Montag, 27. September 2021

Ansichten aus Wolkenkuckucksheim #17 (26. Woche im Jahreskreis)

Was bisher geschah: Wie schon angekündigt, haben meine Familie und ich die zurückliegende Woche an der Waterkant verbracht, zuerst in Butjadingen, dann in Ostfriesland (dies sind in der Tat zwei verschiedene Landschaften, und die Einheimischen und Ex-Einheimischen schätzen es gar nicht, wenn man diese miteinander verwechselt oder meint, das sei "alles dasselbe"). Am vergangenen Montag, dem Gedenktag der koreanischen Märtyrer, brachen wir morgens in Berlin auf und kamen am frühen Nachmittag in Nordenham an, wo wir von meiner Mutter am Bahnhof abgeholt wurden, am Marktplatz einen Corona-Schnelltest machten und dann in einer Bäckerei Kaffee und Kuchen genossen, ehe wir mit dem Bus nach Burhave weiterfuhren. Dort mieteten wir beim Fahrradverleih am Strand wieder denselben Croozer-Wagen, der uns schon in unserem Urlaub Anfang Juni gute Dienste geleistet hatte, und checkten dann erst einmal in unsere Ferienwohnung ein. Diese war durchaus geräumig und gemütlich, allerdings - zu meinem Amüsement - konservativer eingerichtet als das Haus alt ist. Ist das ein bisschen kraus formuliert? Was ich meine, ist, dass die ganze Siedlung, zu der dieses Haus gehört, meines Wissens erst in den 1990er-Jahren erbaut wurde, und die Wohnungseinrichtung muss (abgesehen vom Flachbildfernseher, den wir während der dreieinhalb Tage unseres Aufenthalts nicht benutzt haben) schon damals altmodisch gewirkt haben. Aber macht ja nichts! Während Frau und Kinder sich von der Reise ausruhten, ging ich erst mal einkaufen und kam dabei auch an der katholischen Kirche Herz Mariä vorbei, wo ich schnell mal auf den Aushang schaute. Der Befund war eher deprimierend: Im aktuellen Wochenplan war für die gesamte Pfarrei keine einzige Werktagsmesse vorgesehen, nur Wortgottesdienste bzw. "Wort-Gottes-Feiern". Sonst war dienstags Messe in St. Willehad, aber die Kirche wird derzeit renoviert, und während die Sonntagsmessen und die Messe zum Herz-Jesu-Freitag (immerhin, die gibt es noch!) ins Pfarrheim verlegt werden, fallen die Dienstagsmessen ersatzlos aus. Besonders bezeichnend erschien mir, dass am Mittwoch der Diakon einen Wortgottesdienst im Seniorenheim in Rodenkirchen feierte (wir erinnern uns: In Rodenkirchen wurden die Gottesdienste komplett ins Seniorenheim verlegt und die Kirche St. Josef profaniert), während gleichzeitig der Pfarrer beim Seniorentreff im Nordenhamer Pfarrheim einen Vortrag über den Jakobsweg hielt. Das sagt viel über Prioritäten aus, scheint mir. Wir erwogen trotzdem, am Mittwoch um 16:30 Uhr zum Kindertreff ins Pfarrheim zu gehen, hatten dann aber doch Anderes zu tun -- dazu später. 

Am Dienstag ließen wir uns vom durchwachsenen Wetter nicht davon abhalten, vormittags an den Strand zu gehen, oder genauer gesagt: auf den Spielplatz am Strand. Danach gingen wir Mittagessen im "Kachelstübchen" (immer gut!). Am Nachmittag gingen wir noch auf einen anderen Spielplatz, der vorrangig von der Kita genutzt wird, außerhalb der Kita-Zeiten aber auch der Öffentlichkeit zur Verfügung steht (eine sehr faire Regelung, wie ich finde), und verbrachten den Rest des Tages in unserer Unterkunft. 

Für Mittwoch hatten wir ins Auge gefasst, eventuell in ein Schwimmbad zu gehen, und wollten uns daher gleich morgens einen tagesaktuellen Corona-Schnelltest besorgen -- in der Apotheke. Was wir nicht wussten, war, dass man dort nur mit Termin getestet werden konnte. Angesichts der Tatsache, dass in der Apotheke nicht gerade großer Andrang herrschte, als wir dort aufschlugen, hätte man vielleicht annehmen können, es wäre möglich gewesen, uns spontan zwischenzuschieben, aber so sind die Butjenter nicht. Meine Liebste war stinksauer, aber ehe sie den Laden auseinandernehmen konnte, sagte ich "Lass uns erst mal rausgehen und überlegen, was wir jetzt machen." Wir fuhren dann mit dem Bus nach Tossens, wo es zwei Testzentren gab, bei denen man keine Anmeldung brauchte. Zur Belohnung wurde, während wir im Außenbereich eines Bäckerei-Cafés auf unsere Testergebnisse warteten, das Wetter richtig schön und blieb auch für den Rest des Tages so; also gingen wir an den Strand. Baden gingen wir zwar nicht, aber meine Tochter und ich hielten immerhin ein bisschen die Füße in die Nordsee -- die am Ende des Sommers verhältnismäßig warm war. -- Später fuhren wir zum Grillabend auf Hof Iggewarden. Ein absolutes Muss. Wer in Butjadingen Urlaub macht und sich den Grillabend auf Hof Iggewarden entgehen lässt, ist selber schuld. Besonders schön war, dass unsere Tochter dort ein etwa gleichaltriges Mädchen traf und mit diesem auf der Schafweide herumtollte. 

Derweil ging unser Windelvorrat empfindlich zur Neige. Da die beiden Burhaver Supermärkte zwar über eine Drogeriewaren-Abteilung verfügten, ich aber wenig Lust verspürte, durchs ganze Dorf zu zockeln, nur um dann womöglich festzustellen, dass es keine Windeln in den von uns benötigten Größen gab, fuhren wir am Donnerstag nach dem Frühstück lieber gleich mit dem Bus nach Nordenham, um in einen richtigen Drogeriemarkt zu gehen und bei der Gelegenheit auch gleich einen neuen tagesaktuellen Corona-Test machen zu lassen  Anschließend fuhren wir nach Fedderwardersiel und gingen dort ins Nationalpark-Haus. Da waren wir schon im Juni gewesen, und es hatte unserer Tochter sensationell gut gefallen; so auch diesmal wieder. Wir hatten geradezu Mühe, sie da wieder 'rauszukriegen, aber der Kleine wurde unruhig und musste gestillt werden, und wir Großen hatten ebenfalls Hunger. Also gingen wir zum Mittagessen ins "Havenhuus" (die frühere Hafenmeisterei): Sehr leckeres Essen, ausgesprochen gute und kinderfreundliche Bedienung. Inzwischen war es sehr stürmisch geworden, und wir hatten Glück, nach dem Essen gleich einen Bus zu erwischen, der uns nach Burhave zurückbrachte. Meine Liebste ging mit den Kindern in die Spielscheune, und ich hatte den Nachmittag "frei". Dies nutzte ich u.a. zu einem Besuch in der tagsüber offenen Kirche Herz Mariä, wo ich zunächst - still - die Novene zur Hl. Thérèse von Lisieux betete. Danach war es 17:30 Uhr, und ich beschloss spontan - auch weil mir ein- bzw. auffiel, dass es der Gedenktag des Hl. Pater Pio war -, auch noch die Vesper zu beten, und zwar nicht still. Als ich die Kirche wieder verließ, empfing mich - nachdem auf dem Hinweg Regen und Wind geherrscht hatten - herrlichster Sonnenschein. 

