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Sonntag, 22. Mai 2016

Ein liturgischer Albtraum

Gestern war, wie schon angekündigt, in der St.-Willehad-Kirche in Nordenham die Amtseinführung von Karl Jasbinschek als neuer Gemeindepfarrer. Ich war nicht vor Ort, sondern in Berlin, aber der Facebook-Account der Pfarrgemeinde postete einige Fotos von der Zeremonie. Ich hatte die noch gar nicht gesehen, als mir am frühen Abend einer meiner dunkelkatholischen Social-Media-Freunde - langjähriger Messdiener und gerade von einer Pilgerfahrt nach Rom zurückgekehrt - die Nachricht schrieb: "Die Liturgiebilder aus St. Willehad lassen mich etwas ratlos dastehen..." 

Daraufhin sah ich mir die Fotos natürlich sofort an - vor allem, einem speziellen Hinweis meines Freundes folgend, "das, wo Hochwürden allein am Altar steht". Der Zelebrant auf diesem Foto war definitiv nicht Pfarrer Jasbinschek - wahrscheinlich war es der Dechant -, aber das war nicht das Entscheidende an dem Bild. Wie man deutlich erkennen konnte, standen bzw. lagen auf dem Altar zwei Kerzen, ein Mikrofon, zwei gelbe Gottesdienstbroschüren (eine davon aufgeschlagen), das Messbuch (nicht aufgeschlagen) und ein Kelch, jedoch keine Hostienschale, sondern stattdessen ein großer Laib Brot auf einem orangefarbenen Deckchen. 

Nun höre ich schon den Chor der Liturgie-Relativisten: "Und was ist schlimm daran? Jesus hatte im Abendmahlssaal doch wohl auch keine Hostien!" - Nun ja. Aber wenn wir nun annehmen - was aus dem Foto ja nicht eindeutig hervorgeht -, dass dieses Brot dazu vorgesehen war, in der Eucharistiefeier zum Leib Christi gewandelt und an die Gemeinde verteilt zu werden; dann stelle man sich mal vor, wie das mit einem solchen Brotlaib praktisch vonstatten gehen soll. Eine krümelige Angelegenheit, würde ich mal sagen -- und wenn man daran glaubt, dass - wie die Katholische Kirche es nun mal lehrt - jeder noch so kleine Krümel des in der Eucharistie gewandelten Brotes wahrer Leib Christi ist, dann ist nicht damit zu spaßen, wenn beim Brechen des Brotes Brösel durch die Gegend fliegen und zu Boden fallen. - Falls das Brot auf dem Foto jedoch nicht anstelle von Hostien in der Eucharistie verwendet wurde, dann hatte es auch auf dem Altar nichts zu suchen (vgl. Missale Romanum, Insitutio Generalis, Nr. 73). . Wie ein anderer Facebook-Freund, seines Zeichens Pastoralreferent, treffend kommentierte: "Wollen wir mal hoffen, dass das Eifeler Landbrot nicht versehentlich mitgewandelt wurde." 

Mein erstgenannter Freund, der, wie er sagte, nach "einer Woche sauberer römischer Liturgie und sieben Ablässen" etwas verwöhnt und daher umso empfindlicher war, hatte allerdings noch mehr zu bemängeln. Zum Beispiel das Outfit der Messdiener: "Die Säcke. Die Schuhe." 

Mit den "Säcken" meinte er die Mantelalben, die die Messdiener trugen; die waren in meiner Kindheit auch schon in Gebrauch, deshalb wären sie mir gar nicht besonders aufgefallen. (Den Messdiener ganz rechts im Bild, der Chorhemd und Talar trug, kannte ich noch von früher; er ist demnach schon sehr lange dabei, und womöglich kennzeichnet ihn seine abweichende Gewandung als Obermessdiener.) Was die Schuhe betraf, merkte meine Liebste an: "Wenn ich so einen Sack anziehen müsste, würde ich dazu auch bunte Turnschuhe tragen. Schon aus Protest." 

Aber wie es einem liturgischen Beckmesser nun mal ergeht, wenn er erst einmal mit der Krittelei angefangen hat: Man entdeckt immer noch mehr Irritierendes. Zum Beispiel: die Leuchter. Wieso stehen die alle auf einer Seite? Drei rechts vom Altar und drei links davon, so wäre es gottgefällig! 

Worüber ich aber eigentlich schreiben wollte, ist, dass ich, vielleicht veranlasst durch diese Fotos und die Diskussion darüber, in der darauffolgenden Nacht schlecht geträumt habe. Im Traum war ich in einer Kirche, die in Größe und Innenausstattung erhebliche Ähnlichkeit mit St. Willehad hatte; und da gab es eine Laienpredigt von einer lila gekleideten Frau im fortgeschrittenen Alter. -- Im Traum ist man ja manchmal etwas begriffsstutzig: Die Frau hatte auch das Evangelium vorgetragen, aber erst während der Predigt fiel mir auf, dass da etwas verkehrt war. Als die Predigerin dann solche Katholiken, die eine Vorliebe für die außerordentliche Form des Römischen Ritus (umgangssprachlich: "Alte Messe") haben, mit den Taliban verglich, hatte ich genug. Ich stand auf und protestierte lautstark gegen die Ansichten, die die Predigerin hier verbreitete. Sie redete unbeirrt weiter - ich auch. Bis plötzlich der frühere Pfarrassistent der 2010 mit St. Willehad zusammengelegten Nachbargemeinde Herz Jesu Einswarden, bemerkenswerterweise in Chorhemd und Talar, vor mir stand und mich zu beruhigen versuchte. Da ich mich nicht beruhigen (lassen) wollte, nahm er mich beim Arm und machte Anstalten, mich hinauszubegleiten. "Was soll das?", wehrte ich mich und deutete auf die Predigerin. "Die da solltet ihr rausschmeißen, und nicht mich!" Der Pfarrassistent blieb unbeeindruckt und zog mich mit sich nach draußen, und daraufhin muss ich wohl aufgewacht sein. 

Wenn ich es mir recht überlege, war dieser Albtraum aber wohl nicht nur von den Fotos aus St. Willehad veranlasst - sondern auch, oder vielleicht sogar hauptsächlich, dadurch, dass kommende Woche Katholikentag in Leipzig ist. Am Samstag fahr ich hin, zusammen mit meiner Liebsten. Ich werde berichten... 


Samstag, 21. Mai 2016

Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 4

Wir erinnern uns: Ich hatte meine Analyse des Kolportageromans Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau von Dr. A. Rode (München 1869) an einer Stelle unterbrochen, an der die Überschrift des XXI. Kapitels - "Nach fünf Jahren" - einen Zeitsprung in der Handlung in Aussicht stellte. Berücksichtigt man, dass die Handlung vor diesem Zeitsprung ungefähr im Frühjahr 1800 angesiedelt war, müsste man eigentlich davon ausgehen, dass sie nun ungefähr im Jahr 1805 weitergeht. Tatsächlich beginnt das XXI. Kapitel jedoch mit einem Exkurs zur polnischen Geschichte, der bis zum 4. Koalitionskrieg zwischen Frankreich, Preußen und Russland (1806/07) und zur Gründung des formal unabhängigen, tatsächlich aber unter der Hegemonie des Französischen Kaiserreichs stehenden Herzogtums Warschau durch Napoléon (1807) reicht und somit die Spanne von fünf Jahren deutlich überschreitet. An diese historischen Schilderungen schließen sich Reflexionen zum polnischen Nationalcharakter an, die mehr oder weniger unterschwellig andeuten, die Polen seien zu staatlicher Sebständigkeit unfähig. Diese Auffassung war damals in Deutschland recht populär; so schrieb Dr. Rodes weit erfolgreicherer (und, wie ich anmerken möchte, auch weit fähigerer) Autorenkollege Sir John Retcliffe (alias Hermann Goedsche) 1878 im VIII. Band seines Romanzyklus Biarritz über das polnische Volk:  
"Wer - auf welchem Standpunkt der Parteien er auch gestanden - hat nicht ein inniges Mitgefühl mit den Kämpfen und Zuckungen einer Nation gehabt, deren Nationalgefühl so exclusiv, deren Vaterlandsliebe so stark und zäh stets gewesen ist, wenn auch ihre anderen Eigenschaften ihre selbständige Existenz verhindern mußten" (S. 334f.). 
Als nach diesen Exkursen der Handlungsverlauf wieder aufgegriffen wird, geschieht dies nicht nach einem Zeitsprung über fünf Jahre, sondern annähernd da, wo die Handlung am Ende des vorigen Kapitels abgebrochen worden war. Bis "der Zeitpunkt" erreicht wird, "von welchem wir im Anfange des Kapitels gesprochen haben" (S. 224), füllt der Autor nochmals fast 20 Seiten. 

Zunächst erfährt man, dass die Gräfin Zolkiewicz in Krakau im Wochenbett gestorben ist; das Kind, das sie zur Welt gebracht hat, stirbt kurz darauf ebenfalls, womit die erstmalige Verwendung der in der Titel-Unterzeile des Romans genannten Stadt Krakau als Handlungsort ohne weitere Folgen bleibt. Hauptschauplatz ist im Folgenden erst einmal das Palais der Familie Zolkiewicz in Warschau. Der kleine Sohn des verstorbenen Grafen, dessen Name - Wratislaw - auf S. 208 erstmals genannt wird, befindet sich in der Obhut Rebinskys und soll dort bleiben, "bis er das Alter erreicht haben würde, wo er groß genug wäre, in ein Jesuitenkollegium in Rom geschickt zu werden" (S. 208). "Auch Elka bewohnte den Palast, stand jedoch nicht unter der direkten Leitung des Jesuiten. Diese hatte die Tante übernommen" (ebd.). Als Elkas Schwangerschaft voranschreitet, fährt ihre Tante mit ihr für einige Monate aufs Land, wo sie ihr Kind heimlich zur Welt bringt; als sie zurückkehrt, hat sich ihre frühere leidenschaftliche Liebe zu ihrem Verführer Rebinsky in bitteren Hass gewandelt. Rebinskys Hoffnung, an das frühere Liebesverhältnis zu Elka anknüpfen zu können, stößt somit auf unerwartete Hindernisse -- und der Jesuit, jetzt immerhin der Vormund seiner früheren Geliebten, greift zu einem radikalen Mittel, um sie gefügig zu machen. Nachdem er der Tante weisgemacht hat, er "fürchte sehr, daß das leichtsinnige Mädchen einen neuen Fehltritt begehe" (S. 214), eröffnet er ihr den Plan, Elka in ein Kloster zu bringen, wo sie bleiben soll "bis zu dem Augenblick, wo wir eine passende Partie für sie gefunden haben und sie sich verheirathen wird" (ebd.). Die Tante ist einverstanden und lockt Elka unter dem Vorwand des Besuchs einer Verwandten in ein  Benediktinerinnenkloster, wo die junge Comtesse zu ihrem Schrecken erfährt, dass man nicht beabsichtigt, sie so bald wieder gehen zu lassen. 

Erstmals werden dem Leser also einige Einblicke ins Klosterleben geboten, auch wenn man sich vorerst nur bei den Benediktinerinnen befindet und nicht bei den sehr viel strengeren Unbeschuhten Karmelitinnen. Der Autor unterstreicht seinen dokumentarischen Anspruch, indem er auf S. 219f. die "Klosterregeln der Frauen des Ordens der heiligen Benediktinerinnen min. serv." wiedergibt - und in einer Fußnote beteuert: "Diese Regeln haben thatsächlich im Benediktinerinnenkloster existirt und sind hier wortgetreu wiedergegeben" (S. 219). Es handelt sich dabei nicht um eine vollständige Ordensregel - die zweifellos den Rahmen gesprengt haben würde -, sondern lediglich um eine Art "Stundenplan" zum Tagesablauf im Kloster; einzelne Details wecken zwar Zweifel an der Authentizität ("Nachmittags 3 Uhr: Abbetung der Terzia auf dem Chore", heißt es auf S. 220 - wäre im Chorgebet um drei Uhr nachmittags nicht eher die Non an der Reihe? Oder verstehe ich da was falsch?), aber im Großen und Ganzen wirkt diese Klosterordnung nicht unrealistisch - zumal sie nichts sonderlich Skandalöses enthält: Im Wesentlichen besteht der Tagesablauf der Benediktinerinnen aus Beten und Arbeiten. Für die temperamentvolle Elka ist das freilich schon schlimm genug: 
"Das also ist die Lebensweise in einem Kloster, und so soll ich meine Tage hinbringen? Morgens um 3 Uhr aufstehen, zur Uebung der Demuth die Arbeit einer gemeinen Magd verrichten, nicht sprechen dürfen, wenn es mir beliebt? Den ganzen Tag beten und die Augen niederschlagen? Nein, nein, ich muß fort von hier um jeden Preis." (S. 220f.) 
Folgerichtig verlangt sie ihren Vormund zu sprechen, doch der lässt sie erst einmal acht Tage lang schmoren, und als er dann erscheint, teilt er ihr unmissverständlich mit, sie werde nur aus dem Kloster herauskommen, wenn sie einwillige, wieder seine Geliebte zu werden. Da sie sich weigert, muss sie auf unbestimmte Zeit im Kloster bleiben; damit nicht genug, droht Rebinsky ihr, wenn sie sich nicht füge, könne man sie "als geisteskrank erklären" - das Wort ist gesperrt gedruckt und soll wohl eine assoziative Vorausdeutung auf den Fall Barbara Ubryk darstellen. 

