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Freitag, 4. September 2020

Der zivilreligiöse Optimismus des Herrn P. (Gastbeitrag)

Gestern früh sah ich auf Twitter, dass ein ungenannter deutscher Erzbischof einen Beitrag aus der berüchtigten Standpunkt-Rubrik von häretisch.de geteilt und zustimmend kommentiert hatte; das ist ja an sich schon beklagenswert genug, aber der betreffende Beitrag trug die Überschrift "Wir können optimistisch auf den Glauben in Deutschland blicken". Nanu, dachte ich, wer stellt denn derart bizarre Behauptungen auf? Dann öffnete ich den Link und stellte fest: Ach so. Andreas Püttmann. Na dann. Dessen Buch "Gesellschaft ohne Gott" steht bei mir im Regal, aber da meine "100-Bücher-Challenge" aus Gründen, auf die ich an anderer Stelle noch eingehen werde, derzeit ruht, wird dieses Buch wohl noch eine Weile darauf warten müssen, von mir gelesen zu werden. Ich hoffe nur, die hier angesprochene "Standpunkt"-Kolumne ist kein Indikator für die Qualität des Buches. Damit meine ich wohlgemerkt nicht nur, dass ich inhaltlich nicht mit Püttmanns Aussagen einverstanden bin - das trifft zwar zu, aber das allein wäre wohl kaum der Rede wert -, sondern vielmehr, dass ich beim Lesen dieses Beitrags den Eindruck hatte, es handle sich um völlig inkohärentes Gebrabbel, das zu veröffentlichen eigentlich einer Bloßstellung des Autors gleichkomme. 

Nun hat sich allerdings mein treuer Leser Imrahil die Mühe gemacht, Püttmanns Text einer gründlichen Analyse und Kritik zu unterziehen, und ich bin der Meinung, diese Replik verdient Aufmerksamkeit. Andere regelmäßige Leser dieses Blogs werden Imrahil als unermüdlichen, durchaus nicht immer mit mir einverstandenen Kommentarverfasser kennen, außerdem hat er hier schon einmal einen Gastbeitrag beigesteuert, was allerdings schon ein paar Jahre her ist. Also dann: Erteilen wir Imrahil das Wort! (Ach nein, eins noch: Die Überschrift stammt von mir -- falls sich jemand darüber beschweren möchte. Ebenso auch der folgende Bildtext:) 

Wer von diesen beiden hat wohl die besseren moralischen Werte?
Wer von diesen beiden hat wohl die besseren moralischen Werte? 
(Julius Schnorr von Carolsfeld, "Pharisäer und Zöllner", 1860; gemeinfrei

Und sodann noch der Hinweis, dass häretisch.de den Titel des Püttmann-Beitrags inzwischen zu "Warum man noch selbstbewusst Christ in Deutschland sein kann" geändert hat. Nicht dass das einen entscheidenden Unterschied macht, aber bezeichnend ist die Änderung irgendwie schon. -- So, nun aber genug der Vorrede; hier nun Imrahils Replik!


* * *


"Wir können optimistisch auf den Glauben in Deutschland blicken", lautet die Überschrift bei einem katholisch.de-Standpunkt von Andreas Püttmann. Wenn man sie so liest, langt man sich ja sicher ans Hirn, aber ist es mehr so die Art: "Was raucht der? Ich will das auch haben."

Tatsächlich bleibt aber von einem derartig erfreulichen Wahnsinn nichts übrig, wenn man ihn nur einmal durchgelesen hat. Warum also können wir optimistisch auf den Glauben in Deutschland blicken? Handelt es sich um die Zuversicht, daß Gott schon alles gut hinausführen wird? Handelt es sich um den geradezu tollkühnen Glaubensmut, mit dem etwa ein Kardinal Lustiger (von Kardinal Marx häufig zitiert) sagt, die Zukunft des Christentums in Europa stecke noch in den Kinderschuhen? Oder ist Püttmann nochmal wieder einer von denen, der zum hundertfünfundfünfzigstenmal prophezeit, es werde jetzt endlich ein Revival kommen und die Menschen werden wieder das Glauben und das religiöse Praktizieren lernen?