Erwähnen will ich noch, dass ich aus der Kirche eine Broschüre von donum vitae mitnahm. Eigentlich finde ich es ja schon mehr als grenzwertig, dass ein in offener Rebellion gegen die lehramtliche Autorität der Kirche gegründeter Verein sein Infomaterial in einer Kirche auslegen darf, aber in Zeiten von Maria Zwonull und Co. muss man sich darüber wohl nicht wundern. -- Ich las in der Broschürenur wenig, aber das Wenige genügte mir vollauf. Der Artikel "Schwangerschaftskonfliktberatung: Mit der Frau, nicht gegen sie" (S. 5) - der ja im Grunde schon in der Überschrift eine üble Verleumdung gegen dem Anliegen des Lebensschutzes verpflichtete Beratungsstellen wie etwa Pro femina enthält - beginnt mit einem Zitat aus der Publikation "Kleine Texte aus dem Evangelischen Zentralinstitut für Familienberatung", Nr. 19/1990:

"Was den Schwangerschaftskonflikt so unerträglich macht, ist das Recht des Ungeborenen auf Leben, und das Recht der Frau auf ihr eigenes Leben. Wie auch immer sie sich in einem Schwangerschaftskonflikt entscheidet, sie entscheidet sich gegen einen Teil ihrer Person." 

Mal abgesehen vom schmalzigen Stil verrät es schon ein arg beschädigtes Menschenbild, wenn hier behauptet wird, eine Frau, die sich trotz Schwierigkeiten dazu entschließt, eine ungewollte Schwangerschaft auszutragen, würde damit "einen Teil ihrer Person" aufgeben oder verleugnen. Dazu, dass das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit einerseits und das vermeintliche Recht auf das, was die säkular-hedonistische Kultur unter "Selbstverwirklichung" versteht, als gleichwertig behandelt werden, könnte man natürlich sagen: immerhin als gleichwertig; das ist schon mehr, als die radikale "Pro Choice"-Fraktion zugestehen würde. Aber wenn so etwas aus einer sich selbst als explizit christlich verstehenden Perspektive kommt, finde ich das schon einigermaßen bizarr. 

Eine andere Beobachtung aus Nordenham und Butjadingen: Einen für mich überraschend häufigen Anblick bildeten Rasenmähroboter in den Vorgärten zahlreicher Ein- bis Zweifamilienhäuser. "Auch ein Argument gegen das Vollzeit-Doppelverdiener-Familienmodell", merkte meine Liebste an. "Da arbeitet man den ganzen Tag, um sich ein Haus mit Garten leisten zu können, und dann hat man keine Zeit, sich um den Garten zu kümmern." -- "Früher", wandte ich ein, "haben Familienväter das Rasenmähen gern an ihre nicht mehr allzu kleinen Kinder delegiert und ihnen damit eine Möglichkeit gegeben, ihr Taschengeld aufzubessern. Und oft haben dann Nachbarn, die selbst keine für diese Aufgabe geeigneten Kinder hatten, diese Kinder engagiert, auch bei ihnen den Rasen zu mähen, und so konnten sie ihr Taschengeld noch mehr aufbessern. Wie in dieser 'Pepper Ann'-Folge. Das hatte einen gemeinschaftsstabilisierenden Effekt. Die Anschaffung von Rasenmährobotern hat keinen gemeinschaftsstabilisierenden Effekt -- eigentlich sogar im Gegenteil: Wie soll man sich denn jetzt als Schüler etwas dazuverdienen?" -- "Mit Handyspielen", warf meine Liebste ein. (Klingt bizarr, aber es gibt tatsächlich Spiele-Apps, mit denen die Nutzer Geld verdienen können. Ist allerdings sehr zeitaufwendig.) 

Was man daraus (unter anderem) lernen kann, ist, dass der technische Fortschritt in Butjadingen vorrangig in seinen negativen Aspekten ankommt - in jenen, die es den Butjentern ermöglicht, ihren antisozialen Neigungen zu frönen und zwischenmenschliche Kontakte zu vermeiden. Hier Beweisstück B: 

Am Freitag trafen wir uns am Bahnhof in Nordenham mit meiner Mutter, um gemeinsam mit ihr die Reise nach Ostfriesland anzutreten, wo meine Schwester und mein Schwager wohnen. Wie schon erwähnt, feierte meine Schwester ihren 50. Geburtstag und hatte dazu die ganze Familie eingeladen; allen einen Schlafplatz anbieten konnte sie aber beim besten Willen nicht, daher hatte meine Liebste eine Ferienwohnung im Nachbardorf gebucht. Bevor wir dort einchecken konnten, gab es noch etwas Stress, da wir noch kurzfristig einen tagesaktuellen Corona-Test organisieren mussten; aber danach gab's lecker Abendessen bei Schwester und Schwager, meine beiden Neffen waren ebenfalls bereits angereist, und es wurde insgesamt ein sehr schöner Abend. Tags darauf komplettierten mein Bruder und meine Schwägerin das Familientreffen. Zum Mittagessen wurde gegrillt, anschließend gab's einen Spaziergang durch den nahen Wald und danach Kaffee und Kuchen. Später wurde noch gemeinsam musiziert und Wikingerschach gespielt. Die Stimmung war ausgesprochen harmonisch, politisch-ideologische Kontroversen, die theoretisch denkbar gewesen wären (bei welchem Familientreffen wären sie das heutzutage nicht?), blieben völlig aus, auch weil ich bei einigen potentiell konfliktträchtigen Themen konsequent die Klappe hielt. Unsere Große verstand sich mit der gesamten Familie ausgezeichnet und wollte eigentlich gar nicht wieder weg, und auch das Baby wirkte im Kreis der Familie sehr fröhlich und zufrieden. 

Erwähnen muss ich noch, dass meine Schwester und mein Schwager auch einen Rasenmähroboter haben. Aber okay, ihre Kinder sind ja nun auch schon seit einiger Zeit groß und aus dem Haus. Während wir versonnen in den Garten hinausschauten und Mähroboter "Mortimer" bei der Arbeit beobachteten, erzählte mir der ältere meiner beiden Neffen, das Rasenmähen im elterlichen Garten sei jahrelang seine Lieblingsbeschäftigung gewesen. Sein jüngerer Bruder erklärte hingegen mit postironischem Pokerface, für ihn sei die Pflicht zum Rasenmähen ein wesentlicher Antrieb für den Wunsch gewesen, zu Hause auszuziehen. 


Gestern hatten wir noch einen weiteren schönen Tag, wir erkundeten die Gegend und wurden von meiner Schwester und meinem Schwager spontan noch einmal zum Mittagessen und zu Kaffee und Kuchen eingeladen (es gab, wie nach großen Familienfeiern nicht unüblich, Reste vom Vortag). Und das war dann so im Großen und Ganzen der Urlaub... 

Was ansteht: Heute steht erst einmal die Rückreise nach Berlin auf dem Programm; das ist auch der Grund, weshalb das Wochenbriefing diesmal einige Stunden später erschienen ist als normalerweise üblich, denn erst mal mussten wir noch packen und in der Ferienwohnung Ordnung machen. Aber jetzt sitzen wir in der Regionalbahn nach Hannover, und am Abend sind wir dann wieder zu Hause. Morgen, am Gedenktag der philippinischen Märtyrer, ist dann wieder Lobpreisandacht, nachdem diese letzte Woche ja entfallen musste -- was mich, nebenbei bemerkt, auf den Gedanken gebracht hat, eigentlich wäre es an der Zeit, darauf hinzuarbeiten, dass auch mal jemand anderes die Leitung der Lobpreisandacht übernehmen kann. 

