung, die in letzter Zeit auffallend brach gelegen und insgesamt wie ein rudimentärer Fremdkörper im Romangefüge gewirkt hatte. Davon abgesehen zeichnet sich das XXXIII. Kapitel durch massiven Antisemitismus aus: Waren schon zuvor die jüdischen Romanfiguren Isaak Warschauer (Kap. XV, S. 153f.) und Jeitteles (Kap. XXIV, S. 252ff.) durch eine vertrottelt wirkende Geschwätzigkeit sowie eine eigentümliche Mischung aus Feigheit und Verschlagenheit charakterisiert worden, so werden ebendiese Eigenschaften anlässlich eines Streits zwischen Gerson und seinem Nachbarn Mauschel (!) seitenlang ausgebreitet. Das soll offenbar witzig wirken; dass es darüber hinaus aber auch offen antisemitisch gemeint ist, verrät eine Passage, in der der Autor die Juden als "im Grunde genommen [...] nichts anderes als höhere Zigeuner" bezeichnet: 
"Wie diese haben sie kein Vaterland, und wenn sie sich auch seßhaft gemacht, so betrachten sie die Länder ihrer Niederlassung nur als provisorische Heimat und erwarten bei jedem Donnerwetter den ersehnten Messias, der sie ins gelobte Land zurückführen soll. Wie diese treiben sie nur freie Gewerbe, sie flicken zwar nicht Kessel und deuten nicht das Schicksal aus den Linien der Hand, dafür machen sie aber Löcher in die Börsen und verstehen gewisse Linien auf Wechseln und Schuldscheinen vorzüglich auszulegen" (S. 391). 
Auch hierin ist Dr. Rode ales Andere als originell: Zwischen der Diskriminierung der Juden und derjenigen der "Zigeuner" bestehen weit in die Geschichte zurückreichende Zusammenhänge und Parallelen. So stellt Daniel Strauß in seinem Essay "Antiziganismus in der deutschsprachigen Gesellschaft und Literatur" (in: Susan Tebbutt [Hg.], Sinti und Roma in der deutschsprachigen Gesellschaft und Literatur. Frankfurt a.M. u.a. 2001, S. 101-110) fest: 
"Das Stereotyp des 'ewigen', wandernden Juden findet seine Entsprechung im Bild vom angeblich angeborenen Wandertrieb des Zigeuners; die haarsträubenden Beschuldigungen von Kinderraub und Kinderschändung werden gegen beide Minderheiten erhoben; der Vorwurf des Gottesmordes hier, hat dort sein Gegenstück in der Legende von der verweigerten herberge der Heiligen Familie durch Zigeuner, der Sage von der Herstellung der Kreuzigungsnägel durch einen Zigeunerschmied und anderen religiösen Geschichten." (S. 342). 
Weitere Parallelen nennt Wilhelm Solms in seiner Studie "Zur Dämonisierung der Juden und Zigeuner im Märchen" (ebenfalls in Tebbutt [Hg.], S. 110-126). -- 

Kapitel XXXIV, "Mutter und Tochter" (S. 397-419), führt die Kindsvertauschungshandlung weiter fort, und während ein Zusammenhang mit der Haupthandlung um Elka und den Jesuiten Rebinsky weiterhin nicht absehbar ist, zeigt sich allmählich, dass dieser Nebenhandlungsstrang durchaus das Zeug zu einer eigenständigen Novelle gehabt hätte, die man beispielsweise Die Zigeunercomtesse hätte nennen können. Die alte Zigeunerin Zarak zieht nämlich allein mit Judith, die sie Yelva nennt, durch die Lande und bringt ihr Tanzen, Tambourinspielen und Wahrsagen bei; im Zuge ihrer Wanderungen kommen sie auch zum Schloss der Gräfin Satorin, Judiths leiblicher Mutter. Zarak liest der Gräfin aus der Hand und erkennt daraus, dass sie ihr Kind weggegeben hat; sie sagt ihr auch voraus, dass sie ihr Kind bald wiedersehen werde, jedoch ahnen beide Frauen nicht, dass Judith bzw. Yelva dieses Kind ist. Die Gräfin fühlt sich allerdings instinktiv zu dem Mädchen hingezogen, und als die alte Zarak plötzlich stirbt, nimmt die Gräfin das Kind als Magd ins Schloss auf. Der Verfasser kommentiert: 
"Welches grausame Spiel trieb hier das Schicksal mit zwei Herzen, die sich suchten, und nicht finden konnten; es führte Mutter und Tochter zusammen, und diese ahnten nicht, wie nahe sie sich standen" (S. 419). 
Davon, dass im Schloss eigentlich auch der mit Judith gleichaltrige angebliche Sohn der Gräfin - in Wirklichkeit Josef Ubryk - leben müsste, ist an dieser Stelle keine Rede, obwohl es doch ein probates Mittel zur Herstellung der poetischen Gerechtigkeit sein könnte, dass der falsche Grafensohn und die echte Grafentochter sich, wenn sie etwas älter geworden sind, ineinander verlieben. Aber vielleicht kommt das ja noch. Indessen ermittelt Jaromir Ubryk gegen die inzwischen im Raum Warschau agierende Zigeunerbande und findet so heraus, dass diese in Kiew das Kind der Gräfin Satorin geraubt hat. Diese Ermittlungen - die die einem anderen Erzählstrang und aller Wahrscheinlichkeit nach auch einer anderen "Schicht" der Romanstruktur angehörende Karriere Jaromirs bei der Warschauer Polizei voraussetzen - machen zwar den Großteil des Kapitels aus, könnten aber dennoch ein späterer Zusatz sein; zumal sie einer eigenständigen Entwicklung der Kindsvertauschungshandlung eher schaden als nützen. Nachdem Ubryk in Erfahrung gebracht hat, dass das vermisste Kind allein mit einer alten Zigeunerin namens Zarak durchs Land zieht, müsste er dies nur der Gräfin mitteilen - mit der er ja durchaus in Kontakt steht -, und schon wäre das Happy End komplett. -- Das mehr als drei Seiten umfassende Verhör des Juden Aaron Königsberger (S. 401-404) entspricht ganz den bisherigen Judendarstellungen des Romans; und in der Personenbeschreibung eines Zigeunermädchens, das Ubryk zunächst fälschlicherweise für Judith hält, fällt der brillante Satz: "Es war ein nettes, sauberes [!] Gesichtchen, freilich ganz von Schmutz überzogen" (S. 408). Auf so etwas muss man erst mal kommen! 

Der Titel des XXXV. Kapitels kündigt "Neue Intriguen" an; nachdem rund zwei Seiten lang Jaromir Ubryks Nachforschungen über den Verbleib der verschwundenen Judith auf den neuesten Stand gebracht werden, wendet sich der Erzähler ab S. 421 erneut seinem Oberschurken Rebinsky zu, der sich nach seiner Rückkehr aus Rom der Aufgabe widmet, seinem Orden auch das Vermögen Elkas in die Hände zu spielen, nachdem dasjenige ihres Halbbruders Wratislaw ihm ja bereits so gut wie sicher ist. Zu diesem Zweck unternimmt Rebinsky zunächst allerlei vorerst erfolglose Versuche, in Erfahrung zu bringen, ob Elkas Ehemann Kasimir Ubryk noch lebt; und schließlich reist er nach Paris, um Elka, die sich zusammen mit ihrem neuen Geliebten Hugo von Rassow dort aufhält, im Auge zu behalten. Dazu demnächst mehr! 


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