Nichts dergleichen. Der Grund für seine derart hoffnungsfrohe Überschrift ist der folgende: "In keinem anderen der acht beteiligten westeuropäischen Länder waren so viele Menschen überzeugt vom Zusammenhang zwischen religiösem Glauben und moralischen Werten wie in Deutschland: 37 Prozent, [...] sogar knapp vor Polen (36%)".

Das also ist es, was zu derart hoffnungsfrohem Optimismus Anlaß gibt: Bei der Frage – bitte genau lesen! - ob zwischen dem religiösen Glauben und moralischen Werten ein Zusammenhang bestehe (!), bei der ziehen wir an den Polen noch um einen Prozentpunkt vorbei. Wow.

Das impliziert zweierlei. Erstens, daß diese Frage nun die ultimativ wichtige wäre, an der sich die Geister schieden. Damit impliziert es aber auch zweitens einen gepflegten Selbstwiderspruch, denn wenn sie so wichtig wäre, dann wurden doch zunächst die 63 % (Polen 64 %) ins Auge fallen, die das nicht so sehen.

Vor allem aber: Es ist schon sehr bezeichnend. Was also ist laut Püttmann die alles entscheidende Frage? Ob der Antwortende der Meinung ist, insgesamt bestehe zwischen dem, daß einer glaubt, und dem, welche "moralische Werte" (entschuldigt den Ausdruck, aber er steht so da – ich hätte fast "wie einer handelt" verbessert) einer hat, ein Zusammenhang. (Ich wiederhole mich, aber ich kann es einfach nicht fassen.) Es geht also nicht darum, ob einer selber glaubt oder ob er findet, die anderen sollten es auch tun (wobei für mich ja das letztere aus dem ersteren folgt, aber das sind wohl die unhinterfragten Vorurteile des Logikers und/oder Fundamentalisten). Es geht nicht einmal darum, ob einer selber gut handeln will. Es geht darum, ob einer meint, daß Leute, wenn sie glauben, eher gut handeln wollen. (Formell steht nicht einmal das da, denn auch wenn die Gläubigen signifikant weniger moralische Werte hätten, wäre das technisch ein "Zusammenhang", aber das lasse sogar ich ihm durchgehen.) Es ist damit nicht einmal gesagt, ob er überhaupt das moralische Wertehaben so toll findet. (Bei Licht betrachtet könnte er ja auch von einer nietzscheanischen "Moral ist was für die vom Gamma-plus abwärts, ich stelle mich der Welt, wie sie, grausam und groß, wirklich ist"-Haltung sein.) Selbst wenn wir das annähmen, sagt er nicht, daß er selber auch nur irgendwie glaubt (er könnte ja auch von einer - Camus'schen? - Haltung à la "ja, ich sehe, daß die dumpfe Masse ihr Gutsein, soweit vorhanden, hauptsächlich aus dem Glauben zieht, soweit vorhanden, ich selber als aufgeklärter Atheist habe diesen Trost leider nicht, sondern muß mich moralisch ohne das durchschlagen und muß trotzdem gut sein" sein). Nö, nichts dergleichen.

Und weil die Minderheit in dieser Frage bei uns etwas größer ist als die Minderheit in anderen Ländern, sogar Polen, deshalb ist also alles super.

Schon sehr bezeichnend das alles, und so deutsch. "Die Reformation kam, weil die Deutschen nicht anders können als fromm sein", soll der hl. Klemens Maria Hofbauer gesagt haben. Die Moral ist den Deutschen eben ziemlich wichtig; nur so kann ich es mir jedenfalls erklären, daß Püttmann meint, wenn nur alle meinen wollten, zum "Werte haben" brauche man Religion, dann würden sie schon auch religiös werden. Wobei: es meinen ja gar nicht alle. 

Zumal er ja selber sagt – wobei: haken wir erstmal das ab:

Die Werte könnten höher sein, wäre die Frage vorsichtiger formuliert.