Für Mittwoch steht "Impfung" in meinem Terminkalender, was mich jedesmal irritiert, wenn ich draufschaue; aber tatsächlich hat das gar nichts mit Corona zu tun, sondern mein Sohn Gideon bekommt beim Kinderarzt eine der üblichen Säuglingsimpfungen. 

Sodann werde ich in dieser Woche reichlich damit zu tun haben, die Oktober-Ausgabe der "Lebendigen Steine" fertigzustellen -- durch den Urlaub bin ich damit ziemlich in Verzug geraten. Am Freitag ist der Gedenktag der Hl. Thérèse von Lisieux und zugleich Herz-Jesu-Freitag; zu diesem Anlass haben wir in Herz Jesu Tegel um 17 Uhr eine Andacht zu leiten, und die will natürlich auch noch vorbereitet sein. Aber in so etwas habe ich ja inzwischen schon Übung. Ob darüber hinaus noch etwas Besonderes ins Haus steht, wird sich wohl erst im Laufe der Woche herausstellen. Ach ja, Sonntag ist in der Kirche Erntedank. Hat das auf mich und meine Familie irgendwelche Auswirkungen? Ich werd mal meine Frau fragen. 

Linktipps: 

Die zweite Synodalversammlung des Katholischen Reformprozesses Synodaler Weg (KRSW) steht vor der Tür, und die Opposition gegen die von der Funktionärsklasse betriebene Umgestaltung der Kirche im postchristlich-liberalen Sinne bringt ihre Geschütze in Stellung. Vor zwei Wochen habe ich hier die vom Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer initiierte Plattform "Synodale Beiträge" vorgestellt, und nun bin ich auf eine weitere neue Webpräsenz aufmerksam geworden, die sich die Opposition gegen den KRSW auf die Fahnen geschrieben hat: "neuer anfang" heißt die Seite und wird verantwortet von einer Initiative, die sich "Arbeitskreis Christliche Anthropologie" nennt. Wie bei den "Synodalen Beiträgen" gilt auch hier, dass es empfehlenswert sein dürfte, die Website insgesamt im Auge zu behalten, aber vorläufig habe ich mal einen Beitrag herausgegriffen, der mich spontan besonders angesprochen hat: Es handelt sich um eine scharfsichtige Analyse der Mechanismen, mit denen die im "ZdK" organisierte postchristlich-liberale Laien-Funktionärsklasse der deutschen Amtskirche die Diskurshoheit und -kontrolle im sogenannten Reformprozess an sich gerissen hat und behauptet. Der Autor Dominik A. Thomas ist mir sonst kein Begriff, aber eins muss ich sagen: In einer Zeit, in der praktisch jeder Widerspruch gegen die links-postliberale "successor ideology" als "rechts" zu etikettieren und damit zu delegitimieren, gehört schon einiges an Chuzpe dazu, in einer Kritik des KRSW intellektuelle Vordenker der Neuen Rechten wie Donoso Cortés und Carl Schmitt zu zitieren. Inhaltlich wäre das für mein Empfinden nicht unbedingt nötig gewesen, denn auch ohne die betreffenden Passagen hätte der Text noch Pfeffer genug. Es sei, so urteilt Thomas, "offensichtlich", dass beim Synodalen Weg "ein vorher feststehendes liberales Reformprogramm in der Gestalt eines bekannten Forderungskataloges abgearbeitet werden" solle – "mit dem Missbrauchsskandal als lediglich äußerem Anlass." Genau dieser Umstand verhindere aber eine echte Reform der Kirche, denn eine solche würde erfordern, dass "die verschiedenen kirchlichen Gruppen wirklich und wahrhaftig gemeinsam nach dem Willen Gottes für seine Kirche heute suchen". 

Was soll, oder besser: Was kann demnach bei alledem überhaupt herauskommen? Dominik Thomas sieht zwei Möglichkeiten: 
"Entweder ist diese ganze Aktion am Ende völlig bedeutungslos. Dann werden Texte produziert und verabschiedet, die von Rom gleich wieder kassiert werden und in der Versenkung verschwinden." 
Das sei allerdings unwahrscheinlich: "Viel zu hoch wäre der Preis der Enttäuschung für die, die beinahe ihre letzte Hoffnung für die Kirche auf den synodalen Weg gesetzt haben." Die Alternative wäre "ein in Wahrheit revolutionäres Szenario", was allerdings voraussetzen würde,  "für die Durchsetzung der Reformagenda den Bruch der kirchlichen Communio in Kauf zu nehmen" -- "oder man hofft, dass Rom mittlerweile so schwach ist, dass es einen teilkirchlichen 'Sonderweg' hinnehmen muss". Allerdings, meint Thomas, sei "der revolutionäre Flügel religiös viel zu leer, um Bedeutung zu gewinnen: Der deutsche Nationalkatholizismus wäre eine Totgeburt". -- Alles in allem würde ich sagen, wer sich noch nicht darüber im Klaren ist, was vom Schismatischen Weg zu halten ist, der sollte Dominik A. Thomas' Ausführungen unbedingt zur Kenntnis nehmen. 

Der namhafte Kirchenjournalist Edward Pentin ist in meinem Blog schon ein paarmal zu Wort gekommen -- erstmals 2014, als er Kardinal Kasper am Rande der Familiensynode die Aussage entlockte, die afrikanischen Bischöfe sollten "uns" nicht "sagen, was wir tun sollen". Der Fall schlug seinerzeit ziemliche Wellen, und Pentin ist seitdem für viele Vertreter des kirchenpolitisch "liberalen" oder "progressiven" Milieus (um mal nicht "Lager" zu sagen) ein rotes Tuch. Nun hat er meinen Freund Rod Dreher interviewt -- zu seinem aktuellen Buch "Live Not By Lies", zu totalitären Tendenzen in der gegenwärtigen westlichen Welt und zu einer Reihe damit zusammenhängender Einzelfragen, von politischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie über "Cancel Culture", LGBT-Gesetzgebung und Schulpolitik, Ungarn und China bis hin zu den Evakuierungen aus Afghanistan. Eine gekürzte Version dieses Interviews ist im National Catholic Register erschienen, ungekürzt hat Pentin es auf seinem Blog veröffentlicht; ich habe mir nicht die Mühe gemacht, die beiden Fassungen miteinander zu vergleichen, nachdem ein befreundeter "Netzkatholik" mir den Link zum ungekürzten Interview zugeschickt hat. Es ist nicht nur zu umfangreich, sondern vor allem auch zu aspektenreich und vielschichtig, als dass ich hier eine halbwegs erschöpfende Inhaltsangabe anbieten könnte, daher versuche ich es gar nicht erst; auf ein paar Einzelaspekte, die ich besonders bemerkenswert finde, möchte ich dennoch ein bisschen näher eingehen. 

So betont Rod, ein Aspekt des "sanften Totalitarismus", den viele Menschen nicht verstehen (und ihn deshalb nicht als Totalitarismus erkennen) sei es, dass er nicht in erster Linie von der Staatsgewalt ausgehe. Zwar stimmt er Edward Pentin in der Einschätzung zu, dass die durch die Pandemiebekämpfung bedingte Gewöhnung der Bevölkerung an umfassende Eingriffe des Staates in ihre Privatsphäre und Freiheitsrechte die Gefahr eines "harten" Totalitarismus erhöht habe, betont aber zugleich, die eigentliche treibende Kraft hinter den totalitären Ambitionen der postliberalen "successor ideology" seien nicht die Regierungen. Vielmehr habe diese Ideologie sich zunächst zivilgesellschaftlicher Institutionen - der Medien, des Bildungswesens und Wissenschaftsbetriebs und nicht zuletzt auch großer und einflussreicher Wirtschaftsunternehmen - bemächtigt und übe von dort aus Druck auf die Politik aus. 

