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Freitag, 9. Dezember 2016

Ausgerechnet Kondome!

Mein Lieblings-Debattengegner auf Twitter hat mal wieder zugeschlagen. Nachdem wir uns nach unserem letzten großen Krach - bei Fortbestand grundsätzlicher inhaltlicher Meinungsverschiedenheiten - auf "zwischenmenschlicher Ebene" gründlich miteinander versöhnt haben, bin ich diesmal gewillt, von vornherein nicht in übertriebenem Maße persönlich zu werden, und ich bin auch optimistisch, dass mir das gelingen wird. Dies umso mehr, als ich annehme, dass mein Kontrahent mit seiner Sicht auf die hier im Folgenden zu verhandelnden Fragen quasi repräsentativ für Viele steht. Wäre dem nicht so, würde es sich ja auch kaum lohnen, die ganze Debatte hier noch einmal aufzurollen. 

Worum also geht's? -- Ich war in den Weiten des Netzes auf einen Artikel des streitbaren Father Dwight Longenecker mit der provokanten Überschrift "11 Reasons Why Progressive Christianity Will Soon Die Out" gestoßen und hatte ihn auf Twitter geteilt. Dass mein erprobter Debattengegner sich dadurch auf den Schlips getreten fühlen würde, war zunächst mal keine Überraschung. Sicher ist die Gegenüberstellung von "historischem" und "progressivem" Christentum, die Father Longenecker in besagtem Artikel vornimmt, idealtypisch vereinfachend, ja vergröbernd - das räumt der Verfasser selbst ein -; im realen Leben wird es eine Vielzahl von Christen geben, die sich selbst mit beiden Füßen auf verschiedenen Seiten dieser Trennlinie sehen oder auch ganz und gar "irgendwo dazwischen" stehen. Dennoch kann man auf der Grundlage der Erfahrungen aus früheren Auseinandersetzungen wohl davon ausgehen, dass die Sympathien meines Gegenübers tendenziell eher auf der "progressiven" Seite liegen. Kein Wunder also, dass Father Longeneckers Thesen ihn zum Widerspruch reizten. Mit einem speziellen (sarkastisch vorgebrachten) Einwand hatte ich hingegen nicht gerechnet: 
"Immer diese Modernisten mit ihren Kondomen! :)" 
Äh... Kondome? Was haben die denn jetzt damit zu tun? Zunächst war ich geneigt, das für einen reinen "Strohmann"-Einwurf zu halten und folglich zu übergehen, aber im weiteren Verlauf der Debatte kam mein Kontrahent noch einmal darauf zurück - also war es ihm wohl ernst. Tatsächlich gibt es in Father Longeneckers Artikel einen Anknüpfungspunkt für dieses Thema: 
"Another aspect [...] is that progressive Christians use artificial contraception". 
Im Gesamtduktus des Texts ist das kaum mehr als eine Fußnote; man könnte es also etwas willkürlich finden, sich in einer Auseinandersetzung über diesen Artikel gerade auf diesen Punkt zu stürzen, aber andererseits: Wäre dieser Aspekt nicht relevant für das Thema des Artikels, wieso stünde er dann da? Gestehen wir also zu, dass es grundsätzlich legitim ist, dieses Detail aufzugreifen. Es mag von nachrangiger Bedeutung sein, aber auch eine nachrangige Bedeutung ist immer noch eine Bedeutung. Gleichwohl würde ich sagen, es macht einen erheblichen Unterschied, ob man sich argumentativ vom Größeren zum Kleineren vorarbeitet oder ob man den umgekehrten Weg einschlägt. Was ich damit meine, werde ich im Folgenden auszuführen versuchen. 