Wenn er mir jetzt noch verraten könnte, wie man bitte um alles in der Welt noch vorsichtiger als "besteht ein [der kundige Leser ergänzt: irgendwie gearteter] Zusammenhang?" formulieren kann, bekäme er einen Keks. Das ist technisch nicht möglich. Aber dann sagt er (Ende des Einschubs):

Dass Glaube an Gott "notwendig" für Moralität und "gute Werte" ist, kann man auch als Skeptiker gegenüber einer "Gesellschaft ohne Gott" bestreiten. Denn es gibt offenkundig moralisch hoch sensible Nichtgläubige und – Gott sei's geklagt – Fromme mit schlechtem Charakter oder menschenfeindlichen Ideen.

Völlig richtig, auch wenn auch schon wieder bezeichnend ist, erstens, daß er besonders gegen die Letzteren etwas hat und (das soll wohl besonders perfide sein) übrigens nur in diesem Zusammenhang auch das Wort "Fromme" gebraucht. Und obwohl schon sehr aufstößt, daß er unter den bösen Frommen offenkundig die dem anderen politischen Lager Angehörenden versteht, auch dann, wenn die sich z. B. den Kulturkampf, in dem sie sich befinden oder guten Gewissens zu befinden meinen und in dem man halt den Kandidaten des eigenen Lagers wählt und nicht den des gegnerischen, durchaus nicht unbedingt gewünscht haben. Aber ordnen wir diese Püttmannsche Themenabweichung mal richtig ein, d. h. übergehen wir sie bzw. gehen wir auch nur im Rahmen einer Themenabweichung auf sie ein. – Also: ja. Es gibt moralische Ungläubige (gerade dann übrigens, wenn wir nach dem Inhalt der Moral, den konkret zu haltenden Geboten, noch nicht gefragt haben), und zwar übrigens nicht nur "hoch sensible" (die mir zunächst einmal leid tun, vor allem wenn dann genau die ohne Beichte auskommen müssen), sondern auch ganz normale (die wohl die große Masse der Leute ausmachen, denen wir auf der Straße begegnen). Und auch wenn es nicht unbedingt zweckmäßig und ermunternd ist, die Gläubigen immerzu vor dem bösen Gläubigen zu warnen, der bisweilen sogar praktiziereifrig sein kann: geben kann es das und tut es das wohl auch.

Also: eben. Um moralisch zu sein, braucht es den Glauben nicht – das zumindest wäre die Schlußfolgerung des gerne simplifizierenden Lesers. Wenn er übrigens mal einen Gläubigen gefragt hätte, dann hätte der ihm auch gesagt, daß wir die Religion zunächst brauchen, um unsere Sünden loszuwerden, nicht um sie nicht zu begehen. Gerade ein Protestant übrigens, d. h. einer, der noch weiß, was sein Protestantismus heißt, hätte das gesagt. Und erst dann hätte der Katholik (wenn er korrekt und vollständig sein will nicht allzu genervt von seiner eigenen moralischen Aufgabe ist, deswegen nicht an sie erinnert werden will und deshalb hier ungenau ist) angefügt, daß, naja, der Glaube, die Hoffnung aufs Jenseits, die Angst vor Hölle und Fegefeuer, die dankbare Liebe zu Gott dem Vater und Jesus Christus und vor allem die helfende Gnade schon dabei behilflich sind, auch gut zu handeln. D. h. ihm geht es ja ums "Werte haben", d. h. die richtige moralische Einstellung haben, und die, wenn auch noch nicht das Handeln danach, bringt das katholische Dogma ja tatsächlich mehr oder weniger frei Haus mit. Ob Püttmann diese Werte dann für Werte oder nicht doch vielmehr in politisch umstrittenen Einzelfällen für Un-Werte hält, sei einmal dahingestellt.

Aber jedenfalls ist das sekundär: und ich könnte mir vorstellen, daß der Unterschied hier ebenso wie die, denke ich, statistische Erkenntnis, daß im großen und ganzen die Gläubigen tatsächlich in Summe besser auch handeln, im Eifer des Gefechts auch vom Interview-Antwortgeber unterschlagen werden könnte. Daß also ein Pole sagt: "Natürlich kann man auch als Ungläubiger moralisch sein" (was stimmt – daß es keinen Zusammenhang gäbe, stimmt nicht, aber wie genau beantworten Leute ihre Interviews?), "aber ich glaube trotzdem, weil es halt wahr ist". Der fiele dann in das Nein hinein.