Ein Detail des Interviews, das mich persönlich sehr angesprochen hat, betrifft Rods Begegnung mit Kamila Bendová, der Witwe des tschechischen Dissidenten Václav Benda. Im Kreis der Dissidenten um den späteren Präsidenten Václav Havel waren sie und ihr Mann die einzigen gläubigen Katholiken; die anderen waren säkulare Intellektuelle und Künstler -- "Hippies", wie Rod sagt, von denen nicht wenige ein "kompliziertes Sexleben" führten. Auf die Frage, ob es für sie als strenggläubige Katholiken nicht schwierig gewesen sei, mit diesen Leuten zusammenzuarbeiten, antwortete Kamila Bendová mit einem klaren Nein: 

"Wenn du mit einer totalitären Situation konfrontiert bist, ist die seltenste Eigenschaft, die du bei Leuten antriffst, Mut. Wenn du jemanden findest, der mutig ist, dann musst du dich mit dieser Person verbünden, egal wie unterschiedlich eure Anschauungen sind -- denn du brauchst sie, und sie braucht dich." 

Die besagten "Hippies", so Kamila Bendová, hätten sich für sie und ihren Mann, obwohl sie keine ihrer religiösen und moralischen Überzeugungen teilten, als treuere und verlässlichere Verbündete erwiesen als die meisten ihrer Mitkatholiken. 

Den Rest des Interviews überlasse ich dir zur eigenen Begutachtung, Leser. Aber nimm dir Zeit dafür und koch' dir am besten eine schöne Kanne Tee. 

Johannes Hartl hat ein neues Buch draußen: "Eden Culture - Ökologie des Herzens für ein neues Morgen". Ich habe es noch nicht gelesen, aber glücklicherweise gibt es ja schweinfarz.net, das führende Organ (höhö) des katholisch-theologischen Online-Feuilletons. Für dieses Portal hat Hans-Joachim Ditz, Pastoralreferent, Ökumenebeauftragter im Erzbistum Berlin und Geschäftsführer Ökumenischer Rat Berlin-Brandenburg (ÖRBB), das Buch rezensiert; ob er es auch gelesen hat, muss offen bleiben -- falls ja, hat er es offenbar nicht besonders interessant gefunden, denn aus seiner Rezension erfährt man bemerkenswert wenig über den Inhalt des Buches. Deutlich ausführlicher lässt Ditz sich über den Autor aus.  Klingen die ersten Absätze noch bemüht respektvoll - Hartl habe "mit dem Gebetshaus Augsburg [...] bewiesen, dass es doch eine Nachfrage nach Frömmigkeit gibt"; er sei "Macher und Unternehmer. Und Arbeitgeber für eine ganz Reihe von Menschen, und das alles ohne amtskirchliche Unterstützung. Das verdient Respekt" -, holt der Rezensent alsbald mit der gekonnten Überleitung "Doch die größte Stärke eines Menschen ist mitunter seine größte Falle" dazu aus, die altbekannten Gemeinplätze aus der Rubrik "Johannes Hartl im Urteil seiner Feinde" zu wiederholen: Er sei ein selbstverliebter Hedonist, dem es an sozialem Bewusstsein mangele; er präsentiere reaktionäre Inhalte in modisch-bunter Verpackung; und der Stil seiner Verkündigung rieche nach evangelikaler Megachurch. In Teilen dieser Wahrnehmung sind sich der postchristlich-liberale Mainstream und in einem eher traditionellen Sinne konservative Katholiken durchaus einig, und ich würde auch nicht unbedingt bestreiten, dass da teilweise etwas Wahres dran ist (dass Hartl, wie Ditz meint, ein "Verkünder eines Wohlstandsevangeliums" sei, in dessen "schöner neuer Welt" "Scheitern [...] nicht vorgesehen" sei, ist allerdings Quatsch). -- Dass ich grundsätzlich und im Großen und Ganzen finde, Johannes Hartl sei ein guter Typ, der sehr wertvolle Arbeit leistet, dürfte bekannt sein; dass ich deswegen nicht unbedingt alles, was er sagt und tut, unkritisch betrachte, allerdings auch. Wenn Ditz also schreibt, Hartls neues Buch sei "ein Parforceritt durch Philosophie, Soziologie, Psychologie und selbst Mathematik [...]: alles wird angerissen und nichts vertieft. Ein Kaleidoskop des Wissens von Johannes Hartl", dann kann ich mir anhand meiner Lektüre eines früheren Hartl-Buches, "Gott ungezähmt" von 2016, recht gut ausmalen, was der Rezensent damit meint und warum er das kritikwürdig findet. Gleiches gilt für die "Erzählungen von netten Abendessen mit Champagner", mit denen Hartl seine Leser "an seinem gut situierten Leben teilhaben" lässt. Auch zu Hartls von Ditz naserümpfend zitiertem Satz "Industrialisierung und freie Marktwirtschaft haben Fortschritt und Wohlstand geschaffen, wie kein anderes uns bekanntes ökonomisches Modell" würden mir durchaus kritische Anmerkungen oder Anfragen einfallen; das Problem ist, dass der Rezensent Ditz an einer inhaltlichen Auseinandersetzung offenkundig nicht interessiert ist. Er will das Buch, und vor allem den Autor, einfach nur schlechtreden. Diesem Ziel ist es indes nicht unbedingt dienlich, dass seine Rezension schlampig und lustlos zusammengeschmiert wirkt. Und, mal nur nebenbei bemerkt: Wenn ein katholischer Theologe am Buch eines anderen katholischen Theologen bemängelt, dass darin "das Thema Sexualität nur heteronormativ verhandelt wird", braucht man sich wohl über gar nichts mehr zu wundern. 

Letztendlich sagt diese Buchkritik erheblich mehr über ihren Verfasser als über das besprochene Buch aus; und, by extension, eben auch über Niveau und Tendenz des "theologischen Feuilletons", was auch der entscheidende Faktor war, dank dem sich dieser Artikel für meine Linktipps qualifiziert hat. Ansonsten ist zu sagen: Eine gute Rezension kann einem ja manchmal ersparen, das Buch selber lesen zu müssen. Diese Rezension ist hingegen so schlecht, dass ich das Buch unbedingt selber werde lesen müssen. Aber das hatte ich ja eigentlich sowieso vor. 

Tod Worner, Vater zweier Töchter, reflektiert über die Erfahrung des Elternseins und wie tiefgreifend sie das Leben verändert, ja verwandelt; das ist ein Thema, mit dem ich aus persönlicher Erfahrung eine Menge anfangen kann, auch wenn Worners Töchter schon groß sind und er folglich - weil jedes Alter der Kinder seine eigenen Herausforderungen für die Eltern birgt - schon so allerlei bewältigt hat, was ich noch vor mir habe. Das von Worner beschriebene Gefühl, wenn man einem neugeborenen Kind zum ersten Mal einen Strampelanzug anzieht und dabei fürchtet, wenn man nicht ganz, ganz vorsichtig wäre, würde man dem Kind einen Arm oder ein Bein abbrechen, kenne ich allerdings sehr gut. 

Der für mein Empfinden zentrale Absatz des Essays lautet: 

"Woran mag es liegen, dass sich, wenn man ein Kind hat, alles dadurch verändert? Nichts, was ich zu dieser Frage sagen könnte, könnte ihr gerecht werden. Es ist einfach so. Man lebt anders, weil man aufgehört hat, vorrangig für sich selbst und den Partner zu leben. Dass dir ein winziges, verletzliches, einzigartiges Wunder anvertraut wird, dass du lieben, für es sorgen, es formen und für es da sein sollst, was immer auch kommen mag, bis ans Ende deiner Tage -- das verändert einfach alles. Und wie sollte es auch nicht." 