Elka fügt sich also widerwillig in das Leben im Kloster; da sie sehr schön singen kann, wird sie Solistin im Chor und lockt durch ihren berückenden Gesang allsonntäglich zahlreiche Besucher in die Klosterkirche. Außerdem freundet sie sich mit einer anderen unfreiwilligen Pensionärin des Klosters an, der jungen Therese, die von ihren reichen Eltern ins Kloster gesteckt wurde, weil sie einen wesentlich ärmeren jungen Mann liebt und diesen heiraten wollte. Therese singt ebenfalls im Chor, und ihr Geliebter findet sich regelmäßig zur Messe ein, um ihre Stimme zu hören. Ein anderer junger Mann verliebt sich in Elkas Gesang, und da er ausnehmend hübsch ist, fühlt sich Elka auch ihrerseits zu ihm hingezogen. Die beiden Männer können ihre Angebeteten während der Messe zwar nicht sehen, da der Chor hinter einem Gitter verborgen ist, aber eines Sonntags gelingt es Elka und Therese, das Gitter vorübergehend zu öffnen und es wie einen Unfall aussehen zu lassen. Bald darauf können die beiden jungen Frauen mit Hilfe einer armen Bekannten von Thereses Familie, die regelmäßig zur Armenspeisung des Klosters erscheint, einen geheimen Briefwechsel mit ihren Anbetern organisieren, und schließlich lassen sie sich im Schutze der Nacht von den beiden jungen Männern aus dem Klostergarten entführen. 

Als Rebinsky vom Verschwinden seines Mündels aus dem Kloster erfährt, sieht er seine Felle (d.h. vor allem das Vermögen von Elkas verstorbenem Vater) davonschwimmen und veranlasst eine Fahndung nach den Entflohenen. Der Polizeimeister Krasnojeff, an den Rebinsky sich zunächst wendet, schaltet den "Chef der geheimen Polizei" (S. 234) ein - und dieser erweist sich als kein Anderer als Jaromir Ubryk, "welcher sich unterdessen zum Chef des geheimen Spürnasenthums aufgeschwungen hatte" (ebd.)! Endlich sind also, im XXII. Kapitel und mutmaßlich kurz vor Ende der 5. Lieferung, Haupt- und Nebenhandlung zusammengeführt; aber damit nicht genug: Auf S. 238 erfährt der Leser, dass Elkas Geliebter und Entführer Kasimir Ubryk ist, Jaromirs ältester Sohn! 

Dieser Knabe war, wenn auch zunächst ohne Nennung des Namens, schon auf S. 84 erstmals erwähnt worden: "Ein größerer Bursche mit trotziger wilder Miene kauerte auf einem der Strohsäcke". Auf S. 134 bringt er dem Vater die Nachricht vom Tod der Mutter; ausführlicher ist von ihm auf S. 146f. die Rede: 
"Der Junge war immer sehr störrig gewesen und hatte stets nur gethan, was er wollte. [...] Er liebte nur seine Mutter und diese allein hatte Macht über ihn gehabt.
Seitdem diese gestorben, war mit ihm nichts mehr anzufangen. Er lernte nichts, beschäftigte sich mit nichts, und trieb sich ganze Tage außer dem Hause herum. Manchmal blieb er auch die Nächte fort und kam wochenlang nicht heim." 
Und nun, einige Jahre später, ist er "ungefähr zwanzig Jahre alt", "sehr schön" und hat "schwarze krause Haare, sehr feurige Augen, blassen Teint und ein allerliebstes Schnurrbärtchen" (S. 225), kurz: ein "schöner Pole", wie er im Buche steht. Er entspricht damit einem Figurentypus, der in der deutschen Literatur bereits ab dem späten 18. Jh. verbreitet war, in geradezu idealtypischer Ausprägung in Wilhelm Hauffs Novelle Othello (1826) gestaltet und von Gottfried Keller in Kleider machen Leute (1874) persifliert wurde. Mit seinem früheren Erscheinungsbild hat Kasimir offenbar kaum mehr etwas gemein - außer vielleicht, dass sich seine Nichtsnutzigkeit - zumindest aus der Sicht des Vaters - in der Entführung einer jungen Adligen aus dem Kloster wohl noch potenziert. 

In der Schilderung der Flucht der Liebenden wirkt sich die irrige Annahme des Autors, Warschau habe schon zu diesem Zeitpunkt der Handlung zum russischen Teil Polens gehört (was tatsächlich erst ab 1815 der Fall war), in recht tragikomischer Weise aus: Elka, Therese und ihre jeweiligen Liebhaber wollen über die Grenze nach Preußen fliehen - und überqueren diese obendrein an einer Stelle, an der es zu keinem Zeitpunkt der polnischen Geschichte eine russisch-preußische Grenze gab, nämlich zwischen Sochaczew und Krośniewice. Schließlich finden sie Zuflucht in der preußischen Festungsstadt Thorn (heute Toruń), die "damals schon von den Franzosen besetzt" ist (S. 240) - was wiederum Probleme hinsichtlich der Chronologie bereitet: Thorn wurde im Zuge des 4. Koalitionskriegs am 18. Novemver 1806 von den Franzosen eingenommen. Demnach müssten seit Beginn der Romanhandlung bereits gut sieben Jahre vergangen sein - und das geht, so vage die Zeitangaben im Roman überwiegend auch sind, vorne wie hinten einfach nicht auf. 

Die französischen Truppen in Thorn nehmen sich der beiden Liebespaare ausgesprochen freundlich an; Elka und Therese möchten ihre Liebhaber möglichst sofort heiraten, damit man sie nicht wieder von ihnen trennen und sie ins Kloster zurückbringen kann. Allerdings ist eine legale Eheschließung eigentlich nicht möglich, da Elka und Therese noch nicht mündig sind und außerdem alle vier keine amtlichen Papiere besitzen. Der Leutnant Villard überredet jedoch einen Feldkaplan, die beiden Paare trotzdem zu trauen. -- Es ist bezeichnend für die antiklerikale Tendenz des Romans, dass dieser Feldkaplan, obwohl er doch eine positive Handlungsfunktion einnimmt, als nichts weniger als ehrwürdig dargestellt wird: 
"Er war ein jovialer, aufgeweckter, sehr liebenswürdiger Mann, der durchaus nichts Pfäffisches an sich hatte. Er liebte die Gesellschaft, die Freuden der Tafel, und es gingen auch allerlei Gerüchte, daß er den schönen Töchtern Evas durchaus nicht abhold sei. Wo es einen Spaß gab, war er sicher dabei, und hatte namentlich dem Weine den Krieg erklärt; es war merkwürdig, mit welcher Ausdauer er jeden tag einer großen Anzahl Flaschen den Hals brach. Elka's schöne Augen m[o]chten wohl einen tiefen Eindruck auf den galanten Kaplan gemacht haben" (S. 244f.). 
Wie dem auch sei, Elka heiratet also Kasimir Ubryk und Therese ihren Wroblewsky; die Doppelhochzeit findet "in einem Gasthause vor der Festung am Ufer der Weichsel" (S. 246) statt, unter reger Beteiligung der französischen Garnison. (Thorn bzw. Toruń liegt übrigens wirklich an der Weichsel, ich habe es überprüft.) Während der Hochzeitsfeier taucht überraschend Rebinsky am Ort des Geschehens auf - damit endet das XXIII. Kapitel, und das XXIV. trägt den ominösen Titel "Rebinsky's Hinrichtung"! -- Ehe ich mir das vorknöpfe, stelle ich lieber erst mal ein paar Betrachtungen über die Entwicklung der Handlung an; schließlich befinden wir uns bereits in der 6. Lieferung, womit schon mehr als ein Viertel des ursprünglich vorgesehenen Umfangs erreicht ist. 

Dass die Comtesse Elka Zolkiewicz einen Ubryk heiratet, eröffnet für den weiteren Handlungsverlauf natürlich allerlei Möglichkeiten. Die Titelheldin des Romans könnte zum Beispiel - auch wenn bis zum Zeitpunkt ihrer Geburt wohl noch eine ganze Menge Wasser die Weichsel 'runterfließen wird - ihre Tochter sein, und somit die rechtmäßige Erbin des Zolkiewicz-Vermögens. Auf diese Weise könnte es dem Autor also tatsächlich gelingen, die bisherige Haupthandlung seines Romans halbwegs glaubhaft als relevante Vorgeschichte der Barbara-Ubryk-Affäre zu verkaufen und gleichzeitig aus den Bestrebungen des Jesuitenordens, sich dieses Vermögen unter den Nagel zu reißen, ein fiktives Motiv für die Einsperrung Barbaras im Kloster zu konstruieren. Was die diversen anderen losen Fäden der Romanhandlung betrifft - etwa, dass Jaromir Ubryks jüngster Sohn einem Grafen untergeschoben wurde; dass Jaromir Mitglied in einem revolutionären Geheimbund ist; dass Elka ein uneheliches Kind mit Rebinsky hat -, so würde ich es einem Sir John Retcliffe durchaus zutrauen, sie im weiteren Verlauf der Handlung sämtlich wieder zusammenzuknüpfen; dem Dr. Rode traue ich es eher nicht zu, aber lassen wir uns mal überraschen. 

(Fortsetzung folgt!) 



Mittwoch, 11. Mai 2016

Ein Beckmesser im Land der Halstücher

Seit ich am 11. Januar dieses Jahres im Auftrag der Tagespost bei einer Veranstaltung der KatholischenAkademie in Berlin e.V. war, schickt mir die Akademie regelmäßig per eMail Einladungen zu ihren Veranstaltungen. So auch neulich mal wieder: Im Rahmen der Reihe „Nikodemusgespräche – Geistliche Ideenwerkstatt zur Zukunft der Kirche in Berlin“ lud die Katholische Akademie in Kooperation mit dem Diözesanrat der Katholiken im Erzbistum Berlin und der „Geistlichen Begleitung im Prozess 'Wo Glauben Raum gewinnt'“ zu einem Gespräch mit dem ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse ein – zum Thema „Christen in Berlin.Als Minderheit leben und glauben“. Auf dem Flyer, der an die Einladung angehängt war, war dieses Motto mit einem Fragezeichen versehen. Weiter hieß es in der Einladung:
„Wenn wir an die Kirche der Zukunft denken –“
Da muss ich schon unterbrechen: Ist es nicht auffällig, dass in Texten dieser Art so gern und oft von der „Kircheder Zukunft“ statt von der „Zukunft der Kirche“ die Rede ist? Kann man noch deutlicher zu verstehen geben, dass man für die Zukunft eine andere Kirche will? – Aber weiter.
„Wenn wir an die Kirche der Zukunft denken, was trauen wir Gott zu? Wohin brechen wir auf, was lassen wir zurück? Mit der Kraft des gläubigen Staunens rechnen und sich freuen am aufkommenden Wind.“
Zu diesem „Wind“ fiele mir noch allerlei ein, aber im Grunde sind derartige Ergüsse ja schon gar nicht mehr parodierbar; die lässt man am besten für sich selbst sprechen. – Ort des Geschehens sollte die Gedenkkirche Maria Regina Martyrum sein, die sich ja schon rein architektonisch hervorragend für Träume oder Alpträume von einer anderen, der Zukunft zugewandten Kirche eignet. Ich war zuvor erst einmal dort gewesen, am 4. Mai 2013, zu einem „Abendlob“, bei dem der damalige „ZdK“-Vorsitzende Alois Glück eine Ansprache hielt. Mir schien, da zeichneten sich gewisse strukturelle Parallelen ab.

Die Veranstaltung war recht gut besucht, allerdings hatte ich den Eindruck, nur ein relativ kleiner Teil der Anwesenden sei jünger als 60. Routinemäßig scannte ich die Sitzreihen nach Frauen mit voluminösen, bunten Halstüchern; solchen Halstüchern, wie sie praktisch ausschließlich von Reformkatholikinnen mit akademischem Bildungshintergrund getragen werden (ich habe mich schon manches Mal gefragt, ob es für diese Halstücher spezielle Läden oder Versandhäuser gibt, die außerdem auch Duftkerzen, Sitzsäcke und Ludwig-Hirsch-CDs anbieten – aber eigentlich will ich diese Klientel nicht auch noch auf Ideen bringen). Es waren weniger Halstuchträgerinnen als man hätte denken können, aber das lag wohl nicht zuletzt daran, dass der Frauenanteil im Publikum insgesamt nicht sehr hoch war. Was das männliche Äquivalent zu diesem Outfit ist, habe ich noch nicht herausgefunden.

