Mittwoch, 3. Dezember 2025

Wer hat den Regenbogen geklaut?

Meine liebliche Heimatgemeinde Butjadingen hat eine neue Regenbogenflaggen-Affäre, gerade mal zweieinhalb Jahre nach der letzten: Kaum zurück vom Bandwochenende, erhielt ich via Facebook Kunde von einem skandalösen Vorfall im sonst eher beschaulichen Straßendorf Waddens. Dort wurden "Hunderte von Regenbogen-Fähnchen aus [...] Vorgärten gestohlen", hieß es. Mir drängte sich da gleich der Eindruck auf, die größere Story sei eigentlich, wie diese "Hunderte von Regenbogen-Fähnchen" überhaupt in die betreffenden Vorgärten hineingekommen waren. Die Berichte der Nordwest-Zeitung und der Kreiszeitung Wesermarsch zu diesem Vorfall verbargen sich zwar hinter Bezahlschranken, aber mit Hilfe meiner Kontaktpersonen vor Ort bekam ich sie im Laufe des Montags (voriger Woche) dennoch zu Gesicht und konnte daraus entnehmen, dass in ganz Butjadingen dazu aufgerufen worden war, die Vorgärten mit Regenbogenfahnen zu dekorieren, und im Straßendorf Waddens war diesem Aufruf besonders eifrig gefolgt worden – von rund 400 Fähnchen war in den Presseberichten die Rede. Das wirft natürlich Folgefragen auf, wie zum Beispiel: Wer hat zu dieser Aktion aufgerufen, was war der Anlass, und wieso Regenbogenfahnen? Pride Month und Christopher Street Day sind doch wohl schon ein bisschen her. 

Die Antworten, die die Presseartikel auf diese Fragen geben, sorgen bei mir eher für noch mehr Verwirrung. Laut Nordwest-Zeitung handelte es sich um eine "von der evangelischen Kirche initiierte Aktion [...] unter dem Motto 'Unser Kreuz hat keine Haken'", die Kreiszeitung Wesermarsch präzisiert, "[d]ie Kirchengemeinden in Butjadingen" – auch die katholische – "sowie mehrere Bürgervereine" hätten "zu der Aktion aufgerufen", und zwar "als Zeichen des stillen Protests gegen einen Infostand der AfD, der am Sonnabend auf dem Kirchplatz in Burhave stattfand". 

Äh – aha. A lot to unpack here, wie der Angloamerikaner sagt. Also, noch einmal gefragt: Warum Regenbogenflaggen? "Ein Zeichen für Demokratie, Vielfalt und Toleranz" (KZW) bzw. für "Respekt, Toleranz und Frieden" (NWZ) sollten diese Fähnchen sein, war zu lesen. Na klar; und das Hakenkreuz ist ein buddhistisches Glückssymbol. – Im Ernst: Unter der Bezeichnung "Regenbogenflagge" könnte man sich theoretisch eine Vielzahl verschiedener Flaggendesigns vorstellen, von der Bandiera della Pace der italienischen Friedensbewegung, die besonders seit dem Irak-Krieg von 2003 internationale Bekanntheit und Verbreitung gefunden hat, bis hin zu Flaggen, auf denen ein buchstäblicher Regenbogen abgebildet ist; aber wie man auf den in der Lokalpresse veröffentlichten Fotos von der Vorgarten-Beflaggungsaktion in Butjadingen deutlich sehen kann, handelte es sich hier um die sechsstreifige Flagge in der Farbreihenfolge rot-orange-gelb-grün-blau-violett, und das ist nun einmal eindeutig und unverwechselbar die Gay Pride Flag, das 1978 von Gilbert Baker entworfene internationale Symbol der LGBTQ-Bewegung. Und, wie dereinst Marlene Dietrich sang: Und sonst gar nichts. Wenn dieses Banner nun von den Kirchen, einschließlich der katholischen, für den Protest gegen die AfD instrumentalisiert wird, ist das gleich in mehrfacher Hinsicht tragikomisch. Auf der einen Seite fühle ich mich veranlasst, etwas zu wiederholen, was ich schon vor einem halben Jahr geschrieben habe

"Im Internet kursiert immer mal wieder ein altes Stasi-Papier über 'Erscheinungsformen negativ-dekadenter Jugendlicher in der DDR' , und darin heißt es, die Punk-Szene in der DDR sei fest in der kirchlichen offenen Jugendarbeit verwurzelt und werde von Diakonen geleitet. Klingt bizarr, aber ich habe ein bisschen den Eindruck, über die LGBTQ-Szene in der Wesermarsch könnte man Ähnliches behaupten." 