Ein für meine Linktipps wohl eher untypischer Artikel, insofern, als er keine Debatte führt, keine Thesen aufstellt und mit niemandem streitet. Er ist einfach nur schön. Und wahr

Ohrwurm der Woche: Udo Lindenberg, "Hoch im Norden" (Live-Version 1974) 


Du kannst von Glück sagen, Leser, dass dies der Ohrwurm der Woche geworden ist; im Rennen war nämlich auch Ulla Norden mit "Urlaub", einem Schlager auf die Melodie des Disco-Smash-Hits "Hands Up" aus dem Jahre 1981. "Hands Up" ist übrigens nicht, wie ich vermutet hätte, von Boney M., sondern von Ottawan, die man vielleicht als das französische Pendant zu Boney M. bezeichnen könnte. Mit diesem Irrtum stehe ich offenkundig nicht allein, denn wenn man bei Google oder YouTube "Boney M. Hands Up" eingibt, gibt es durchaus einige Fundstellen. Die sind aber falsch: Wie die Wikipedia-"Liste der Lieder von Boney M." verrät, gehörte "Hands Up" nicht zum Repertoire dieser Gruppe. 

Wie dem auch sei: Die Version von Ulla Norden kenne ich seit meiner Kindheit und finde sie lustig; sie dudelt mir praktisch jedesmal im Kopf herum, wenn ich in Urlaub fahre, diesmal aber besonders. In Butjadingen angekommen, kam ich dann jedoch auf die segensreiche Idee, mir Udo Lindenbergs "Hoch im Norden" auf YouTube anzuschauen -- und meiner Tochter gefiel das Lied so gut, dass sie es wieder und wieder hören wollte. "Das Lied mit dem Typ" nannte sie es; ich glaube, der liebe Udo würde diese Bezeichnung gutheißen. Meine Liebste merkt an, das Lied passe biographisch sehr gut zu mir, und da will ich ihr nicht widersprechen. Mal abgesehen von Details wie etwa, dass ich nicht mit 16, sondern erst mit 20 aus meiner norddeutschen Heimat weggezogen bin und dass es mich dann gar nicht so weit nach Süden, sondern eher nach Osten verschlagen hat. -- 

Erwähnen sollte ich wohl noch, dass ich diesen Song ursprünglich in einer Reggae-/Dancehall-beeinflussten Coverversion von Otto Waalkes kennengelernt habe -- erschienen 1996 als Bonus-Track zur zweiten Auflage eines Best-Of-Albums. Die Version ist, ehrlich gesagt, auch gar nicht mal schlecht

Aus der Lesehore: 

Wenn dann die Verfolgung ausbrechen wird gegen jeden Auserwählten und Glaubenstreuen, wenn die Schreckensherrschaft furchtbar und unerträglich wird, wird dann die Kirche eine Zeitlang aufhören? Wird sie sterben? Ist das ihr Heimgehen in ein besseres Leben?
Das Sterben ist für die Kirche, die noch auf Erden lebt, der Weg zu höherem Leben in Christus, zur Wandlung in Besseres, in Himmlisches. Paulus sagt: "Darum tötet, was irdisch an euch ist" (Kol 3,5). Das ist der Tod, den die Schar der Glaubenden, d. h. die Kirche, in Christus erleidet. Aber dieser Tod führt uns in ein anderes Leben, so wahr unser Leben gewandelt wird: aus Vergänglichkeit in Unvergänglichkeit, vom Tod zum Leben, von Schwachheit zur Kraft, von Schmach zur Herrlichkeit, aus der Enge dieser Zeit ins ewige Leben. 

(Hl. Cyrill von Alexandrien, Auslegung zum Buch Genesis) 


 

Sonntag, 26. September 2021

Zehn Jahre "Huhn meets Ei"!

Ich weiß, es ist Wahlabend, und da bleibt für andere Themen wenig Platz; aber morgen ist es exakt zehn Jahre her, dass mein Blog "Huhn meets Ei" online ging und mein erster Blogartikel erschien -- und dieses Jubiläum gilt es heute zu würdigen, denn morgen ist Montag, da ist das Wochenbriefing dran. 

Zehn Jahre Blogger - ein Grund zum Feiern? Gewiss! Ein Anlass, um ein wenig innere Einkehr zu halten? Auch. Nun habe ich in den letzten zehn Jahren zwar nicht ganz konsequent zu jedem Jahrestag meiner Blogger-Premiere einen Jubiläumsartikel 'rausgehauen, aber fünf Stück sind es, den aktuellen noch nicht mitgezählt, immerhin geworden; und ich muss ja jetzt und hier nicht alles wiederholen, was ich da schon geschrieben habe. Zumal ich's ja auch einfach verlinken kann. 

Mein Artikel zum ersten Blogger-Jahrestag (2012) ist naturgemäß besonders aufschlussreich in Hinblick darauf, wie und warum ich mit dem Bloggen angefangen habe. Interessant ist dieser erste Jubiläumsartikel im Rückblick auch und nicht zuletzt deshalb, weil ich mich damals noch als the New Kid on the Blogoezese sah und mir über meinen Standpunkt innerhalb des Spektrums der katholischen Bloggerwelt noch nicht recht im Klaren war. Einige Monate später erlangte ich als "Rosa Parks des Katholizismus" eine gewisse Prominenz in einschlägig interessierten Kreisen, nachdem ich in einer Punk-Kneipe (in der ich zuvor jahrelang recht regelmäßig zu Gast gewesen war) Hausverbot bekam, weil man mich beim "Marsch für das Leben" mit einem Kreuz in der Hand gesehen hatte. 

Der nächste große Einschnitt war der Rücktritt Papst Benedikts XVI., und das war ein massiver Einschnitt für die gesamte katholische Bloggerwelt, jedenfalls (zumindest) in Deutschland: Man kann wohl behaupten, dass die "Blogoezese" im Wesentlichen ein Kind der Ära Benedikt war, daher ist es wohl kein Wunder, dass zumindest Teile der katholischen Bloggerwelt mit "dem Neuen im Vatikan" eher fremdelten. Man hätte vielleicht denken können, dadurch, dass sich einige der bis dahin "führenden" Blogger in der Folgezeit mehr oder weniger konsequent zurückzogen, hätte sich für mich "eine Lücke auftun" können, und zu einem gewissen Grad war das vielleicht auch so; aber andererseits war und bin eben auch ich, schon von meiner "Glaubensbiographie" her, entschieden "Team Benedikt" und musste mich in den veränderten gesamtkirchlichen Verhältnissen erst einmal zurechtfinden -- was aus meiner Sicht weniger an Papst Franziskus persönlich lag als daran, dass die postchristlichen Liberalen, die sich unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. als innerkirchliche Opposition geriert hatten, sich plötzlich "an der Macht" wähnten. (Die Folgen dieses neu erwachten Machtgefühls sehen wir heute beispielsweise im Katholischen Reformprozess Synodaler Weg. [KRSW].) Dass ich in den Jahren 2013 und 2014 keine neuen Jubiläumsartikel veröffentlichte, mag man auch als Indiz dafür sehen, dass meine Bestrebungen, meinem Blog ein unverwechselbares Profil und "Image" zu verschaffen, nur schleppend vorangingen. Es gab auch immer mal wieder Phasen, in denen ich monatelang gar nicht - so etwa von September bis November 2013 - oder nur sehr wenig bloggte, wie praktisch in der gesamten ersten Jahreshälfte 2014. 