Vor dem eigentlichen Beginn der Veranstaltung wurde erst noch ein Lied geübt - „Verleih uns Frieden gnädiglich“ (GL 475), Martin Luthers Nachdichtung einer gregorianischen Antiphon. Zwischen der Begrüßungsansprache und Wolfgang Thierses Impulsvortrag gab es noch mehr Gesang, nämlich das Taizé-Lied „Meine Hoffnung und meine Freude“ (GL 365); außerdem wurde ein Text von Huub Oosterhuis, dem ollen Häretiker, über den Heiligen Geist vorgetragen. So war man also bestens eingestimmt auf das, was da kommen mochte, und es wäre eigentlich kaum noch nötig gewesen, dass Gastreferent Thierse zu Beginn seines Impulsvortrags ankündigte, er werde „nicht sonderlich fromm“ sprechen.

Dabei begann sein Vortrag gar nicht schlecht – mit einer Zustandsbeschreibung der Situation der christlichen Kirchen, insbesondere der Katholischen, in Berlin und allgemein im Osten Deutschlands. Er lebe seit 52 Jahren als katholischer Christ in Berlin, erklärte Thierse; die Hälfte dieser Zeit im Ostteil der damals geteilten Stadt. Ein christliches oder gar katholisches Milieu habe er nie erlebt: „In keinem Punkt war das SED-Regime so erfolgreich wie in der radikalen Entkirchlichung eines Großteils der Bevölkerung.“ Der katholische Bevölkerungsanteil in der SBZ bzw. DDR sei zwischen 1946 und 1990 von 12% auf rd. 4% gesunken. Dies bedeute einen „Kulturabbruch“, der sich bis heute schmerzlich auswirke. Anders als die evangelische Kirche habe die Katholische stets Distanz zu Gesellschaft und Ideologie der DDR gewahrt; diese Distanz habe jedoch auch ihren Preis gehabt: So habe die Katholische Kirche in der DDR erheblich weniger Einfluss gehabt als die evangelische und sei „vielfach auch gesellschaftlich langweiliger“ gewesen.

– „Dann kam 1989 – das Jahr der Wunder.“ Am gesellschaftlich-politischen Umbruch in der DDR, der schließlich zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten führte, hätten, so Thierse, Christen entscheidenden Anteil gehabt: Die Religion, die nach dem Willen des SED-Regimes höchstens noch im privaten Bereich eine Rolle hätte spielen sollen, sei plötzlich in ungeahntem Ausmaß politisch wirksam geworden.

Und was ist heute, 26 Jahre später, von diesem Aufbruch übrig geblieben? - Ein früherer Berliner Bischof – nämlich Kardinal Meisner – habe Berlin einmal als „gottlose Stadt“ bezeichnet, erinnerte Thierse; sein Nachfolger Kardinal Sterzinsky habe dieser Einschätzung jedoch „zu Recht widersprochen“. Vielmehr sei Berlin eine „religiös und weltanschaulich plurale Stadt“: Nicht nur existierten eine Vielzahl religiöser und säkularer Weltanschauungen nebeneinander, sondern diese seien auch jeweils in sich selbst in hohem Maße individuell geprägt. Dieser Pluralismus sei „keine Idylle“, betonte Thierse; er berge ein erhebliches Konfliktpotential, sei zugleich „Zumutung“ und „Herausforderung“. Christen müssten sich bewusst sein, dass sie „Teil dieses Pluralismus sind und nicht außerhalb davon oder darüber stehen“. Gleichzeitig befinde sich die Kirche in einer „Legitimations- und Vertrauenskrise“ und sei „innerlich zerrissen“, ja „ausgehöhlt“.

In dieser Situation stelle sich nun die Frage, wie die Kirche in einer weltanschaulich pluralen Umwelt ihrem Auftrag gerecht werden könne, ohne dabei „flach, substanzlos und anbiedernd“ zu wirken. Die Fragestellung, fand ich, klang vielversprechend; leider hatte Wolfgang Thierse als Antwort jedoch nicht viel mehr anzubieten als die Ladenhüter des liberalen Reformkatholizismus. Die Kirche müsse ihre vielfach zu „verbrauchten Floskeln“ erstarrte Sprache (womit er sicherlich nicht nur, aber wohl auch die Sprache der Liturgie meinte) in das Idiom der Menschen von heute übersetzen, ihre Botschaft „für religiös unmusikalische Menschen neu vertonen“. Sie müsse Mut zu „Experimenten“ haben, dürfe „auf Orthodoxie pochenden Beckmessern nicht das Feld überlassen“. Dringend notwendig sei außerdem „mehr Ökumene, so viel Ökumene wie möglich“: „Eine zersplitterte Minderheit wird niemanden überzeugen.“ Und nicht zuletzt müsse die Katholische Kirche endlich ihren „Klerikalismus“ überwinden und den Laien „viel größeres Gewicht“ einräumen – „bis hin zur Ermächtigung von Laien zur Gemeindeleitung, Zulassung der Laienpredigt in der Eucharistie – das alles selbstverständlich [!] auch für Frauen.“

So weit, so vorhersehbar; mehr Spannung versprach der letzte Teil von Wolfgang Thierses Vortrag, der sich der Neustrukturierung der Berliner Pfarreien zu „Pastoralen Räumen“ widmete. Schon zu Beginn seines Vortrags hatte Thierse angemerkt, es entbehre nicht einer gewissen Ironie, dass er als Gastreferent zu einer Veranstaltung im Rahmen des „Pastoralen Prozesses 'Wo Glauben Raum gewinnt'“ eingeladen worden sei, denn tatsächlich sehe er diesen Prozess „mit erheblicher Skepsis“. Er habe sich dieses Thema jedoch bewusst  für den Schluss des Vortrags aufgespart, „damit der Ausklang nicht zu harmonisch wird“. Er finde es „beinahe unanständig“, dass diese Umstrukturierung der Pfarreien „als 'geistlicher Prozess' ausgegeben“ werde – „denn damit macht man ihn unangreifbar“. Der ehemalige Bundestagspräsident machte deutlich, dass er durch die Bildung von Großpfarreien gerade jene Strukturen gefährdet sieht, von denen er sich Impulse für die Erneuerung der Kirche erhofft. In diesem Sinne prognostizierte Thierse einen „großen Flurschaden“ für die Kirche: „Der Auszug der Gläubigen verschärft sich, weil sie ihren Ort verlieren.“ Die Schaffung pastoraler Großräume sei als Strukturreform „vom Klerus her gedacht“, deshalb entferne sich die Struktur von den Gläubigen; sinnvolle Strukturreformen müssten hingegen „von unten her“ gedacht werden.

Worauf das in der Praxis hinauslaufen würde, daran kann nach dem zuvor Gesagten kaum ein Zweifel bestehen. So nachvollziehbar die Warnung vor dem Verlust der Bindung der Gläubigen an ihre Ortsgemeinde auch sein mag (wenngleich man einwenden könnte, dass diese Bindung im Wesentlichen ohnehin nur noch bei einer Generation vorhanden ist, die demnächst ausstirbt): Die als Alternative angepriesene Vision einer „zeitgemäßen“ Laienkirche, in der die Sakramentalität der Seelsorge zur reinen Dienstleistung verflacht wird, erscheint mir im direkten Vergleich doch noch erheblich grausiger.

Die anschließende Publikumsdiskussion war geprägt von weitgehender Zustimmung zu Wolfgang Thierses Kritik am Konzept der „Pastoralen Räume“. Nur vereinzelt meldeten sich Stimmen zu Wort, die in Zweifel zogen, ob die Zukunft der Kirche tatsächlich in der Bindung an die Ortsgemeinde zu suchen sei, aber auch diese Äußerungen wurden nicht als prinzipieller Widerspruch gegen die Thesen des Referenten formuliert. Etwas aus dem Rahmen fiel die Wortmeldung eines evangelischen Pfarrers, der mit Bezug auf die Rede des Apostels Paulus auf dem Areopag (Apg 17,16-34) – eine Bibelstelle, die Thierse deshalb erwähnt hatte, weil er darüber einmal, „beim Katholikentag, glaube ich“, eine Bibelarbeit gestaltet hatte – anmerkte, Paulus habe seinerzeit ja ein interessiertes Publikum gehabt; heute hingegen scheitere das Zeugnisgeben für den Glauben vielfach schon daran, dass die Menschen gar keine Fragen mehr an den Glauben bzw. die Gläubigen hätten. (Ich kann dazu nur sagen, dass das meinen Erfahrungen aus dem „Kneipenapostolat“ ganz und gar nicht entspricht. Vielleicht liegt es doch sehr stark am Einzelnen, ob nichtgläubige Mitmenschen sich veranlasst fühlen, ihn nach seinem Glauben zu fragen.) In seiner Antwort merkte Wolfgang Thierse augenzwinkernd an, er sei auch schon oft für einen evangelischen Pfarrer gehalten worden; mir schien, er sagte das nicht ohne einen gewissen Stolz.

Ich selbst hätte ebenfalls einen Diskussionsbeitrag auf Lager gehabt, der die Harmonie der Veranstaltung womöglich etwas stärker strapaziert hätte; aber obwohl die beiden Jesuiten, die die Publikumsdiskussion leiteten, meine Wortmeldung mehrfach mit einem wohlwollenden Nicken zur Kenntnis nahmen, wurde mir nicht das Wort erteilt. Ich fragte mich, woran das wohl lag. Kennen die mich? Ahnen die, was ich sagen will? Aber im Nachhinein kam mir der Gedanke, dass sie mich womöglich gerade deshalb nicht zu Wort kommen ließen, weil sie mich eben nicht kannten. Womöglich – aber das ist wohlgemerkt nur eine Vermutung – waren Diejenigen, die sich in der Publikumsdiskussion äußern durften, durchweg Stammgäste bei Veranstaltungen der Katholischen Akademie, von denen man sich einigermaßen sicher sein konnte, dass sie nichts Störendes sagen würden.

Somit blieb mir nichts Anderes übrig, als den geselligen teil des Abends abzuwarten und Herrn Thierse mit einem Glas Wein in der Hand persönlich zu konfrontieren. Ich sagte ihm exakt das, was ich auch ins Mikrofon hätte sagen wollen, wenn man es mir denn gegeben hätte:
„Sie haben von einem größeren Gewicht der Laien in der Kirche gesprochen. Wenn ich das im Kontext Ihrer weiteren Ausführungen betrachte, habe ich den Eindruck, Sie haben eine ganz bestimmte Vorstellung davon, wie diese Laien sein sollen und wohin sie die Kirche bewegen sollen. Die von Ihnen so genannten 'auf Orthodoxie pochenden Beckmesser' zum Beispiel sollen es ja wohl offenbar nicht sein – und das sind ja schließlich auch zu einem erheblichen Teil Laien. Daher fand ich es auch ein bisschen tragikomisch, dass sie sagten, denen dürfe man 'nicht das Feld überlassen'; ich habe mich gefragt: Wo haben diese Katholiken denn überhaupt ein Feld? Mein Eindruck ist eher, dass solche Katholiken schon jetzt vielfach an den Rand gedrängt werden; und dass sie sich in einer Vision von Kirche, wie Sie sie hier vorgestellt haben, erst recht nicht zu Hause fühlen werden, ist Ihnen ja sicherlich klar. Wenn man aber eine Kirche will, die 'von den Laien her denkt' – müsste man dann nicht auch diese Laien einbinden? Ist das nicht ein Dilemma?“
Der langjährige Parlamentarier wich meiner Frage geschickt aus, indem er klarstellte, mit den „Beckmessern“ habe er nicht nur oder in erster Linie Laien gemeint; es gebe auch Priester und sogar Bischöfe, auf die diese Bezeichnung zutreffe. „In der Deutschen Bischofskonferenz sitzen Leute, die sich gegen jede Veränderung sträuben. Ich brauche da keine Namen zu nennen, die sind allgemein bekannt. Jahrzehntelang war die Deutsche Bischofskonferenz dadurch gespalten bis zur Lähmung. Man wird sehen, ob das in Zukunft anders wird.“ - „Das beantwortet aber meine Frage nicht“, beharrte ich, doch Bundestagspräsident a.D. Thierse konterte souverän: „Doch, ich finde schon.“ Eine sehr politische Entgegnung, zweifellos. Gelernt ist gelernt.

Ich halte es übrigens durchaus für möglich, dass Herr Thierse gar nicht begriffen hat, dass ich in meiner kritischen Anfrage *für* die so genannten „Beckmesser“ sprach – geschweige denn, dass ich, aus seiner Sicht zumindest, selber einer bin. Das sah man mir schließlich nicht an, mit meinen langen Haaren, dem Bart und dem schlabberigen Cardigan über einem Krümelmonster-T-Shirt. Aber auch unabhängig von meinem Aussehen rechnete er vermutlich ganz generell nicht damit, so jemanden bei so einer Veranstaltung zu treffen, die Alles in Allem wohl eher als kuschliges Familientreffen liberaler Reformkatholiken konzipiert war. Diesen Eindruck hatte ich spätestens ab dem Zeitpunkt, an dem Wolfgang Thierse in seinem Vortrag äußerte, „selbstverständlich“ müssten auch Frauen Gemeinden leiten und im Gottesdienst predigen dürfen: Diese vermeintliche Selbstverständlichkeit, sagte ich mir, ist ein Kommunikationshindernis.