Symbolbild: Aufkleber an einem Laternenpfahl in Nordenham, gesehen im August 2024

Okay: Bei den evangelischen Landeskirchen, die sich ja schon für die gleichgeschlechtliche Ehe stark machten, bevor diese gesetzlich eingeführt wurde, und in der sich auch lesbische Pastorinnenehepaare eine Pfarrstelle teilen können, wirkt das noch halbwegs glaubwürdig. Aber dass die katholische Kirche nicht "LGBT-affirming" ist, das weiß nun wirklich jeder, sogar Leute, die ansonsten nichts über die katholische Kirche wissen, oder sogar gerade diese; da können sich Leute wie Diakon Richter noch so sehr verrenken, um diesen Eindruck zu erwecken, es stimmt einfach nicht

Freilich: Wenn man in der NWZ liest, die Kirchengemeinden beriefen sich bei dieser Flaggenaktion auf die Bedeutung des Regenbogens "als biblisches Zeichen des Friedens", erinnert das durchaus an die im März 2023 veröffentlichte "Stellungnahme der Seelsorger der katholischen Kirchengemeinde St. Willehad Nordenham zur Regenbogenfahne am Gästehaus und Pfarrheim Rat-Schinke-Haus in 26969 Butjadingen-Burhave", in der argumentiert wurde, dass der Regenbogen "[s]eit Menschengedenken" ein "Symbol des Bundes zwischen den Menschen und Gott" sei und "bis heute selbstverständlich als Symbol des Segens angesehen" werde. Diese Argumentationslinie könnte man natürlich als eine clevere Strategie interpretieren, der LGBTQ-Bewegung gewissermaßen die Deutungshoheit über dieses Zeichen zu entwinden und es für eigene Zwecke zu "appropriieren". Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass die Leut' überhaupt so weit denken. Ich glaube vielmehr, hinter der Karriere der Gay Pride Flag als angebliches Symbol für Respekt, Toleranz, Vielfalt, ja gar für Frieden und Demokratie steckt eine viel schlichtere Denke: "Homophobie" wird als irgendwie "rechts" wahrgenommen, also bedeutet "gegen Rechts sein" auch "gegen Homophobie sein" und umgekehrt. Dass es Umfragen gibt, die nahelegen, dass es in Teilen der LGBT-Community, besonders unter männlichen Homosexuellen, eine durchaus signifikante Zahl von AfD-Anhängern gibt, passt da zweifellos nicht so richtig ins Bild, aber hey, was soll man machen. 

Die lokale Presse zeigt sich jedenfalls nach Kräften bestrebt, ihren Lesern ein eindeutiges Narrativ zu präsentieren, in dem Gut und Böse klar voneinander zu unterscheiden sind und die Moral von der Geschicht' sicherheitshalber gleich mitgeliefert wird. So frohlockt NWZ-Redakteur Norbert Hartfil, den ich von früher her eigentlich als vergleichsweise besonnenen Journalisten in Erinnerung hatte, am Ende seines recht pathetisch "Waddenser rücken nach Flaggendiebstahl noch enger zusammen" betitelten Artikels, die Entwendung der Fähnchen habe "der Aktion nicht geschadet, sondern ihr am Ende noch mehr Gewicht verliehen". 