Hans Memling: Der Hl. Johannes auf Patmos (1479, gemeinfrei) 

Deutlich bergauf ging es dann - aus Gründen - ab Mitte 2015. Als Dokumente für die Entwicklung meines Blogs und nicht zuletzt auch meines Selbstverständnisses als Blogger in dieser Zeit sind die Jubiläumsartikel von 2015, 2016 und 2017 nicht uninteressant, aber zum Nachlesen empfehlen möchte ich hier vor allem den von 2019. Der Schwerpunkt dieses Artikels liegt darauf, auf wie vielfältige und durchgreifende Weise das Bloggen mein Leben verändert hat -- wozu an herausragender Stelle natürlich gehört, dass ich durch das Bloggen meine Frau kennengelernt habe. (Insofern könnte man von meinen Kindern sagen, dass sie dem Blog "Huhn meets Ei" geradezu ihr Leben verdanken!) Wenn ich's recht bedenke, fällt mir eigentlich kaum eine bedeutende Wendung oder Entwicklung in meinem Leben in den letzten Jahren ein, die nicht direkt oder indirekt mit meiner Tätigkeit als Blogger zusammenhinge. 

Nachdem mein Jubiläumsartikel von 2019 sich diesem Thema also bereits recht umfassend gewidmet hat, bleibt mir nun im Grunde nicht mehr viel anderes zu tun, als nachzuzeichnen, was sich in den seitdem vergangenen zwei Jahren so getan hat -- mal abgesehen von der Geburt eines zweiten Kindes. 

Allgemein kann man sagen, dass ich die inhaltliche Konzentration auf das Thema Neuevangelisierung und Gemeindeerneuerung als Graswurzelbewegung, die sich schon seit einiger Zeit abgezeichnet hatte, weiter vorangetrieben habe; in der Hoffnung, meine Vorstellungen hierzu in meiner Wohnortpfarrei stärker zur Geltung bringen zu können, entschied ich mich relativ kurz nach meinem achtjährigen Bloggerjubiläum, für den Pfarrgemeinderat zu kandidieren, und wurde auch tatsächlich in dieses erlauchte Gremium gewählt, wenn auch vielleicht nur deshalb, weil es gar nicht genügend Kandidaten für die zu vergebenden Sitze gab. Wenig überraschend führte dies praktisch von Anfang an zu Konflikten -- zum Teil bedingt durch die offenkundige Unvereinbarkeit meiner konzeptionellen Vorstellungen mit dem Geist des "business as usual", zum Teil aber auch schon allein deshalb, weil ich eben blogge (was in gewissen Kreisen offenkundig immer noch als irgendwie ehrenrührig, jedenfalls nicht als legitime Form von Journalismus gilt). 

Ins Jahr 2020 startete ich optimistisch und ambitioniert mit meinem dritten Besuch der MEHR-Konferenz in Augsburg, dem neuen Rezensions-Großprojekt "100-Bücher-Challenge" und Plänen für ein eigenes Buch; dann kam Corona und ließ mir so ziemlich die Luft raus. Von Anfang April bis Anfang August lag mein Blog völlig brach, und auch in der zweiten Jahreshälfte tauchte ich nur sporadisch aus der Versenkung auf. Immerhin, mein Artikel "Horrendum est -- oder: Wer hat Angst vorm Retrokatholizismus" aus dem August 2020, der sich anlässlich der Weihe des Erzbistums Berlin an das Heiligste Herz Jesu und das Unbefleckte Herz Mariens mit Warnungen vor einer Renaissance traditioneller Frömmigkeitsformen im Zeichen der Corona-Krise auseinandersetzte konnte von der Leserresonanz her durchaus an frühere Erfolge anknüpfen, nicht zuletzt, weil der offizielle Twitter-Account des Erzbistums Berlin den Artikel enpfahl. 

Davon abgesehen liebäugelte ich ein bisschen mit der Vorstellung, den Corona-"Lockdown" dazu zu nutzen, mich wie einst der Hl. Benedikt für eine Weile in eine Höhle zurückzuziehen, um anschließend die Welt aus den Angeln zu heben. Keine buchstäbliche Höhle natürlich, aber eine metaphorische. Ich hatte wohl etwas übertrieben romantische Vorstellungen vom Lockdown, denn im Großen und Ganzen ging das Leben ja doch relativ normal weiter. Dennoch waren die Rahmenbedingungen dafür, die Corona-Zeit als eine Form spiritueller Exerzitien zu nutzen, im Grunde gar nicht so schlecht: Die örtliche Pfarrkirche blieb tagsüber für persönliches Gebet geöffnet, und in der Phase, in der öffentliche Gottesdienste verboten waren (es ist noch gar nicht so lange her, aber es kommt mir trotzdem so vor, als müsse man die Erinnerung daran wachhalten, dass es dieses Verbot tatsächlich gab), wurde zu den sonst üblichen Gottesdienstzeiten Eucharistische Anbetung gehalten; dabei war stets ein Priester in der Kirche anwesend, und auf Wunsch konnte man auch die Kommunion empfangen. Ich möchte betonen, dass ich unserem Pfarrer - mit dem ich ja ansonsten bekanntlich so meine Differenzen habe - seinen Einsatz dafür, im Rahmen des Möglichen und Erlaubten das Beste aus der Lockdown-Situation zu machen, ausgesprochen hoch anrechne. 



Ein Meditationsbild, das meine Liebste während der Aktion "Deutschland betet gemeinsam" am 08.04.2020 malte. Die darauf genannten Anliegen haben seither nichts an Aktualität verloren. 

Umso betrüblicher fand ich es, dass sich nach der Aufhebung des Gottesdienstverbots nur allzu bald der Geist des "business as usual" mit den Einschränkungen durch die Corona-Verordnungen zu einer "neuen Normalität" verschmolz, die man als "wie die alte Normalität, nur schlechter" beschreiben könnte. Aber das ist eigentlich nicht das Thema dieses Artikels, oder höchstens indirekt. 

Jedenfalls habe ich mich, während mein Blog auf Sparflamme lief und auch die Aktivitäten in der Kirchengemeinde coronabedingt größtenteils ruhten, bemüht, umso gründlicher konzeptionell zu arbeiten, und ein Ergebnis davon war ein 16-seitiges Thesenpapier zur Gemeindeerneuerung, das ich zu Weihnachten 2020 an die hauptamtlichen Mitarbeiter der Pfarrei und die Mitglieder des Pfarrgemeinderats verschickte. Die Mehrzahl der Adressaten reagierte darauf zwar überhaupt nicht und die meisten anderen eher reserviert, aber ein greifbares Ergebnis dieser Aktion war, dass die Arbeitsgruppen des Pastoralausschusses für den Pastoralen Raum Reinickendorf-Süd um eine AG Neuevangelisierung ergänzt wurden, in der ich seither mitarbeite. Im Februar 2021 kam es dann im Zuge der Endredaktion der neuen Ausgabe des nur alle drei Monate erscheinenden Pfarrbriefs zu heftigen Auseinandersetzungen, die u.a. dazu führten, dass ich aus dem Redaktionsteam ausstieg und stattdessen zusammen mit meiner Liebsten eine unabhängige Monatszeitschrift konzipierte -- die "Lebendigen Steine". Von dieser Zeitschrift sind bisher sieben Ausgaben erschienen, die achte ist in Vorbereitung, und ich bin sehr stolz auf dieses Projekt, auch wenn ich denke, mit mehr Mitarbeitern und einem halbwegs angemessenen Budget könnte die Zeitschrift noch erheblich besser werden. 