Das bestätigte sich eindrücklich, als ich unmittelbar nach meinem Austausch mit Herrn Thierse in ein Gespräch mit einem älteren Ehepaar geriet, in dem es sich recht bald just um die Themen Laienpredigt und Frauendiakonat drehte. Meine beiden Gesprächspartner rechneten offensichtlich überhaupt nicht damit, dass ich – oder irgend jemand – in diesen Fragen anderer Meinung sein könnte als sie. Irgendwann merkten sie es natürlich – und da war das Gespräch dann auch beendet.


Zusammenfassend könnte man feststellen, es gehöre zu den leicht tragikomischen inneren Widersprüchen des liberalen Reformkatholizismus, dass er sich einerseits gern als von der kirchlichen Hierarchie unterdrückte und marginalisierte Oppositionsbewegung geriert, andererseits aber längst mit Billigung und – nicht zuletzt auch finanzieller – Unterstützung ebendieser Hierarchie Räume und Strukturen etabliert hat, in denen er sich fühlen und gebärden kann, als wäre er schon an der Macht. Das ist im Grunde nicht viel anders als in den linksautonomen Kneipen, in denen ich manchmal verkehre (sofern ich dort kein Hausverbot habe). – Immerhin aber hat mich Wolfgang Thierses Einschätzung über die Deutsche Bischofskonferenz dazu veranlasst, dieses ehrwürdige Gremium tendenziell positiver zu sehen als zuvor – und das ist ja auch schon was wert. 



Dienstag, 10. Mai 2016

Gymnastiksaal mit Sakralhintergrund

Am 5. Juni ist Gegenteiltag in der Kirche St. Johannes in der Dorstener Feldmark. "Die Profanierung ist das Gegenteil der Kirchweihe" – so stand es am 4. Mai in der Dorstener Zeitung. Ein vom Bischof von Münster bereits im vergangenen Jahr unterzeichnetes Profanierungsdekret für das 1960 geweihte Gotteshaus wird im Rahmen eines feierlichen Gottesdienstes vollstreckt. "Was passiert bei diesem Zeremoniell? 'Das Entscheidende ist, dass das Allerheiligste, der Ort des Tabernakels, aufgehoben wird. Der Tabernakel als Aufbewahrungsort für die konsekrierten Hostien, wird entnommen und in eine andere Kirche überführt', erklärt Pfarrer Franke. Ein weiteres Zeichen für die Aufhebung der liturgischen und sakralen Nutzung des Raumes sei die Entfernung des Reliquiensteines, der im Altar eingemauert sei." Weiter führt der Pfarrer aus: "Es wäre auch schön, wenn die Gottesdienstbesucher ebenfalls Gegenstände, wie Messbuch, Altartuch, Ewiges Licht und anderes in einer feierlichen Prozession unter Glockengeläut aus dem bisherigen Kirchenraum in den Pfarrheim-Saal bringen würden".

St. Johannes ist eines von derzeit vier Gotteshäusern der Dorstener Pfarrei St. Agatha, von der in diesem Blog schon ein paarmal die Rede war. Die Dorstener Zeitung zitiert den leitenden Pfarrer Ulrich Franke mit der Einschätzung, dieser Kirchenbau sei "der schönste und baulich überzeugendste in der gesamten Pfarrei". Entworfen wurde die Kirche von Emil Steffann, "einem der bekanntestes Kirchenarchitekten der Nachkriegszeit". Die Kirche in der Feldmark hat jedoch, wie die Website der Pfarrei berichtet, eine Vorgeschichte, die weiter zurückreicht als bis 1960 – nämlich bis in "die Jahre kurz nach Beendigung des 2. Weltkrieges – durch die Einrichtung einer Notkirche im Saal Maas-Timpert". Ich finde ja, diese Formulierung wirkt ein bisschen so, als sei der II. Weltkrieg durch die Einrichtung der Notkirche beendet worden – schön wär's ja –; so war's aber nicht:

"Wegen der Zerstörung der St.-Agatha-Kirche in der Altstadt am 22.03.1945 ließ der damalige Pfarrer Franz Westhoff für die zahlreichen Gemeindemitglieder drei Notkirchen einrichten: eine im Speisesaal des Ursulinenklosters, eine in einer hölzernen Halle auf dem Gelände des Gesellenhauses am Südwall" – und eine eben im Festsaal einer Gastwirtschaft. Diese wurde dem Hl. Johannes dem Täufer geweiht. "Noch heute zeugen die kleine Glocke und das Bild 'Der gute Hirte' am Eingang an der Giebelseite des Saales von seiner religiösen Vergangenheit. Zum Jahresende 1949 wurde die Filialkirche wieder aufgelöst; doch schnell stellte sich bei den Gläubigen der Wunsch nach einer Selbstständigkeit ein. Erste Gespräche zum Bau einer neuen Kirche in der Feldmark fanden bereits 1953 statt; die konkrete Planung erfolgte erst ab 1957."

Tja, so ändern sich die Zeiten: In der Nachkriegszeit herrschte ein so großer Bedarf an Kirchen, dass man auf profane Gebäude ausweichen musste – und heute herrscht landauf, landab das große Kirchensterben. Die Zahl der Gottesdienstbesucher ist in den letzten Jahrzehnten erheblich zurückgegangen, und da im selben Zeitraum auch die Zahl der Priester deutlich abgenommen hat, gleichzeitig aber die Mobilität der Menschen größer ist als früher, geht der Trend vielerorts dahin, die verbleibenden Kirchgänger auf eine kleinere Zahl von Gottesdienststandorten zu "konzentrieren". Man könnte denken, dies sei auch in Dorsten der Fall - zumal die Filialkirche St. Johannes der Täufer nur 750 Meter (!) von der Pfarrkirche St. Agatha entfernt liegt. Doch auf den zweiten Blick sind die Dinge nicht so, wie sie zunächst scheinen: Die Kirche in der Feldmark soll nämlich gar nicht endgültig aufgegeben werden. Vielmehr soll nach einem Umbau "der Raum zwar stark verkleinert, aber weiterhin als Kirche existieren": "120 Gottesdienstbesuchern wird das um zwei Drittel verkleinerte Gotteshaus dann Platz bieten. [...] Läuft alles nach Plan, wird die neue St.-Johannes-Kirche 2018 wieder neu geweiht werden: Klein, modern, auf die Zukunft ausgerichtet, mit regelmäßigen Gottesdienstzeiten. Dann wird sich die Prozession der Gläubigen wieder in Bewegung setzen, diesmal in die Gegenrichtung, um Tabernakel und Reliquienstein vom Pfarrsaal in die Kirche zu tragen."

Eine kosmetische Verkleinerung des Kirchenraums also? Wozu das? Nun, das Gebäude - jedenfalls der größte Teil davon - wird für andere Zwecke benötigt: Die Familienbildungsstätte Dorsten soll dort einziehen. Bislang residiert diese im "Haus der Familie" im Dorstener Stadtteil Holsterhausen, aber dort läuft zum Jahresende der Mietvertrag aus. Nun sollen also im bisherigen Kirchengebäude neue Räume für die Familienbildungsstätte entstehen, auf dass in den ehemals heil'gen Hallen fortan Angebote wie Babymassage ("Berühren mit Respekt"), Bodypainting für 3-4jährige, Basic Cooking Vegan, Origami-Workshops und natürlich Hatha Yoga stattfinden können. Der bisherige Altarraum von St. Johannes soll einer Gymnastikhalle Platz machen. Aber keine Sorge: Als katholische Bildungseinrichtung hat die Familienbildungsstätte natürlich auch Theologische Bildung und Religionspädagogik im Programm. Da gibt es dann so schöne Veranstaltungen wie "Religiöse Spurensuche - Auf Gottes Spuren", bei denen Eltern mit Kindern im Vorschulalter (2-6 Jahre) neben der Pfarrkirche St. Agatha auch eine Moschee der türkisch-muslimischen Gemeinde DITIB in Dorsten sowie die Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen besuchen können. Ein tolles Orientierungsangebot für Eltern, die noch unentschlossen sind, in welchem Glauben sie ihre Kinder erziehen sollen.

Genaueres zu den Umbauplänen für den neuen Standort erfährt der geneigte Leser auf der Website der Familienbildungsstätte - in einem Text, der vermuten lässt, dass Grammatik und Satzbau eher nicht zum Kursprogramm dieser Bildungseinrichtung zählen; aber das nur am Rande. Man erfährt dort, es sei "bereits vor längerer Zeit die Entscheidung gefallen, den Anbautrakt der Kirche (Pfarrbüro und Pfarrwohnung) abzureißen und an deren Stelle einen neuen Anbau zu errichten, der die Verwaltung im Untergeschoss und die Lehrküche im Obergeschoss aufnehmen wird. Optisch wird dieser neue Anbau dem späteren äußeren Erscheinungsbild des Kirchenschiffes mit seinen Lichtöffnungen angeglichen" Außerdem haben die "Berechnungen zur Heizungs- und Klimatechnik [...] ergeben, die ursprünglich für die Flure vorgesehene Offenheit bis in den Dachraum der Kirchenschiffes im Obergeschoss abzuschotten, was leider die Wahrnehmung der Weite des früheren Kirchraumes einschränkt, jedoch dem Raumklima und der späteren Energiebilanz zu Gute kommt". Damit nicht genug: "Erheblich wirkt sich auch die Feststellung der notwendigen Sanierung und Erneuerung des Kirchendaches aus. Während das alte Tragwerk des Dachstuhls bestehen bleiben kann, wird an einer Lösung für eine neue Dacheindeckung aktuell gearbeitet." Und was soll das alles kosten? -- Wissen wir noch nicht: "Die nächsten Schritte und Ergebnisse erwarten wir mit der Kostenermittlung, Ausschreibung der Gewerke und der anschließenden Vergabe der Abriss- und Rohbaumaßnahmen. Bei einem reibungslosen Ablauf ist mit einer Bauzeit von ca. 18 Monaten zu rechnen."

Achtzehn Monate! Das erfordert natürlich Übergangslösungen - sowohl für die Bildungsstätte selbst, die ja zum Jahresende aus ihren bisherigen Räumen raus muss, als auch natürlich für die St.-Johannes-Kirche, die für eineinhalb Jahre zur Baustelle wird. Was das letztere Problem betrifft, hat man beschlossen, den Saal des Pfarrheims von St. Johannes "für die Zeit des Umbaus übergangsweise als Kirche" zu nutzen. Fällt der Saal somit für anderweitige Nutzungen aus? Mitneffen bzw. -nichten: "An Wochentagen wird der für die Gottesdienste genutzte Teil des Pfarrsaales abgetrennt, sodass er" - gemeint ist sicherlich: der übrige Teil - "weiterhin von Gruppen genutzt werden kann. 'Nur Partys sind in dieser Zeit als nicht angemessen tabu', sagen die Geistlichen" - na hallo! Da möchte man doch direkt mal wissen, was für wilde Partys sonst so im Pfarrheim in der Dorstener Feldmark gefeiert werden!

Und die Familienbildungsstätte? Die zieht vorerst ins Pfarrheim einer anderen Dorstener Pfarrei, St. Matthäus im Stadtteil Wulfen. Das wurde, wie ein Artikel im Lokalkompass verrät, am 16. April auf einer kurzfristig einberufenen außerordentlichen Pfarrversammlung beschlossen. "Wichtig war dem Kirchenvorstand zu betonen, dass aus Zeitgründen eine vorherige Einbindung der Pfarrgemeinde nicht möglich war." Und nun isses halt nicht mehr zu ändern:
"'Der Kirchengemeinde St. Matthäus ist klar, dass es durch die neue Situation zu Einschränkungen kommt. So werden für den Übergangszeitraum keine privaten Vermietungen möglich sein.', erklärte Bernhard Schürmann, vom Kirchenvorstand auf Nachfrage. 'Entlastend wirkt, dass die ehemalige Seniorenstube ab dem 01. Juni und für den gesamten Übergangszeitraum der Kirchengemeinde zur Verfügung stehen wird. Der Kirchenvorstand hat die Familienbildungsstätte Dorsten gebeten, die bisherigen Nutzer des Matthäusheims - soweit möglich - in ihr Raumprogramm zu integrieren.'" 
Spätestens an diesem Punkt mag man geneigt sein, die ganze Angelegenheit für ein Stück aus dem Tollhaus zu halten - aber es kommt noch 'besser': Wie der Lokalkompass weiter zu berichten weiß, ist das Matthäusheim für eine Nutzung durch die Pfarrgemeinde selbst nämlich eigentlich sowieso zu groß. - Wie das? Nun ja: Das Bistum Münster unterstützt Pfarrheime finanziell über so genannte "Schlüsselzuweisungen", doch dabei "greift zukünftig aber eine Begrenzung von 100 qm Pfarrheimfläche je 1.000 Gläubige". Die Sinnhaftigkeit dieser Regelung wollen wir lieber gar nicht erst hinterfragen; die Auswirkungen sind jedenfalls bizarr:
"Zur Gemeinde St. Matthäus gehören ohne Herz-Jesu und ohne St. Barbara überschlägig 3.000 Gläubige, das Matthäusheim hat aber eine Nutzfläche von rd. 800 qm. Hier werde man für die Zukunft nach einer tragfähigen Lösung suchen müssen. Diese könne in einer Renovierung des Pfarrheims bei gleichzeitiger Verringerung der Fläche [!], eine Integration des Pfarrheims in die Pfarrkirche [?!] oder einem neuen Gebäude an der Kirche bzw. in der Nähe der Kirche liegen." 
Merke: Kosmetische Verkleinerung kirchlich genutzter Gebäude scheint derzeit schwer im Trend zu liegen. Man könnte denken, man hätte es mit einem Schildbürgerstreich zu tun; tatsächlich handelt es sich aber wohl eher um eines von vielen Symptomen des schleichenden Todes der Volkskirche - eines Prozesses, der von den Verantwortlichen mit einer eigentümlichen Mischung aus souveräner Ignoranz und irregeleitetem Aktionismus verwaltet wird. Für die Schaffung von Räumlichkeiten für Babystreichel- und Selbstfindungstöpferkurse stehen, wie es scheint, nahezu unbegrenzte Mittel aus dem großen Kirchensteuertopf zur Verfügung, während die Pfarreien um ihr Überleben kämpfen. Aber auch den Pfarrgemeinden selbst scheinen Räume für diverse Gruppenaktivitäten im Zweifel wichtiger zu sein als der Raum für den Gottesdienst. So verschwinden Tabernakel und Reliquienstein, Messbuch, Altartuch und Ewiges Licht gewissermaßen in der Abstellkammer, die nur noch bei Bedarf aufgesperrt wird.