Stellen wir zunächst einmal fest, dass Father Longenecker gar nicht ausdrücklich von Kondomen spricht, sondern allgemein von künstlicher Empfängnisverhütung. Dasselbe gilt übrigens auch für den Katechismus der Katholischen Kirche (Nr. 2370). Nun trifft es zwar zu, dass die ablehnende Haltung des Lehramts der Katholischen Kirche gegenüber künstlicher Empfängnisverhütung sich auch auf den Gebrauch von Kondomen erstreckt; dennoch fällt es auf, dass Kritiker dieser Haltung sich mit Vorliebe ausgerechnet auf das Kondom versteifen (sorry!), und nicht, beispielsweise, auf die Pille. Woran liegt das? -- Ich denke, es gibt mehrere Gründe dafür. Während man die Antibabypille auch aus ganz anderen als "nur" religiösen Gründen kritisch sehen kann, dürfte es - zumindest seit es AIDS gibt und Kampagnen zur HIV-Prävention hierzulande fast ausschließlich in Form von Werbung für den Gebrauch von Kondomen daherkommen - weitgehend common sense sein, dass Kondome eine gute Sache seien. Anderer Meinung sind höchstens noch unverbesserliche Machos, die finden, Verhütung habe Sache der Frau zu sein -- und strenggläubige Katholiken. Will man also die Morallehre der Katholischen Kirche angreifen, dann macht man es sich besonders einfach, wenn man auf das "Kondomverbot" hinweist - weil dieses so absurd wirkt. 

Scherzkondome im Wiener Condomi-Museum; Bildquelle: Wienwiki / Johann Werfring, CC BY-SA 3.0 (Link)

So absurd wirkt es allerdings nur, wenn man den Kontext außer Acht lässt. Der grundlegende lehramtliche Text zum Thema Empfängnisverhütung dürfte - wenngleich es sicher nicht schadet, ergänzend Familiaris Consortio (1981) und die Katechesen des Hl. Johannes Paul II. zur "Theologie des Leibes" zu Rate zu ziehen - nach wie vor die Enzyklika Humanae Vitae (1968!) des Sel. Paul VI. sein. Zugegeben, diese Enzyklika war von Anfang an umstritten, und auch wenn einer päpstlichen Enzyklika disziplinäre Lehrautorität zukommt, kann man über die Stimmigkeit der darin vorgebrachten Argumente durchaus unterschiedlicher Meinung sein - als Nichtkatholik sowieso und erst recht. Aber man könnte diese Argumentation ja zumindest mal zur Kenntnis nehmen. Dann könnte man nämlich feststellen, dass die dort formulierte Ablehnung künstlicher Empfängnisverhütung nicht einfach so in der Luft hängt, sondern stringent aus der katholischen Ehelehre und darüber hinaus aus dem katholischen Geschlechter- und allgemeinen Menschenbild, ja in letzter Instanz aus dem katholischen Verständnis der Schöpfungsordnung hergeleitet ist. Das ist es, was ich meine, wenn ich davon spreche, "argumentativ vom Größeren zum Kleineren fortzuschreiten". Ein wichtiger Punkt in der Argumentationskette ist, dass laut katholischer Lehre der geschlechtliche Verkehr seinen einzig legitimen Platz in der auf Lebenszeit geschlossenen, monogamen Ehe zwischen Mann und Frau hat. Ist das nicht für den modernen Menschen eine viel größere Provokation als die Kondomfrage? Wieso setzt der Widerspruch dann nicht da an? Man könnte es für einen rhetorischen Trick halten, das Kleinere anzugreifen, um sich mit dem Größeren gar nicht erst auseinandersetzen zu müssen. Es liegt jedoch auf der Hand, dass die Verkürzung bzw. Verengung der Debatte um die katholische Sexuallehre auf die Frage "Kondome - ja oder nein?" zu einem völlig verzerrten Bild führt. Als würde außerehelicher Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern moralisch "besser", wenn dabei kein Kondom benutzt wird. Das ist ja nun offenkundig Quatsch.

Nun ist ja oben schon einmal angeklungen, dass die Frage des Kondomgebrauchs nicht allein - und angesichts einer Vielzahl anderer Verhütungsmethoden wohl nicht einmal hauptsächlich - für die Empfängnisverhütung relevant ist, sondern auch und besonders für den Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten einschließlich HIV/AIDS. Auch hier gilt natürlich, dass ein schiefes Bild entsteht, wenn man die ablehnende Haltung des Lehramts zu Kondomen nicht im Zusammenhang mit seiner ablehnenden Haltung zu außerehelichem Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern betrachtet. Hinzu kommt, dass man grundsätzlich zwischen allgemeinen ethischen Normen und ihrer pastoralen Anwendung im konkreten Einzelfall differenzieren muss. Im Einzelfall spielt immer die Intention eine entscheidende Rolle. Wenn etwa ein infizierter Ehepartner zum Kondom greift, um den ehelichen Verkehr fortsetzen zu können, ohne den anderen Ehepartner dem Risiko einer Ansteckung auszusetzen, wird das ethisch anders zu beurteilen sein, als wenn jemand das Kondom als Freifahrtschein für "folgenlosen" Gelegenheits-Sex betrachtet und nutzt.