Was das Bloggen betrifft, habe ich Ende Juni das Format der "Wochen-Briefings" wieder aufgenommen, das ich im März 2019 unter dem Titel "Kaffee & Laudes" begonnen, ab März 2020 zunächst als "Ansichten aus Wolkenkuckucksheim" und dann für ein paar Wochen als "Grüße aus dem Corona-Park" weitergeführt habe. Jetzt heißt diese wöchentliche Reihe jedenfalls wieder "Ansichten aus Wolkenkuckucksheim", und so wie das Format seit der Wiederaufnahme entwickelt hat - nämlich derart, dass sowohl die Schilderungen der Ereignisse der jeweils zurückliegenden und der Pläne für die jeweils bevorstehenden Woche als auch die Linktipps als Anknüpfungspunkte für programmatische und strategische Überlegungen in Sachen Neuevangelisierung/Gemeindeerneuerung/#BenOp/Punkpastoral dienen -, empfinde ich das Wochenbriefing als die für mich geradezu ideale Form des Bloggens. Zu wünschen wäre durchaus, dass dieses Format noch mehr Leser findet, aber ich würde sagen, auch diesbezüglich ist die Tendenz positiv. 

Gleichzeitig ist nicht zu leugnen, dass der Versuch, innerhalb der offiziellen "amtskirchlichen" Strukturen zu arbeiten (durch die Mitgliedschaft im Pfarrgemeinderat, in verschiedenen Arbeitsgruppen des Pastoralrats usw.) und parallel dazu auch außerhalb dieser Strukturen (z.B. eben in Gestalt meines Blogs und der "Lebendigen Steine"), einiges an Konfliktpotential mit sich bringt. Konflikte haben wir - d.h. meine Liebste und ich, vor allem aber ich, weil ich zumeist mehr "an der Front stehe" - in der Pfarrei bzw. im Pastoralen Raum allerdings so oder so genug. Dabei spielen sicherlich persönliche Animositäten eine Rolle - mir ist sehr wohl bewusst, dass ich nicht der einfachste und umgänglichste Charakter bin -, und eine wahrscheinlich noch größere Rolle dürfte der Umstand spielen, dass der Ruf nach Veränderungen von Denjenigen, die für den Status quo (mit-)verantwortlich sind, leicht als persönlicher Angriff aufgefasst wird. Daneben und darüber hinaus ist aber auf der "Funktionärsebene" - im allerbreitesten Sinne, also einschließlich der ehrenamtlichen Mitarbeiter und Gremienmitglieder - auch eine ganz grundsätzliche Abwehrhaltung gegenüber dem Thema Neuevangelisierung oder allgemein gegenüber allem explizit Religiösen in der Kirche, gegenüber dem, was man früher Frömmigkeit genannt hätte, weit verbreitet. Wäre das nicht so, stünde es um die Kirche in Deutschland insgesamt erheblich anders; das ist also nichts, was für unsere Pfarrei spezifisch wäre. Im Gegenteil, ich bin sogar überzeugt, dass es zumindest an unserem Gemeindestandort in dieser Hinsicht noch deutlich besser aussieht als an vielen anderen Orten. Und es gibt ja durchaus positive Entwicklungen, wie man ja zum Beispiel an den Aktivitäten der AG Neuevangelisierung sieht. Trotzdem ist es auf die Dauer natürlich frustrierend, immer wieder gegen dieselben Wände zu laufen. 

Daher denken meine Liebste und ich in jüngster Zeit verstärkt darüber nach, ob es nicht allmählich an der Zeit wäre, den nächsten Schritt zu tun und mit dem schon wiederholt angedachten Projekt Ernst zu machen, mit Hilfe von Crowdfunding ein geistliches Zentrum in einem ehemaligen Pfarrhaus - oder gegebenenfalls auch in einem Resthof oder einem alten Wasserturm - aufzubauen. Das wäre natürlich ein großer und gewagter Schritt; aber wenn tatsächlich etwas daraus wird, dann kannst du sicher sein, lieber Leser: Hier erfährst du es zuerst!


Donnerstag, 23. September 2021

Bezüglich der Wahlen

Ich hab's getan: Vor meiner Abreise aus Berlin habe ich tatsächlich noch meine Briefwahlunterlagen ausgefüllt und zur Post gebracht. Fühle mich jetzt ein bisschen schmutzig und schuldig, so ähnlich wie jemand, der heimlich eine rauchen geht, obwohl er sich das Rauchen eigentlich erfolgreich abgewöhnt hatte. 

Vor vier Jahren war ich stolzer und überzeugter Nichtwähler -- so überzeugt, dass ich mit der Idee liebäugelte, einen Bestseller mit dem Titel "Endlich Nichtwähler!" zu schreiben, natürlich angelehnt an den Rauchentwöhnungs-Klassiker von Alan Carr und auch mit einer entsprechenden Covergestaltung: Eine geballte Faust, aus der ein zerknüllter Wahlzettel hervorschaut. 

Beginnen würde ich ein solches Buch ganz subjektiv-autobiographisch mit der Feststellung: Ob es mir in meinem Leben gut oder schlecht ging, ob es mit meinen Lebensumständen bergauf oder bergab ging, war, wenn man es recht bedenkt, nie davon abhängig, welche Partei oder Parteienkoalition jeweils gerade an der Regierung war. Das allein ist natürlich nich kein Argument. Aber wie sieht es denn mit den Argumenten für das Wählen aus? Schon allein sie Tatsache, dass einem regelmäßig nicht nur Politiker - die ja ein offensichtliches Eigeninteresse daran haben -, sondern auch alle möglichen Medienleute, "Promis" und Vertreter zivilgesellschaftlicher Institutionen einzureden versuchen, es sei wahnsinnig wichtig, "von seinem Wahlrecht Gebrauch zu machen", sollte ja eigentlich misstrauisch stimmen. Umso mehr, als die Argumente, mit denen sie das klassischerweise tun, durchweg falsch sind. Also wirklich nachweislich falsch. Die Widerlegung der gängigsten Argumente für das Wählen müsste in dem Buch "Endlich Nichtwähler!" naturgemäß breiten Raum einnehmen. Sodann müssten da natürlich auch die Anarcho-Klassiker "Wenn man durch Wahlen etwas verändern könnte, wären sie verboten" und "Die dümmsten Kälber wählen ihren Schlächter selber" Platz finden, ich würde aus Tucholskys "Ein älterer, aber leicht besoffener Herr" und Franz Josef Degenhardts Lied "2. Juni 1967" zitieren, und natürlich würde ich auch auf die hier neulich schon einmal paraphrasierten Passagen aus Douglas Adams' "Macht's gut, und danke für den Fisch" und Benedict Andersons "Die Erfindung der Nation" eingehen. Letztendlich liefe das alles auf das Kernargument hinaus: Wer wählt, der trägt zur Legitimation der herrschenden Verhältnisse bei, und zwar unabhängig davon, wem er seine Stimme gibt. Every vote is a vote for voting

Symbolbild: Abfalleimer als Wahlurne. Quelle und Lizenz hier.

Das Ding ist: Im Prinzip bin ich nach wie vor überzeugt davon; noch vor Kurzem hätte ich gesagt, ich bin es mehr denn je. Es ist noch gar nicht lange her, dass ich der Meinung war, Wählen zu gehen sei noch nie so zwecklos gewesen wie im Jahre 2021; noch nie sei es so egal gewesen, wie die Wahlen ausgehen, denn faktisch werden wir ja doch von Königin Corona regiert. Nun habe ich aber doch gewählt. Warum? Man könnte sagen, das ist so ähnlich wie mit Fußballwelt- und Europameisterschaften: Im Vorfeld und vielleicht auch noch während der ersten Runde der Vorrundenspiele behaupte ich standhaft, mich nicht für Fußball zu interessieren, aber dann lasse ich mich doch von der Stimmung mitreißen -- widerwillig zunächst, aber sobald ich mir dann doch ein Spiel ansehe - irgendeins, Argentinien-Elfenbeinküste zum Beispiel -, ist es um mich geschehen. 