Im Falle der Kirche St. Johannes der Täufer in der Dorstener Feldmark wäre es wohl eine schmerzhafte, immerhin aber eine konsequente und ehrliche Entscheidung gewesen, die Kirche gänzlich aufzugeben - und angesichts des Umstands, dass sie nur einen kurzen Spaziergang von der nächstgelegenen katholischen Pfarrkirche entfernt liegt (insgesamt führt die Website der Stadt Dorsten, einer Stadt mit rund 76.000 Einwohnern, nicht weniger als achtzehn katholische Kirchen auf!) und dass die Pfarrei St. Agatha, zu der St. Johannes gehört, in Zukunft wohl nur noch von zwei statt wie bisher von drei Priestern betreut wird, vermutlich auch eine vernünftige Entscheidung. Die Kirche zwar bestehen zu lassen, aber gewissermaßen nur als Hinterstübchen von Yoga-Halle und veganer Kochschule, ist hingegen ein ausgesprochen fatales Signal.


Montag, 9. Mai 2016

Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 3

In meiner Analyse des Kolportageromans Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau von Dr. A. Rode (München 1869) war ich zuletzt bis zum Ende der 3. Lieferung gekommen, wo der Leser miterlebte, wie Jaromir Ubryk – über dessen Verwandtschaftsverhältnis zur Titelheldin wir noch nichts Genaues wissen – mit großem Zeremoniell in einen polnisch-nationalistischen Geheimbund aufgenommen wurde, dessen Versammlungsort ominöserweise im Keller des Warschauer Jesuitenklosters liegt. Auch im nun folgenden XV. Kapitel steht Jaromir im Mittelpunkt, nicht jedoch seine neue Karriere als politischer Verschwörer; vielmehr wird die Kindsvertauschungshandlung aus Kapitel IX wieder aufgegriffen. Zunächst wird geschildert, wie Jaromir sich mit dem Geld, das er für die Vertauschung seines neugeborenen Knaben gegen die Tochter einer Gräfin erhalten hat, einen neuen Hausstand einrichtet; und dann unternimmt er einen neuen Anlauf, die kleine Grafentochter wiederzufinden, die er in einer Schenke vergessen hatte.

Bei der Schilderung dieser Suche betreibt der Autor schamloseste Zeilenschinderei mit Dialogen, deren magere Ergebnisse in einem augenfälligen Missverhältnis zu ihrem Umfang stehen. Immerhin erfährt Jaromir, dass ein jüdischer Händler namens Aaron Königsberger den Korb mit dem Säugling aus der Schenke mitgenommen hat – und dass das Kind „ein goldenes Kreuz mit Steinen besetzt“ um den Hals getragen hat (S. 151). Letzteres ist natürlich ausgesprochen unlogisch – schließlich ist die Kindsvertauschung mit Wissen und Einwilligung der Gräfin, ja geradezu in ihrem Auftrag vorgenommen worden; warum also hätte sie ihrem Kind ein Erkennungszeichen mitgeben sollen? - Noch „besser“ ist allerdings, dass das Kreuz gar nicht als Erkennungszeichen dienen kann, weil der Jude es nämlich inzwischen an einen Goldschmied verkauft hat. Jaromir kauft es – warum auch immer -, und damit ist auch dieser Handlungsstrang vorerst wieder an einem toten Punkt angekommen. Folglich wendet sich der Autor in Kapitel XVI wieder der Verschwörerhandlung zu.

Nachdem Jaromir einige nicht näher bezeichnete Aufträge des „geheimen Tribunal[s]“ „mit Raschheit und Intelligenz“ ausgeführt hat (S. 154) – was man dem tragikomischen Säufer, als der er ursprünglich eingeführt worden ist, wohl kaum zugetraut hätte –, wird er beauftragt, sich um eine Stellung „in [der] Nähe des russischen Gouverneurs von Polen“ (S. 155) zu bemühen. Dies gelingt ihm mit Hilfe von Empfehlungsschreiben – und der Unterstützung des Beichtvaters der katholischen Frau des Gouverneurs, was wiederum die Rolle des Klerus in der polnischen Untergrundbewegung unterstreicht. Peinlich ist allerdings, dass es zur Handlungszeit überhaupt keinen „russischen Gouverneur von Polen“ gab; vielmehr waren die durch die drei Polnischen Teilungen an Russland gekommenen Gebiete in ganze neun verschiedene Gouvernements eingeteilt, und Warschau, wo Jaromir ja wohl nach wie vor wohnt, gehörte, wie schon gesagt, überhaupt nicht dazu – sondern zu Preußen.

Ein hübsches Detail des XVI. Kapitels ist der Satz des Gouverneurs „Sie werden mir durch den Fürsten Lubojatzky auf das wärmste empfohlen“ (S. 156): Fürst Lubojatzky, das klingt glaubwürdig und sehr polnisch; tatsächlich ist es aber der Name eines Kollegen des Autors – Franz Lubojatzky (1807-1887), erfolgreicher Verfasser von Kolportageromanen.

Nachdem die Jaromir-Handlung also partout auf keinen grünen Zweig kommt, kann es dem Leser nur recht sein, dass nach 27 Seiten wieder nach Schloss Bielow in Wolhynien zurückgeschnitten wird, wo bereits die Kapitel II-VIII und X-XIII gespielt hatten. Hier setzt der Autor zunächst ganz auf die Devise 'sex sells': Die Gräfin Julie stellt mit wachsender Ungeduld dem Sekretär, Hauslehrer und verkappten Jesuiten Rebinsky nach, nicht ahnend, dass dieser ein heimliches Verhältnis mit ihrer halbwüchsigen Stieftochter Elka unterhält. Eines Nachts schleicht Julie sich in Rebinskys Zimmer, und –
„Es ist sehr ärgerlich, daß sich hier abermals eine nicht unbedeutende Lücke im Originalmanuscripte befindet. Nicht etwa, daß wieder einige Blätter fehlten – nein, unglücklicherweise sind die nächstfolgenden Seiten derart mit Tinte übergossen, die eine ungeschickte Hand entweder absichtlich oder zufällig verschüttet haben mochte, daß es vollkommen unmöglich war, den Sinn der Zeilen zu entziffern.“ (S. 163)
Nun, seien wir ehrlich: Beim ersten Mal wirkte dieser Trick plump – beim zweiten Mal hat er was. Nun dürfte schließlich auch dem dümmsten Leser klar sein, dass der Verfasser an solchen Stellen mit ihm Katz und Maus spielt. Nudge nudge, wink wink, say no more. – Jedenfalls ist Rebinsky fortan „zu gleicher Zeit der Geliebte Elka's und der Gräfin“ (ebd.); eines Tages bzw. Nachts ertappt die Gräfin jedoch Rebinsky und Elka in flagranti, und daraufhin ist das Geschrei natürlich groß. Gräfin Julie will ihre missratene Stieftochter in ein Kloster stecken (was uns dem Barbara-Ubryk-Stoff zumindest motivisch schon mal ein ganzes Stück näher bringen würde), aber Rebinsky gelingt es mit seiner jesuitischen Beredtsamkeit, sie wieder zu besänftigen. – Kostprobe gefällig?
„Was haben Sie gethan! Sie haben die unschuldige Seele eines Mädchens verdorben, Sie haben ein Kind verführt!
– Elka ist kein Kind mehr. Ein Wesen, das so lieben kann, ist reif.
– Aber Sie haben sie doch verführt!
– Ist das ein größeres Verbrechen, ein junges Mädchen zu verführen, als von einem verheiratheten Weibe verführt zu werden?“ (S. 174)
Eine Zeit lang unterhalten Rebinsky, die Gräfin und Elka nun allen Ernstes eine ménage à trois („Auch Vorhänge von schwerem Seidendamast wurden um die beiden Bette angebracht; wir wollen sie zugezogen lassen und uns nicht darum bekümmern, was dahinter vorging“ - S. 176); aber insgeheim trachtet Julie weiterhin danach, ihre Stieftochter loszuwerden, um den Geliebten für sich allein zu haben. Dieser vernachlässigt derweil vor lauter Sex die Aufträge seines Ordens, die – wie der erfahrene Leser sich bestimmt schon gedacht hat – darauf hinauslaufen, das Vermögen des Grafen in die Finger zu bekommen. Zwischenzeitlich erwägt Rebinsky sogar, seine Ordensgelübde zu brechen, eine seiner beiden Geliebten zu heiraten und das Vermögen auf diese Weise sich selbst unter den Nagel zu reißen, aber er fürchtet die Rache des Ordens. Derweil verbessert sich der Gesundheitszustand des Grafen, was sein eigentlich erwartetes baldiges Ableben wenig wahrscheinlich macht. Problematisch ist dies nicht zuletzt deshalb, weil sich zeigt, dass sowohl die Gräfin als auch Elka schwanger sind. Und dann erhält Rebinsky unerwarteten Besuch von einem höherrangigen Jesuiten – offenbar zu dem Zweck, ihn an seine Pflichten zu erinnern.

Hier nun führt der Autor eine historische Gestalt als Romanfigur ein: Zwar wird beim ersten Auftritt des Besuchers sein Name nicht genannt, aber bei späterer Gelegenheit erfährt der Leser, dass es kein anderer ist als Tadeusz Brzozowski (1749-1820), der spätere 19. Generalobere des Jesuitenordens. In einer Fußnote auf S. 199 wird der Leser informiert:
„Der Jesuitenorden war im Jahre 1773 von Clemens XIV. aufgehoben worden, bestand jedoch bis zu seiner Wiederherstellung durch Pius VII. im Jahre 1804 im Geheimen fort. In den polnischen Provinzen Rußlands wurden sie trotz ihrer Aufhebung vollständig geduldet, und durften selbst i.J. 1782 einen Generalvicar wählen. Später i.J. 1820 am 25. März wurden sie durch einen Generalukas des Czars vollkommen aufgehoben. Pater Brzozowski, damals Provinzial, wurde später am 2. September 1806 zum 19. General erwählt.“
Wikipedia gibt die Daten leicht abweichend an, aber in groben Zügen scheinen die Angaben zu stimmen; mit einer Ausnahme: Die offizielle Wiederzulassung des Jesuitenordens erfolgte erst 1814. Möglicherweise geht dieser Fehler aber auch auf das Konto des Setzers und nicht des Autors.

Auf Druck seiner Ordensoberen denkt Rebinsky – den Brzozowski auf S. 198 als „Pater Anselm“ anspricht, nachdem sein Vorname zuvor mit Bogumil angegeben worden war – auch mal wieder an etwas Anderes als Sex und fingiert ein anonymes Schreiben an den Grafen, in dem dieser ultimativ aufgefordert wird, sein Vermögen testamentarisch an den ihm unbekannten Brzozowski zu überschreiben; für den Fall, dass er sich weigert, wird ihm eine kriminalgerichtliche Untersuchung der Ermordung seines Bruders angedroht. Es ist Rebinsky ein Leichtes, den Grafen glauben zu machen, die Franziskaner steckten hinter der Intrige; gleichzeitig redet er ihm ein, ihm bliebe nichts  Anderes übrig, als auf die Forderung einzugehen – er könne dann ja immer noch ein „Codizill“, einen geheimen Zusatz zum Testament, verfassen, mit dem die Einsetzung Brzozowskis zum Universalerben wieder aufgehoben wird.