Im Laufe des Montags erschien dann in der Online-Ausgabe der Kreiszeitung noch ein Kommentar des Redaktionsleiters Detlef Glückselig, der unter der Überschrift "Wo Kichergesichter von einem Trauerspiel zeugen" die Reaktionen von Facebook-Nutzern auf den Vorfall ins Visier nimmt. Was ja eine bewährte, wenn auch etwas schlampige Journalistenmasche ist, aus einem Thema, über das man bereits berichtet hat, noch "mehr rauszuholen"; manch einer würde vielleicht auch "ragebait" dazu sagen. – Eingeleitet wird dieser Kommentar durch den Satz "Detlef Glückselig versteht die Welt nicht mehr" – was natürlich dazu einlädt, zu fragen "Hat er sie denn je verstanden?"; aber lassen wir das. Um deutlich zu machen, wie eindeutig die moralischen Gewichte in dieser Angelegenheit seiner Auffassung zufolge verteilt sind, stellt der Redakteur die These auf, die Teilnehmer einer Protestveranstaltung gegen den AfD-Infostand auf dem Kirchplatz in Burhave "wären ganz sicher nicht auf die Idee gekommen, zur AfD rüberzugehen und deren Stand zu demontieren oder das Infomaterial einzusammeln und in den nächsten Papierkorb zu stopfen". Nun, gehen wir mal davon aus, dass das in diesem konkreten Fall tatsächlich nicht geschehen ist, aber vielleicht wäre Detlef Glückselig sich darüber – zumindest was das bloße "Auf-die-Idee-Kommen" angeht – nicht ganz so sicher, wenn er sich mal mit Leuten, die für die AfD Wahlkampf machen, über deren Erfahrungen unterhalten hätte. Nur im Interesse journalistischer Sorgfalt und Neutralität, versteht sich. 

Vor allem aber werden in seinem Kommentar jene abgestraft, die sich über den Flaggenklau nicht gebührend empört zeigen: Wie "die Facebook-Community auf den Vorfall reagiert" – "[n]ämlich weit überwiegend mit Häme und beißendem Spott" –, findet er "[e]rschreckender noch als de[n] Diebstahl an sich und die Dreistigkeit, mit der er begangen wurde". Und: "Diejenigen, denen es an Zeit oder dem Sprachvermögen für einen Kommentar mangelte, haben einfach ein Kichergesicht hinterlassen. Sie finden den Diebstahl also offenbar lustig." Und das geht ja gar nicht

Mein eigener Eindruck von den Reaktionen auf Facebook war ein etwas anderer. Noch ehe ich die Berichte der beiden Lokalzeitungen hatte zur Kenntnis nehmen können, hatte ich in einem Kommentar auf der Seite der Kreiszeitung die Ansicht geäußert, die Einstufung der Tat als "Diebstahl" werde dem zu vermutenden Tatmotiv wohl kaum gerecht: Diebstahl setze die Absicht voraus, sich fremdes Eigentum anzueignen, wohingegen hier die Absicht einigermaßen offensichtlich darin bestanden habe, die Fahnen aus dem Straßenbild zu entfernen. Gewiss, man kann sagen, es hätte mir nichts geschadet, mir diesen Kommentar zu verkneifen, aber ich hatte da eine Art déja-vû-Erlebnis: Ich fühlte mich an den Fall der Pachamama-Statuen erinnert, die am Rande der Amazonas-Synode 2019 aus einer römischen Kirche entwendet und in den Tiber geworfen wurden. Da gab es auch Stimmen, die meinten, die Aktion sei unchristlich, weil Diebstahl gegen die Zehn Gebote verstoße. Da dachte ich mir dann auch: Man kann die Entwendung und Versenkung der Pachamama ja durchaus kritisieren, aber doch nicht mit derart läppischen und offensichtlich unsachgemäßen Argumenten. – Auch im aktuellen Fall in Waddens ist es, wie ich in der Facebook-Diskussion auch einräumte, letztlich eine rechtsphilosophische Frage, ob die Tat als Diebstahl zu bewerten ist, und man kann und darf darüber unterschiedlicher Meinung sein; es meldeten sich aber sogleich Diskussionsteilnehmer zu Wort, denen es nicht genügte, anderer Meinung zu sein, sondern die meine Wortmeldung prompt als "Blödsinn" qualifizierten und sich darüber empörten, dass jemand so etwas sagt. Insbesondere wurde nicht verstanden, dass die Aussage, die Bezeichnung "Diebstahl" passe nicht so recht zu dieser Tat, noch nicht gleichbedeutend damit ist, die Tat gutzuheißen oder zu rechtfertigen. Als ich dies einem Diskussionsteilnehmer gegenüber klarzustellen versuchte, meinte dieser daraufhin (!), es sei offensichtlich zwecklos, mit mir diskutieren zu wollen – womit er offenbar meinte, ich sei zu blöd dazu. Dunning-Kruger-Effekt in Aktion, würd ich mal sagen. Dass die Leut' ein Rechtsverständnis auf Grundschulniveau haben ("Etwas wegzunehmen, was einem nicht gehört, ist Diebstahl, was denn sonst?"), ist das eine; hinzu kommt aber, dass Argumente, denen sie mangels Fähigkeit und Bereitschaft zum Differenzieren nicht folgen können, sie wütend machen. – Fairnesshalber sei indes erwähnt, dass ich für mein Statement, rein quantitativ betrachtet, erheblich mehr Zustimmung als feindselige Kommentare erntete: 45 "Likes" bis zum Montagabend – wahrscheinlich alles Nazis, oder? Mein alter frenemy Detlef Glückselig jedenfalls bezieht in der Frage "Diebstahl oder nicht?" demonstrativ Stellung, indem er in seinem Kommentar insistiert, die Fähnchen seien "eingesammelt – genauer: gestohlen" worden. Im Übrigen wurde am Montagabend unter dem Facebook-Beitrag der Kreiszeitung die Kommentarfunktion eingeschränkt – im Namen von Demokratie, Vielfalt und Toleranz, muss man wohl annehmen. 