Und deswegen, weil das Ja bei uns deutschen Moralisierern größer ist als bei anderen, sogar einen Prozentpunkt mehr als bei Polen – daß eine sekundäre Aussage des katholischen Glaubens, der auch ein Ungläubiger aus allerlei Gründen beistimmen kann, ein Protestant aber nicht und die ein Katholik gerne auch einmal vergißt, bei uns etwas mehr Zustimmung hat als anderswo, aber immer noch nicht die Mehrheit hat – deswegen steht bei uns alles zum besten? Wow.,

– Haken wir der Vollständigkeit halber noch kurz den Rest des Artikels ab.

Korrekter hätte man gefragt: "Unterstützt Glaube an Gott moralisches Denken und Handeln?"

Korrekter, ja, das stimmt sogar. Aber die Frage wäre nicht vorsichtiger, sondern noch einschränkender als die, die tatsächlich gestellt wurde.

Hierfür gibt es empirische Anhaltspunkte aus Umfragen zu Rechtsbewusstsein, Lebensschutz, Leistungs- und Hilfsbereitschaft, politischer Mäßigung und anderen sozialen Tugenden.

Lebensschutz und politische Mäßigung in einem Satz. Wow. Wobei ich mich ja frage, was er denn nun genau mit Lebensschutz meint und wie das mit seiner Kritik an den Hetzern in Washington und Warschau zusammenpaßt.

Die Aussage, dass Gott wichtig im eigenen Leben sei, bejaht in Deutschland gegenüber 1991 stabil (+3%) etwa die Hälfte der Bevölkerung – gegen den Trend (Spanien: -26%, Italien -21%, Polen -14%, Frankreich -12%).

Und hier kommt nun das, was, wenn überhaupt, tatsächlich zu einem sehr gemäßigten Optimismus Anlaß gäbe – aber das ist ihm nur einen Satz wert, den Artikel hingegen baut er auf der (übrigens noch geringeren) Zustimmung zu der Aussage auf, daß es zwischen Glauben und moralischen Werten einen Zusammenhang gebe. Ich wiederhole mich. Ich kann es immer noch nicht fassen.

Es kann also nicht alles an unseren Kirchen und am deutschen Religionsverfassungsrecht so verkehrt sein, wie es von interessierter Seite gern gezeichnet wird. Unter ähnlichen kulturellen Bedingungen sieht es woanders teils erheblich düsterer aus. Die in konservativen Kirchenkreisen lange als vorbildlich gepriesene stärkere Religiosität manch anderen Landes zeigt sich angesichts des Säkularisierungsdrucks und der Anbrandung von Ideologien und Idiotien weniger fundiert und orientierungsstark als gedacht. 

Es erscheint zunächst recht unvermittelt, wie er hier ganz ohne Anlaß auf das Religionsverfassungsrecht zu sprechen kommt. Aber es gibt dafür wohl einen ganz bestimmten, bezeichnenden Grund; die Erwähnung der "Ideologien" zwei Sätze weiter läßt darauf schließen (unter "Ideologie" verstehen manche nämlich einfach, daß Leute von ihrer Meinung tatsächlich auch überzeugt sind; und tatsächlich würde ich, aber das würde zu weit führen, sagen, daß man den Begriff "Ideologie" auch tatsächlich nicht nur im despektierlich-amerikanischen Sinne gebrauchen sollte). Da ergibt sich dann nämlich auf einmal ein Sinn; auch wenn er mir nicht gefällt. "Die deutschen Kirchen und ihr System haben sich doch besser als erwartet darin bewährt, das radioaktive Gefahrengut Religiosität einzudämmen, aber ein bißchen moralische Energie daraus zu gewinnen für das, worum es uns eigentlich geht: das Funktionieren von Staat und Gesellschaft." 

Wow.

Es ist schon sehr bezeichnend. 



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