Bevor der Graf dazu kommt, das geforderte Testament aufzusetzen, verschlechtert sich sein Gesundheitszustand dramatisch. Gräfin Julie, die zuvor bereits dafür gesorgt hat, dass Elka mit ihrer Tante nach Warschau verreist, nutzt die Gelegenheit und vergiftet ihren Mann mit einer Überdosis eines opiumhaltigen Medikaments, um frei für ihren Geliebten zu sein. Kurz darauf belauscht sie jedoch ein Gespräch zwischen Rebinsky und Brzozowski, aus dem sie erfährt, dass ihr Geliebter Priester ist und es im Auftrag seines Ordens auf das Vermögen ihres Mannes abgesehen hatte – woraufhin sie in Wahnsinn verfällt.

Nachdem der unzeitige Tod des Grafen Zolkiewicz die Pläne der Jesuiten beinahe vereitelt hätte, eröffnet ihnen der Wahnsinn der Gräfin ganz neue Möglichkeiten: Der Orden sorgt dafür, dass der den Jesuiten treu ergebene Graf Drahomirsky die Vormundschaft über die Kinder des Grafen erhält und seinerseits Rebinsky zum Mitvormund bestimmt. Während Elka, die inzwischen an einer fiebrigen Erkältung erkrankt ist, vorläufig in der Obhut ihrer Tante verbleibt, nimmt Rebinsky den kleinen Sohn des Grafen mit sich nach Warschau – und es wird angedeutet, dass er bei dieser Gelegenheit auch das im Schloss befindliche Barvermögen veruntreut. Die Gräfin wird in ein Irrenhaus in Krakau gebracht; das liegt zwar am anderen Ende des Landes bzw. dank der Polnischen Teilungen sogar in einem anderen Land – nämlich Österreich –, und somit wirkt es nicht ganz plausibel, dass die Gräfin ausgerechnet dorthin verbracht wird, aber es stellt einen assoziativen Bezug zum Fall Barbara Ubryk her. Krakau. Irrenhaus.

Nach 205 Seiten und zwanzig Kapiteln ist im bislang dominierenden Handlungsstrang um die Machenschaften des Jesuiten Rebinsky nunmehr eine klare Zäsur erreicht. Gehen wir davon aus, dass jede Lieferung des Romans drei Druckbogen à 16 Seiten umfasste, befinden wir uns im ersten Viertel der 5. Lieferung; und noch immer ist ein inhaltlicher Zusammenhang der Handlung mit dem realen Geschehen um Barbara Ubryk nicht abzusehen. Das ist umso gravierender, wenn man bedenkt, dass in der Vorrede 20 Lieferungen angekündigt wurden – mehr als ein Fünftel davon ist schon vorbei.

Von den bislang 20 Kapiteln, von denen das erste eine rein einleitende Funktion hatte, entfielen 15 auf die Rebinsky-Handlung und nur vier auf die parallele Jaromir-Handlung; wie bereits angemerkt, wirkt letztere unausgegoren, zerfahren und ziellos und weist zudem keinerlei Zusammenhang mit der bisherigen Haupthandlung auf. Das kann zwar noch kommen, zumal Rebinsky sich nun ebenfalls in Warschau niederlässt; aber bis zum jetzigen Zeitpunkt macht die Jaromir-Handlung den Eindruck, nachträglich und recht unbeholfen in die ursprünglich eigenständige Rebinsky-Handlung hineinmontiert worden zu sein. Gleichzeitig weist bislang allein die Jaromir-Handlung einen (wenn auch oberflächlichen) Bezug zu Barbara Ubryk auf – insofern als Jaromirs Familienname ebenfalls Ubryk lautet, was eine Verwandtschaft vermuten lässt. Dabei drängt sich allerdings der Verdacht auf, dass der Name Ubryk erst nachträglich eingesetzt wurde, um einen solchen Zusammenhang zu suggerieren. – Die Rebinsky-Handlung selbst ist auch nicht gerade ein Meisterwerk: eine genreübliche Mischung aus Sex, Crime und Intrigen, mit dem Jesuitenorden als Inbegriff der Skrupellosigkeit; zuweilen schlampig erzählt und nicht durchweg plausibel. Aber zumindest gewährleistet sie eine gewisse Spannung.

Wie viel Zeit seit Beginn der Handlung vergangen ist, ist nicht genau festzustellen, aber vermutlich befinden wir uns im Frühjahr 1800. Das ist immer noch sehr weit entfernt von der Zeit, in der Barbara Ubryk im Krakauer Karmel eingesperrt war. Bis die Handlung des Romans in dieser Zeit angekommen ist, sind die bisher handlungstragenden Personen wahrscheinlich alle tot. Oder fast alle.


Immerhin kündigt die Überschrift von Kapitel XXI – „Nach fünf Jahren“ – einen Zeitsprung an… Fortsetzung folgt! 



Donnerstag, 5. Mai 2016

Brot des Lebens - lebendiges Brot

Das 6. Kapitel des Evangeliums nach Johannes beginnt mit der Wunderbaren Brotvermehrung am See von Tiberias, die ähnlich auch bei Matthäus (14,13-21) und Markus (6,34-44) vorkommt. Ein Detail, das nur Johannes erwähnt, besteht allerdings darin, dass die Leute Jesus nach diesem Brotvermehrungswunder zum König machen wollen und Er sich diesem Ansinnen entzieht. Am nächsten Tag treffen Ihn einige dieser Leute in Kafarnaum, auf der anderen Seite des Sees, wieder, und Er sagt ihnen auf den Kopf zu: "Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und satt geworden seid". Eine klare Absage an eine rein weltliche (man könnte sagen: "soziale") Auffassung der Mission Jesu: Jesus ist nicht (nur) gekommen, um die Hungrigen (leiblich) satt zu machen. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Stattdessen verweist Er die, die zu Ihm kommen, auf "die Speise, die für das ewige Leben bleibt und die der Menschensohn euch geben wird": 
"Ich bin das Brot des Lebens. [...] Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch". 
Bei den Hörern lösen diese Worte erhebliche Irritation aus: "Wie kann er uns sein Fleisch zu essen geben?" Jesus aber bekräftigt nochmals: 
"Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben, und ich werde ihn auferwecken am Letzten Tag. Denn mein Fleisch ist wirklich eine Speise und mein Blut ist wirklich ein Trank." 
Daraufhin wollen Seine Zuhörer Ihn nicht mehr zum König machen, im Gegenteil, viele Seiner Jünger wenden sich von Ihm ab. -- Die Frage "Wie kann Er uns Sein Fleisch zu essen geben?" bleibt aber natürlich bestehen. Nun enthält ausgerechnet das Johannesevangelium keinen Bericht von der Einsetzung der Eucharistie beim Letzten Abendmahl; dieser Bericht, in dem Jesus beim Verteilen von Brot und Wein an seine Jünger erklärt "Dies ist mein Leib" und "Dies ist mein Blut", findet sich hingegen - mit leichten Abweichungen in den Details - im 1. Brief des Paulus an die Korinther (11,23-26) sowie in den Evangelien nach Matthäus (26,26-29), Markus (14,22-25) und Lukas (22,14-22). Es liegt nahe, in dieser Abendmahlsszene quasi die Erfüllung des bei Johannes überlieferten Wortes "Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch" zu sehen. Bei Lukas und Paulus ist der Abendmahlsbericht mit der Aufforderung "Tut dies zu meinem Gedächtnis" verbunden;  die Jünger sollen das Abendmahlsgeschehen also zukünftig wiederholen. Insbesondere im 1. Korintherbrief, der wohl um 55 n. Chr., wenig mehr als 20 Jahre nach der Kreuzigung Jesu, entstanden ist und somit nach herrschender Forschungsmeinung vermutlich der älteste dieser Texte ist, wird deutlich, dass Paulus sich auf eine bereits bestehende Praxis in den christlichen Gemeinden bezieht. Die Feier des eucharistischen Mahles ist somit seit frühesten Zeiten Teil des christlichen Gottesdienstes. 

Gleichwohl hat die christliche Theologie jahrhundertelang darum gerungen, wie genau es zu verstehen sei, dass Brot und Wein in der Eucharistie zu Leib und Blut Christi werden - während sie doch äußerlich, d.h. sinnlich wahrnehmbar, weiterhin Brot und Wein bleiben. Nun gut: Wirklich verstehen kann man es letztlich nicht; es bleibt ein Mysterium, dem man sich begrifflich lediglich annähern kann. Der Hl. Augustinus (354-430) schrieb: "Die Eucharistie, Brot und Wein, heißen deshalb Sakramente, weil man an ihnen etwas anderes sieht, etwas anderes dagegen erkennt. Was man sieht, hat eine leibliche Gestalt, was man erkennt, hat einen geistigen Gehalt." Diese Unterscheidung zwischen leiblicher Gestalt und geistigem Gehalt wurde im Laufe des Mittelalters in der Kirche des Westens begrifflich weiterentwickelt zur Transsubstantiationslehre, die, aufbauend auf der Ontologielehre des Aristoteles, zwischen der äußeren (materiellen) Gestalt eines Gegenstands und seiner Substanz, seinem eigentlichen, an sich nicht sinnlich wahrnehmbaren Wesen unterscheidet. Demnach bleibt zwar die materielle Gestalt von Brot und Wein in und nach der eucharistischen Wandlung unverändert, ihrer Substanz, ihrem wahren Wesen nach werden sie jedoch zu Leib und Blut Christi.

Dem naturwissenschaftlich geprägten Denken des modernen Menschen ist die Vorstellung, das wahre Wesen eines Dinges sei nicht in seiner Materie zu finden, natürlich schwer vermittelbar, und so ist es kein Wunder, dass der Glaube an die Realpräsenz Christi in der Eucharistie schwindet. Huldrych Zwingli (1484-1531) meinte schon im 16. Jh., Brot und Wein seien in der Eucharistie lediglich Zeichen für Leib und Blut Christi; das ist zweifellos leichter zu begreifen, und wenngleich zur selben Zeit beispielsweise Martin Luther entschieden an der Realpräsenz festhielt - die Transsubstantiationslehre als philosophisches Erklärungsmodell hingegen ablehnte -, dürfte sich dieses rein symbolische Eucharistieverständnis seither in den meisten evangelischen Konfessionen weitgehend durchgesetzt haben, und auch nicht wenige Katholiken neigen zu dieser Auffassung, wenngleich sie der Lehre ihrer Kirche fundamental widerspricht. Derartige Unterschiede im Eucharistieverständnis sind durchaus keine Kleinigkeit: Es liegt auf der Hand, dass dem Sakrament der Eucharistie eine ungleich größere Bedeutung zukommt, wenn den Gläubigen darin tatsächlich Leib und Blut Christi zum Verzehr gereicht werden, als wenn man darin eine bloß zeichenhafte Handlung sieht.

Seit dem frühen Mittelalter gibt es Berichte von eucharistischen Wundern, die den eigentlich "kontraintuitiven", d.h. der sinnlichen Wahrnehmung widersprechenden Glaubenssatz von der tatsächlichen Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi unmittelbar anschaulich und greifbar machen. Der erste bekannte Fall dieser Art soll sich zwischen 730 und 750 im italienischen Lanciano ereignet haben: Ein Mönch, der bis dahin Zweifel an der Realpräsenz Christi in der Eucharistie hegte, erlebte - so die Überlieferung - beim Zelebrieren der Messe die physische Verwandlung der eucharistischen Gaben in menschliches Fleisch und menschliches Blut. Reliquien dieses Wunders werden bis heute gezeigt.

Verstärkt traten Berichte über eucharistische Wunder ab dem 11. und 12. Jh. auf, zu einer Zeit, als Theologen wie Berengar von Tours (+1088) intensiv über die noch in der Entwicklung befindliche Transsubstantiationslehre stritten; die Wunderberichte wurden weithin als Bestätigung der Lehre von der Realpräsenz aufgefasst. Das im Jahr 1263 offiziell kirchlich anerkannte Blutwunder von Bolsena, ebenfalls in Italien, bei dem beim Brechen einer Hostie in der Heiligen Messe Blut auf den Altar getropft sein soll, gab den Anlass zur Einführung des Hochfests des heiligsten Leibes und Blutes Christi (Fronleichnam) durch Papst Urban IV. im Jahr 1264.

Ein Leitmotiv der Berichte über eucharistische Wunder besteht darin, dass diese Phänomene in der Regel im Zusammenhang mit Glaubenszweifeln des Zelebranten, mangelnder Ehrfurcht im Umgang mit den eucharistischen Gaben oder sogar Hostienfreveln auftraten. Die im Mittelalter durchaus zahlreichen Berichte über blutende Hostien und ähnliche Phänomene waren allerdings auch innerhalb der Kirche nicht unumstritten. Der Kirchenlehrer Albertus Magnus (ca. 1200-1280) deutete die Wunderberichte als Visionen; im 15. Jh. übte der Kardinal und Universalgelehrte Nikolaus von Kues (1401-1464) entschiedene Kritik am Überhandnehmen der Verehrung angeblicher Wunderhostien.