Was man hier sehr schön sehen kann, ist, dass zu den wohl tragikomischsten Effekten des die öffentliche Debatte dominierenden Links-Rechts-Tribalismus die Annahme gehört, die Leute auf der eigenen Seite seien grundsätzlich klüger, anständiger, gesetzestreuer und hätten bessere Manieren als die im gegnerischen Lager. Schon allein der Umstand, dass dies regelmäßig von beiden Seiten behauptet wird, könnte einem zeigen, dass daran irgend etwas nicht stimmen kann. Tatsächlich bin ich der Überzeugung, dass es weitgehend von äußeren Umständen (Erfahrungshintergrund, soziales Umfeld, Informationsquellen usw.) abhängig und somit im aristotelischen Sinne eher zufällig ist, ob jemand sich politisch "rechts" oder "links" verortet, und somit sagt es nicht zwingend etwas über den Charakter aus. Ich selbst zum Beispiel habe mich seit meiner Zeit bei der Jungen Union (isn't it ironic) eigentlich immer als "links" betrachtet, stelle aber seit Jahren fest, dass "Linkssein" mehr und mehr mit Positionen in Verbindung gebracht wird, mit denen ich mich ganz und gar nicht identifizieren kann, und dass umgekehrt immer mehr Überzeugungen, zu denen ich mich bekenne, als "rechts" eingeordnet werden. Das hat aber nichts mit mir zu tun, in dem Sinne, dass ich in meinen Ansichten "nach rechts gerückt" wäre. 

Es gibt natürlich auch Leute, bei denen ist das anders: Für die folgt aus ihrem Selbstverständnis "als Linke", dass sie sich ohne Wenn und Aber mit allem Möglichen identifizieren, was im öffentlichen Diskurs als "links" eingeordnet wird; auch dann, wenn sie vorletzte Woche noch das Gegenteil vertreten haben. Die Mainstream-Variante dieses Phänomens dürften Leute sein, die sich zwar nicht explizit als links definieren, wohl aber die Auffassung teilen, es sei quasi oberste Bürgerpflicht, "gegen Rechts" zu sein, und daher alles vehement ablehnen, wovon sie mal irgendwo gehört haben, es sei "rechts". Für solche Leute ergibt es wahrscheinlich auch irgendwie Sinn, mit Regenbogenfähnchen gegen die AfD zu protestieren...