Aber das nur am Rande. Etwas, was mir an einer weiteren Wortmeldung meines Debattengegners zu dieser Frage besonders auffiel, geht in seinen Konsequenzen im Grunde weit über den konkreten Anlass hinaus.
"[U]nd wenn dein 'authentischer Glaube' bedeutet, dass wer kondome benutzt draußen ist, will ich damit nix zu tun haben[.]" 
Diese - sagen wir mal - "ergebnisorientierte" Beurteilung theologischer Argumentationen illustriert exemplarisch, was dabei herauskommt, wenn man vom Kleineren auf das Größere schließt statt umgekehrt. Denn im Grunde besagt diese Haltung ja: Wenn sich aus einer Glaubenslehre ethische Standpunkte bzw. Forderungen ableiten lassen, die mir nicht gefallen, dann ist sie inakzeptabel. Ob das nun das Thema Empfängnisverhütung betrifft, das Thema Homo-Ehe oder oder oder. Man könnte hier von einem augenfälligen "weltlichen Dogmatismus" sprechen - einem Dogmatismus, der nicht bei fundamentalen Glaubensaussagen ansetzt, sondern bei gesellschaftspolitischen Schlussfolgerungen.

Dieser Ansatz, eine Argumentation von ihrem Ergebnis her zu beurteilen statt von ihren Voraussetzungen her, erscheint mir schon allein unter dem Aspekt formaler Logik fragwürdig; darüber hinaus stellt sich mir - was möglicherweise "typisch katholisch" ist, vielleicht aber auch nicht unbedingt - die Autoritätsfrage: Woher weiß der "Progressive" eigentlich, was das Gute und das Richtige ist, wenn er von vornherein nur solche Begründungen zulässt, die zu dem von ihm favorisierten Ergebnis führen?

Wie die Antwort auf diese Frage lautet, kann ich meinerseits nur vermuten; also vermute ich mal: Er (und damit meine ich, um's nochmal klarzustellen, nicht meinen Debattengegner persönlich, sondern "den Progressiven" als abstrakte Figur) weiß es eben nicht - geht aber davon aus, dass es auch kein Anderer weiß, und fühlt sich daher berechtigt, anzunehmen, was ihm eben anzunehmen beliebt

Und ironischerweise ist just dieser erkenntnistheoretische (und ethische) Subjektivismus einer der Punkte, die Father Longenecker als Ursachen dafür anführt, dass das "progressive" Christentum sich selbst zerlegt:
"It is not long [...] before the individualist and sentimentalist inclinations drive a person from a church that is dogmatic and demanding. Modernists will prefer their own spirituality and emotional experiences to any sort of formal, corporate religious commitment. [...] When this attitude prevails, modernist religion dies because it’s devotees don’t see the point of belonging and believing."


2 Kommentare:

  1. Man sagt über enge Freunde gern "Zwischen die passt kein Blatt Papier". Also kein Zehntel Millimeter.

    Zwischen katholische Eheleute passt kein Kondom. Also keine sechs Hundertstel Millimeter.

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  2. >>Man könnte hier von einem augenfälligen "weltlichen Dogmatismus" sprechen - einem Dogmatismus, der nicht bei fundamentalen Glaubensaussagen ansetzt, sondern bei gesellschaftspolitischen Schlussfolgerungen.<<

    Das führt meistens in eine Tyrannei. Die weltlichen Dogmatiker sind wesentlich brutaler in der Durchsetzung ihrer "Dogmen"; Intoleranz ist da nur ein harmloses Pflänzchen. Aber damit beginnt es meistens.

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