Ein spezieller Grund, den Kult um blutende Hostien kritisch zu sehen, liegt in dem Umstand, dass die Berichte über solche eucharistischen Wunder häufig mit angeblich von Juden verübten Hostienfreveln zusammenhingen und darum Anlass zu Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung gaben: So wurden im Jahre 1492 im mecklenburgischen Sternberg 27 Juden wegen Hostienfrevels verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt; das eucharistische Wunder, das sich im Zusammenhang mit der Hostienschändung ereignet haben soll, gab den Anstoß zur Errichtung einer Wallfahrtskapelle. Auch die Ermordung der ortsansässigen Juden im niederbayerischen Deggendorf im Jahre 1338 wurde im Nachhinein mit einem Fall von Hostienschändung begründet, bei dem sich ein eucharistisches Wunder ereignet haben soll; eine diesem Ereignis gewidmete Wallfahrt, die Deggendorfer Gnad, fand noch bis 1992 alljährlich statt.

Auch wenn man von solchen Exzessen einmal absieht, liegt es aus nichtgläubiger Sicht natürlich nahe, mittelalterliche Wunderberichte entweder für ganz und gar frei erfunden zu halten oder sie auf Betrug oder Selbsttäuschung zurückzuführen. Darüber hinaus gibt es auch naturwissenschaftliche Erklärungsansätze - beispielsweise, dass Verfärbungen an Hostien, die Blutflecken ähneln, durch das Bakterium Serratia marcescens oder den Schimmelpilz Neurospora crassa verursacht worden sein könnten.

Weit weniger bekannt ist der Umstand, dass es Berichte über eucharistische Wunder auch aus allerjüngster Zeit gibt - und diese Fälle sind gut dokumentiert, wurden mit neuesten wissenschaftlichen Methoden untersucht und sind daher nicht so leicht "wegzuerklären". Der wohl aktuellste Fall, über den verschiedene katholische Websites berichteten, ereignete sich im niederschlesischen Liegnitz bzw. Legnica: Während einer Weihnachtsmesse am 25.12.2013 in der Kirche St. Jacek fiel bei der Kommunion eine konsekrierte Hostie zu Boden und wurde daraufhin - wie es den liturgischen Regeln zur Entsorgung konsekrierter Hostien entspricht, die wegen Verschmutzung o.dergl. nicht mehr zum Verzehr geeignet sind - in ein Gefäß mit Wasser gelegt, in dem sie sich auflösen sollte. Bald darauf zeigten sich rötliche Verfärbungen auf der Hostie. Der damalige Ortsbischof Stefan Cichy setzte eine Kommission zur Untersuchung des Vorgangs ein; im Februar 2014 wurden der Hostie Proben entnommen, die zur Untersuchung an verschiedene Institute geschickt wurden. Ein gerichtsmedizinisches Gutachten besagte, bei der eingeschickten Probe handle es sich um menschliches Muskelgewebe, dessen Struktur derjenigen des Herzmuskels ähnele und zudem Spuren eines Todeskampfes aufweise. Im Januar 2016 stellte der neue Bischof von Legnica, Zbigniew Kiernikowski, der Römischen Glaubenskongregation den Fall vor; diese erkannte den Vorgang im April als eucharistisches Wunder an. Bischof Kiernikowski wies daraufhin den Gemeindepfarrer von St. Jacek, Andrzej Ziombrze, an, die Hostie in der Pfarrkirche als Reliquie zur Verehrung auszustellen.

Die offizielle Anerkennung des Wunders von Legnica rief auch einige weitere derartige Vorkommnisse aus jüngerer Zeit wieder verstärkt in Erinnerung. Im ebenfalls polnischen Ort Sokólka in der Erzdiözese Białystok hatte sich im Jahr 2008 Ähnliches ereignet: Auch dort war eine Hostie bei der Kommunion zu Boden gefallen und zum Auflösen in ein Gefäß mit Wasser gegeben worden. Nach einigen Tagen färbte sich das Wasser rot; der Inhalt des Gefäßes wurde auf ein Korporale ausgegossen, und nachdem die Flüssigkeit verdunstet war, kam ein blutig aussehendes Stück Gewebe zum Vorschein. Gewebeproben wurden zur Untersuchung an die Medizinische Universität Białystok geschickt; zwei Experten, Prof. Maria Sobaniec-Łotawska und Prof. Lech Chyczewski, kamen unabhängig voneinander zu dem Ergebnis, es handle sich allem Anschein nach um Fragmente eines menschlichen Herzmuskels, der Spuren eines Todeskampfes aufweise. Das Erzbistum Białystok erkannte den Fall daraufhin am 14.10.2009 als eucharistisches Wunder an; eine Stellungnahme des Vatikans steht noch aus.

Ein weiterer Fall, der sich vor fast 20 Jahren in Buenos Aires ereignete, ist nicht zuletzt deshalb interessant, weil der jetzige Papst Franziskus darin eine Rolle spielt. Bei einer Abendmesse am 18.08.1996 in der Kirche Santa Maria y Caballito Almagro in der argentinischen Hauptstadt, zelebriert von Pfarrer Alejandro Pezet, wurde eine Hostie auf einem Kerzenhalter weggeworfen; eine Frau machte den Priester darauf aufmerksam, der die Hostie daraufhin in ein Gefäß mit Wasser gab und im Tabernakel einschloss. Einige Tage später, am 26. August, hatte sich die Hostie in eine blutig aussehende Substanz verwandelt und erheblich an Größe zugenommen. Fr. Pezet informierte den damaligen Erzbischof Kardinal Bergoglio - den heutigen Papst -, der die Hostie professionell fotografieren ließ. Danach wurde sie weiterhin im Tabernakel aufbewahrt, und als sie auch nach mehreren Jahren keine sichtbaren Zeichen von Zersetzung aufwies, entschied Kardinal Bergoglio, sie wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Am 05.10.1999 entnahm der Wissenschaftler Ricardo Castanon Gomez im Beisein von Vertretern des Erzbistums Proben der Substanz und schickte sie zur Analyse nach New York. Zu den Experten, die die Proben untersuchten, gehörte der renommierte Kardiologe und forensische Pathologe Dr. Frederick Zugibe. Dr. Zugibe kam zu dem Ergebnis, die von ihm untersuchten Gewebeproben seien menschlichen Ursprungs und ließen sich als Fragmente einer linken Herzkammer nahe der Herzklappe identifizieren; zudem deute der hohe Anteil weißer Blutkörperchen darauf hin, dass die Proben einem lebenden Organismus entnommen worden seien. Obendrein lasse die Struktur des Gewebes darauf schließen, dass das Herz schweren Belastungen ausgesetzt gewesen sei.

Die Übereinstimmungen in den Untersuchungsergebnissen zu den verschiedenen Fällen sind bemerkenswert - umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass auch die Reliquien des oben erwähnten eucharistischen Wunders von Lanciano im Jahr 1970 einer wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen wurden und dass diese ebenfalls zu dem Ergebnis kam, dass es sich um menschliches Fleisch und Blut handle und das Fleisch die Struktur von Herzgewebe aufweise. -- Aus gläubiger Sicht kann man in diesen Übereinstimmungen der verschiedenen Fälle ein Indiz für die Wahrheit der betreffenden Wunder sehen; gleichzeitig steht zu vermuten, dass Skeptiker gerade diese Übereinstimmungen verdächtig finden. Es bleibe freilich zu fragen, wie jemand, der explizit nicht an Wunder glaubt, sich die oben beschriebenen Untersuchungsergebnisse erklärt. Wie die Neue Zürcher Zeitung am 21.10.2009 berichtete, erklärte anlässlich des Vorfalls von Sokólka eine "Gesellschaft polnischer Rationalisten", wenn es sich bei den Gewebeproben tatsächlich um Fragmente eines menschlichen Herzmuskels handle, sei dies ein Fall für die Staatsanwaltschaft: "Schlie[ß]lich könne man nicht ausschlie[ß]en, dass mit Leichen Schindluder getrieben worden sei". Solche Annahmen erfordern allerdings offenkundig ein gerüttelt Maß an Verschwörungsdenken; insbesondere wenn, wie im Fall Buenos Aires, ein Gutachten zu dem Schluss kommt, die Gewebeproben seien einem lebenden Organismus entnommen worden, landet man da schnell bei Szenarien, die aus einem Schauerroman aus dem 19. Jh. stammen könnten. Naheliegender mag der Verdacht sein, die Gutachten seien schlicht falsch oder die Berichte über die Untersuchungsergebnisse seien frei erfunden; so wurde anlässlich der Anerkennung des Wunders von Liegnitz/Legnica kritisiert, dass die Namen der Gutachter, ja selbst der Ort des gerichtsmedizinsichen Instituts, an dem das Gutachten erstellt worden sein soll, nicht veröffentlicht wurden. Es kursierten auch Berichte, denen zufolge mehrere andere Gutachter die Veränderungen an der Hostie mit natürlichen Ursachen (Hefepilze o.ä.) erklärt hatten. Wenn aber, wie bei den Ereignissen in Sokólka und Buenos Aires, die Gutachter sehr wohl namentlich genannt werden und es sich dabei um bekannte und angesehene Fachwissenschaftler handelt, wird man kaum unterstellen können, dass diese für ein Gefälligkeitsgutachten im Auftrag der Kirche ihre wissenschaftliche Reputation aufs Spiel setzen würden - oder dass sie nicht widersprechen würden, wenn in ihrem Namen erfundene Untersuchungsergebnisse veröffentlicht würden.

So oder so könnte man sich fragen, warum die genannten Fälle kein größeres Aufsehen erregen: Von wenigen Ausnahmen abgesehen findet man Informationen zu den eucharistischen Wundern von Liegnitz, Sokólka und Buenos Aires nur auf einigen katholischen Websites oder aber auf radikal atheistischen Seiten wie Brightsblog oder Atheist Media Blog - wobei sich letztere nicht einmal die Mühe machen, Einwände bzw. Widerlegungsversuche gegen die Wunderberichte zu formlieren; sie zitieren lediglich die katholischen Quellen, offenbar in der Überzeugung, diese seien auch ohne weiteren Kommentar lächerlich und abstrus genug. Weil nun mal nicht sein darf, was nicht sein kann.

Daran sieht man natürlich auch, dass Wunder allein niemanden zum Glauben bringen. Aber das wusste Jesus Christus schon vor fast 2000 Jahren: "Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht" (Lukas 16,31). Umgekehrt gilt jedoch, was das katholische Magazin Aleteia in einem weiter oben bereits verlinkten Artikel schreibt (hier von mir frei übersetzt):
"Der Glaube hängt nicht von Wundern ab, und diese Phänomene werden nie völlig zufriedenstellend erklärt werden können; aber sie können eine Hilfe in dürren Zeiten sein, indem sie uns daran erinnern, dass wir - so viel wir auch zu wissen glauben - nicht einmal ansatzweise die Wege und Absichten Gottes nachvollziehen können." 


Samstag, 30. April 2016

Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 2

Wir erinnern uns: Im Sommer 1869 ging die Nachricht um die Welt, dass bei der polizeilichen Durchsuchung eines Karmelitinnenklosters im damals zu Österreich-Ungarn gehörigen Krakau eine Frau namens Barbara Ubryk in einem finsteren Verlies entdeckt worden sei, in dem sie jahrelang unter menschenunwürdigen Bedingungen eingekerkert gewesen sei. Nur wenige Wochen darauf begann der Münchner Verlag Neuburger & Kolb mit der Veröffentlichung eines umfangreichen Fortsetzungsromans mit dem Titel Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau, verfasst von einem gewissen "Dr. Rode". Im Einleitungskapitel wird behauptet, der Roman basiere auf Dokumenten, die der Verfasser bei verschiedenen Büchertrödlern in Paris und London entdeckt habe, sowie auf mündlichen Mitteilungen. Die folgenden Kapitel lassen jedoch keinerlei Zusammenhang mit dem Fall Barbara Ubryk erkennen; vielmehr schildern die Kapitel II-VIII (S. 15-82) Intrigen von Jesuiten und Franziskanern in einem Schloss im damals russischen Teil Polens (heute in der Ukraine). 

In Kapitel IX (S. 82-95) wird ein neuer Handlungsstrang eröffnet, der in einem Elendsviertel am Rande von Warschau beginnt. Eine in bitterer Armut lebende Familie hat gerade ihr achtes Kind, einen Knaben, bekommen. Dem versoffenen Vater Jaromir, der sich mit einer adligen Abstammung brüstet und es daher trotz seiner Armut verschmäht, Arbeiten anzunehmen, die er für unter seiner Würde hält, wird in einer Schenke von einem Bekannten (dessen Name, Boleslaw Biernacky, erst in einem späteren Kapitel genannt wird) ein Geschäft vorgeschlagen: Er soll seinen neugeborenen Knaben gegen das Kind einer Gräfin, ein Mädchen, austauschen - da die Gräfin den Zorn ihres derzeit abwesenden Gatten fürchtet, wenn dieser erfährt, dass sie ihm nach acht Jahren kinderloser Ehe immer noch keinen Knaben, sondern eben 'nur' ein Mädchen geboren hat. Dafür soll Jaromir 10.000 Gulden bekommen, wovon Biernacky für seine Vermittlung allerdings 30% Provision verlangt. Trotz des energischen Widerspruchs seiner Frau lässt Jaromir sich auf den Handel ein, doch nach vollzogener Kindsvertauschung vergisst er das Mädchen in einer Schenke, in der er auf dem Rückweg einkehrt. "Wahrscheinlich hatte es einer der anwesenden Fuhrleute oder Juden [...] mit sich genommen" (S. 95). 

Der letzte Satz des Kapitels lautet: "Die Frau hieß Kattinka und der Mann Jaromir Ubryk" (ebd.). Nachdem der Mann bis dahin nur mit dem Vornamen genannt worden und die Frau gänzlich namenlos geblieben war, liegt der Verdacht nahe, dass dieser Satz nachträglich eingefügt wurde, um einen Zusammenhang mit dem Titel des Romans zu suggerieren. Gleichzeitig erscheint es denkbar, dass das ganze IX. Kapitel ein nachträglicher Einschub ist - zumal Kindsvertauschungsgeschichten zwar beim zeitgenössischen Publikum ausgesprochen beliebt waren, es jedoch vollkommen unklar bleibt, worauf dieser Handlungsstrang hinauslaufen soll: Nachdem das vertauschte Grafenkind verschwunden ist, dürfte es schwierig werden, es Ubryk als vermeintlichem Vater zuzuordnen, und die spätere Nonne Barbara kann dieses Kind auch nicht sein, denn dann müsste diese zum Zeitpunkt ihrer Befreiung aus dem Kloster schon 70 Jahre alt sein. 

Die Kapitel X-XIII (S. 95-132) knüpfen wieder an die bisherige Haupthandlung an: Den Jägerburschen Prokop, der an der Gefangensetzung des Pater Gregor mitgewirkt hat, plagt das Gewissen, und er beichtet seine Tatbeteiligung dem Pfarrer von Zitomir. Dieser steckt jedoch mit den Franziskanern unter einer Decke und benachrichtigt die Mönche des nahegelegenen Klosters Worotin, die daraufhin den Pater nach etwa zweiwöchiger Gefangenschaft aus dem Forsthaus befreien lassen; das Forsthaus wird dabei niedergebrannt. Pater Gregor sucht umgehend den Grafen Zolkiewicz auf und enthüllt ihm, dass Rebinsky ein Jesuit sei; zudem redet er dem schwachen und unsicheren Grafen ein, die Beweise, die Rebinsky ihm dafür vorgelegt hat, dass Pater Gregor ihn hintergangen und bestohlen hat, seien von dem Jesuiten gefälscht worden. Der Graf schenkt dem Franziskaner Glauben und verfügt, dass Rebinsky sein Schloss und seine Güter unverzüglich zu verlassen habe; daraufhin spielt dieser seine Trumpfkarte aus und lässt dem Grafen ein bislang zurückgehaltenes Schreiben des Franziskaners zukommen, in dem dieser seinen Ordensoberen unter Bruch des Beichtgeheimnisses die schwersten Verfehlungen des Grafen - nämlich seine Schuld am Tod seines Bruders, seiner ersten Frau und ihres Liebhabers - verrät. Nun wird statt des Jesuiten der Franziskaner von den Gütern des Grafen verbannt und Rebinsky wieder in Gnaden aufgenommen; das Schreiben, das die früheren Verbrechen des Grafen enthüllt, leitet er derweil an seine Ordensoberen in Rom weiter - warum erst jetzt und nicht schon früher, nun ja, das gehört zu den Inkonsistenzen des Romans, die zuweilen den Eindruck erwecken, der Autor wisse ebensowenig, was seine Figuren als nächstes tun werden, wie diese selbst. 

Recht interessant ist ein Religionsgespräch zwischen dem Grafen und Rebinsky in Kapitel XI, in dem der Jesuit - offenbar in der Absicht, jeglichen bleibenden Eindruck der Lehren Pater Gregors auf den Grafen auszulöschen - einem religiösen "Indifferentismus" (S. 105) das Wort redet und verschiedene Lehren der Katholischen Kirche explizit leugnet - vor allem die der Wirksamkeit des Sakraments der Beichte zur Vergebung der Sünden: "Ein Priester ist ein Mensch wie ein anderer, und wenn er behauptet, die Macht der Sündenvergebung zu besitzen, so geschieht dies nur, um dadurch sich die Herrschaft über die Seelen der Gläubigen anzumassen [sic] und egoistische Zwecke zu verfolgen" (S. 106). Den Franziskaner überrascht diese Taktik seines Widersachers allerdings überhaupt nicht: "Dem Jesuiten ist jedes Mittel heilig, wenn es ihn zu seinem Zwecke führt. Er verläugnet seinen Orden, seine Religion, er tritt als Weltmann auf unter allen Formen, wenn er dadurch zum Ziele gelangen kann" (S. 112). 

Derweil scheint Rebinskys vorrangiges Ziel darin zu bestehen, die junge Comtesse Elka zu verführen: In seiner Eigenschaft als Hauslehrer nutzt er sogar das Fach Biblische Geschichte, um durch die Erzählungen von König Davids "Abenteuer mit der Gemahlin des Urias" und den "tausend Frauen" Salomos (S. 116) die Leidenschaft des Mädchens zu wecken. Parallel dazu macht Gräfin Julie - die zweite Frau des Hausherrn - dem Lehrer ihrer Stieftochter immer deutlichere Avancen; die Überschrift des XIII. Kapitels bezeichnet sie gar als "moderne Putiphar" (sic!; S. 124). Rebinsky ist zwar durchaus gewillt, sich die Liebesfreuden mit der Gräfin nicht zu versagen, aber erst einmal will er die pubertierende Elka vernaschen und schleicht sich zu diesem Zweck - mit ihrem Einverständnis, wohlgemerkt - in ihr Schlafzimmer. Und was passiert dort? 
"Wir bedauern, hier in der Uebersetzung abbrechen zu müssen und die weitere Folge des Kapitels nicht mittheilen zu können; denn leider fehlen an dieser Stelle in unserem Manuskripte mehrere Blätter." (S. 131) 
Na, das ist ja mal eine verschämte Art, von einer Quellenfiktion Gebrauch zu machen! -- Das Kapitel endet damit, dass der Förster des Grafen erhängt aufgefunden wird - vermutlich ein Racheakt der Franziskaner für die Gefangensetzung des Pater Gregor, als dessen Gefängniswärter der Förster fungiert hatte. 

Fassen wir mal bis hierher zusammen: Wir befinden uns in der 3. Lieferung, der Autor hat bereits mehr als 10% des ihm zur Verfügung stehenden Platzes verbraucht, auf dem Umschlag der Lieferungshefte steht immer noch "Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau", und die Leser, die sich ab der zweiten Lieferung zur Abnahme des ganzen Werks verpflichtet haben, warten auf sensationelle Enthüllungen über die Hintergründe eines aufsehenerregenden aktuellen Ereignisses - und die Handlung spielt nach wie vor knapp 70 Jahre in der Vergangenheit, ist noch nicht einmal in die Nähe von Krakau gekommen, und auch von einem Karmeliterkloster oder irgendwelchen Karmelitern ist weit und breit keine Spur. Der Name Ubryk wurde erst zweimal am Rande erwähnt. Wie lange werden sich das die zeitgenössischen Leser gefallen lassen? 

Nun, in den Kapiteln XIV-XVI (S. 132-158) spielt immerhin wieder der in Kapitel IX eingeführte Jaromir Ubryk die Hauptrolle. Als er ohne Kind nach Hause zurückkehrt, verschlimmern sich die Wochenbettbeschwerden seiner Frau durch den Gram über die Wegnahme ihres neugeborenen Knaben dramatisch, und bald darauf stirbt sie unter schrecklichen Krämpfen. Jaromir tröstet sich in der Schenke - wo auch sonst - und trifft dort erneut auf seinen Bekannten Biernacky, dem er zunächst Vorwürfe macht, weil er ihn zu der Kindsvertauschung angestiftet hat. Biernacky jedoch hat schon wieder einen spektakulären Vorschlag für seinen alten Freund Jaromir - und diesmal geht es, ganz im Stile der "Historisch-politischen Romane aus der Gegenwart" von Sir John Retcliffe alias Hermann Goedsche, um eine politische Verschwörung. Von der Qualität der Romane Retcliffes ist Dr. Rode allerdings weit entfernt: 
"Die schrecklichen Ereignisse, von denen Du bei der Erstürmung von Warschau durch die Russen vor einigen Jahren Zeuge warst, werden Dir noch frisch im Gedächtnisse sein. Die Moskowiter metzelten Männer, Greise und Kinder unbarmherzig nieder und begingen himmelschreiende Grausamkeiten. Kosziusko [sic] fiel und rief: Finis Poloniae! Polen wurde getheilt, jedoch wollen wir hoffen, daß diese Theilung nicht lange bestehen werde, es muß wieder ein großes mächtiges Reich werden. das Volk ist der Tyrannei seiner Unterdrücker müde und wartet nur auf das Zeichen und den Augenblick, um dieses drückende Joch abzuschütteln." (S. 137) 
Kurz und gut: Biernacky will Jaromir für einen polnisch-nationalistischen Geheimbund rekrutieren - und verrät ihm auch gleich dessen Pläne: "An einem bestimmte Tag soll [...] im ganzen Königreiche die Erhebung losbrechen, und alle Russen, die sich im Lande befinden, gleichzeitig ermordet werden" (ebd.). 

-- Was fällt uns daran auf? Zunächst einmal entspricht es zwar den historischen Tatsachen, dass die Russen bei der Niederschlagung des Kósciuszko-Aufstandes im November 1794 ein Massaker im Warschauer Vorort Praga anrichteten; hingegen ist der Satz "Kosziusko fiel und rief: Finis Poloniae!" mindestens irreführend, und das in mehrfacher Hinsicht: Tadeusz Kósciuszko war bereits knapp einen Monat vorher, am 10. November 1794, in der Schlacht von Maciejowice verwundet worden und in Gefangenschaft geraten, aber nicht 'gefallen'; bei dieser Gelegenheit soll er den Ausspruch "Finis Poloniae!" ("Das Ende Polens!") getätigt haben, was er selbst jedoch später bestritt. Nachdem Zar Paul I. ihn 1796 begnadigt hatte, lebte Kósciuszko im Exil in den USA und der Schweiz und starb erst 1817; zur Handlungszeit dieser Szene des Romans war er vom Exil aus noch durchaus aktiv in der polnischen Nationalbewegung. 

Der gravierendste, auch für den weiteren Handlungsverlauf des Roman folgenreichste historische Patzer dieser Passage ist jedoch, dass stillschweigend vorausgesetzt wird, Warschau habe bereits zu diesem Zeitpunkt der Handlung zum russischen Teil Polens gehört: Tatsächlich wurde Warschau in der 3. Polnischen Teilung von 1795 Preußen zugeschlagen und kam erst 1815 in Folge des Wiener Kongresses als Hauptstadt des in Personalunion mit dem Kaisertum Russland regierten Königreichs Polen (auch "Kongresspolen" genannt) unter russische Herrschaft. 

Auch ganz abgesehen von solchen historischen Fehlern und Unstimmigkeiten wirkt dieser neuerliche Wendepunkt der Handlung - dass derselbe Mann, der Jaromir gerade erst zu einer Kindsvertauschung angestiftet hat, ihn gleich am nächsten oder übernächsten Tag in eine politische Verschwörung einweiht - sonderbar unplausibel und übers Knie gebrochen. Einem Retcliffe wäre vermutlich eine zwar verzwickte, aber doch halbwegs nachvollziehbare Begründung dafür eingefallen, warum Jaromir erst eine Kindsvertauschung ins Werk setzen musste, ehe er in die Umsturzpläne gegen die russische Herrschaft in Polen eingeweiht werden konnte; Dr. Rode bliebt diese Begründung schuldig, und so entsteht der Eindruck, der Autor habe sich, nachdem er den Handlungsstrang um die Kindsvertauschung durch das Verschwinden des einen Säuglings vorerst an die Wand gefahren hat, auf die Schnelle etwas Neues ausdenken müssen. -- Jedenfalls endet das XIV. Kapitel mit der Aufnahme Jaromir Ubryks in den nationalrevolutionären Geheimbund, und somit darf sich der Leser über ein freimaurerisch inspiriertes Initiationsritual mit allem genreüblichen Brimborium (Totenschädel, Dolch etc.) freuen. Der Versammlungsort der Verschwörer liegt übrigens in "den Kellern des Jesuitenklosters" (S. 144), womit angedeutet wird, dass die polnische Nationalbewegung insgeheim vom katholischen Klerus gelenkt wird - auch dies ein zeittypisches Klischee, das gleichzeitig eine assoziative Verknüpfung mit der antiklerikalen und insbesondere antijesuitischen Tendenz der Haupthandlung um den skrupellosen Pater Rebinsky herstellt. 

Geht man davon aus, dass jede Lieferung des Romans drei Druckbogen à 16 Seiten umfasste, dann markiert die Verschwörerszene im Klostergewölbe den Schluss der 3. Lieferung. Interessant wäre es natürlich, zu wissen, in welchem zeitlichen Abstand die einzelnen Lieferungen erschienen; aber vielleicht ergeben sich diesbezüglich später noch Indizien. 

(Fortsetzung folgt!)