Aber es ist wohl doch noch mehr als das. Einige Leute, die den Wahlkampf aufmerksamer beobachtet haben als ich,  fanden ihn zwar uninspiriert und öde, aber irgendwie hat sich mir trotzdem der Eindruck vermittelt, es handle sich bei dieser Bundestagswahl um eine Richtungsentscheidung, eine definitive Weichenstellung für die Zukunft, und zwar in einem solchen Maße, dass der Ausgang dieser Wahl darüber entscheiden könnte, ob es in Zukunft überhaupt noch einen Sinn hat, wählen zu gehen. The Election to End All Elections. Und damit meine ich nicht den Hashtag #Klimawahl. Wer meinen Blog oder auch meine Beiträge für die Tagespost regelmäßig liest, wird vielleicht schon bemerkt haben, dass ich ökologische Themen durchaus ernst und wichtig nehme. Aber das Narrativ einer unmittelbar bevorstehenden globalen Klimakatastrophe, die, wenn überhaupt, nur noch dadurch abgewendet werden kann, dass Annalena Baerbock deutsche Bundeskanzlerin wird, erscheint mir einfach nicht plausibel. 

Was für eine Art von Richtungsentscheidung meine ich aber dann? -- Man mag mir falschen Alarmismus, d.h. Alarmismus aus falschem Anlass, vorwerfen, aber größere oder zumindest akutere Sorgen als die Klimakrise bereitet mir der "sanfte Totalitarismus" der von Wesley Yang in Ermangelung einer besseren Bezeichnung so benannten "successor ideology": der Umbau der Gesellschaft nach dem Vorbild von Aldous Huxleys "Brave New World", kombiniert mit Elementen von Orwells "1984", Bradburys "Fahrenheit 451" und anderen Dystopien. Nun ist es zwar eine der Kernüberzeugungen des noch ungeschriebenen Bestsellers "Endlich Nichtwähler!", dass gesamtgesellschaftliche Trends stärker sind als die Programme und Intentionen politischer Parteien (vgl. dazu auch das umstrittene 4. Kapitel der "Benedikt-Option"); aber es macht wohl doch einen Unterschied, ob man eine Regierung hat, die diese Trends unterstützt und fördert, oder eine, die sie, wenn sie sie schon nicht aktiv bekämpft, so doch zumindest bremst

Und dieses Bremsen scheint mir von jeher eine Kernkompetenz der CDU zu sein. 

Wieso eigentlich "bleibt"? Gab's da nicht mal so ein Lanz-Interview mit dem Satz "Das Land ist in einem schlechten Zustand"? 

Auf den Gedanken, bei der diesjährigen Bundestagswahl müsse ich wohl die CDU wählen, kam ich erstmals, als ich las, dass die Union als einzige unter den potentiell regierungsfähigen Parteien strikt gegen eine Abschaffung des Ehegattensplittings ist. Das ist mein single issue, sagte ich mir. Natürlich teilweise aus Eigeninteresse - und ich wüsste auch nicht, wieso ausgerechnet das ein illegitimes Motiv für eine Wahlentscheidung sein sollte -, aber nicht nur: Ich bin außerdem der Auffassung, dass die Haltung der Parteien zu dieser Frage bezeichnend für größere Zusammenhänge ist -- konkret gesagt für die fanatische ideologische Feindschaft derjenigen Parteien, die das Ehegattensplitting partout abschaffen wollen, gegen ein Familienmodell, in dem nicht beide Elternteile Vollzeit arbeiten und ihre Kinder der Obhut von Kita, Ganztagsschule und Hort überlassen. Und so ist es mit vielen Themen: Die Union tut nicht viel für Elternrechte, Lebensschutz, Religionsfreiheit etc. etc., aber sie arbeitet wenigstens nicht aktiv dagegen

Und außerdem will ich, dass Nathanael Liminski die graue Eminenz im Kanzleramt wird. Träumen darf man ja wohl. 

Also habe ich bei der Bundestagswahl die CDU gewählt, und das empfinde ich als eine noch größere persönliche Demütigung als den Umstand, dass ich mich überhaupt zum Wählen habe verleiten lassen. Denn eigentlich war und ist die CDU mir seit meiner Zeit bei der Jungen Union zutiefst zuwider. "Wertkonservativ und wirtschaftsliberal", das heißt doch im Prinzip nichts anderes als "Du sollst die Witwen und die Waisen / nur dann, wenn es sich lohnt, bescheißen". -- Aber okay, sagte ich mir, dann muss ich eben zusehen, wie ich meinen "demokratischen Fußabdruck" wieder neutralisiere. Wie beim Emissionshandel. Also habe ich zum Ausgleich bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zur Bezirksverordnetenversammlung die Grünen gewählt. 

Okay, ganz so war's nicht. Also vom Ergebnis her schon, aber die Beweggründe sahen doch ein bisschen anders aus. Die Geschäftsstelle des örtlichen Kreisverbands der Grünen liegt in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, ich komme mehrmals täglich daran vorbei, da ist es wohl kein Wunder, dass wir reichlich mit Wahlkampfmaterialien eingedeckt wurden. Als ich erstmals einen Stapel Grünen-Flyer in unserem Treppenhaus liegen sah, auf dem ich las "Alle 5 Stimmen grün!", dachte ich zunächst: "Wat? Fünf Stimmen?!" Dabei gab es tatsächlich, einschließlich des Volksentscheids "Deutsche Wohnen &  Co. enteignen", insgesamt sogar sechs Kreuzchen zu machen, aber dazu später. Fünf Stimmen bekamen die Grünen aus oben dargelegten Gründen trotzdem nicht von mir, aber immerhin drei: eine für die Bezirksverordnetenversammlung sowie Erst- und Zweitstimme bei der Abgeordnetenhauswahl. 

Fangen wir mal mit der BVV an: Der Berliner Bezirk Reinickendorf ist CDU-regiert, und die CDU führte hier einen superspießigen "Keine Experimente!"-Wahlkampf mit Plakaten, bei denen nur die Tatsache, dass eine Internetadresse draufstand, verriet, dass es sich nicht um Restbestände aus den 70er- oder 80er-Jahren handelte. Dieses Plakat zum Beispiel: 

Ich würde ja denken, Kreuzberg ist heute weitgehend gentrifiziert und nach einer Vielzahl von Kriterien ein attraktiverer Stadtteil als Reinickendorf, aber bitte. Selbst von dem, was man sich klischeehafterweise unter "Kreuzberger Verhältnissen" vorstellen mag und wovor die Reinickendorfer CDU die Bürger bewahren zu müssen glaubt, würde ich mir für meinen Stadtteil tendenziell eher mehr wünschen: mehr "Streetlife", mehr "Multikulti", mehr Bioläden, vielleicht das eine oder andere besetzte Haus -- kurzum, mehr Punk-Lebensgefühl

Die Konsequenz daraus konnte für mich nur lauten: Mehr Grün in die BVV! Dann klappt's vielleicht auch mal mit Kiezblocks in Tegel. Übrigens hat auch unser Pfarrer gute Kontakte zu den örtlichen Grünen, und eine der Kandidatinnen spielt gelegentlich (vertretungsweise) in unserer Kirche die Orgel. 

Die Entscheidung über die Erststimme zur Abgeordnetenhauswahl fiel mir nicht schwer, denn die grüne Direktkandidatin hatte ich vor einigen Wochen bei der Schamanen-Grillparty vor unserer Haustür getroffen (ohne zu diesem Zeitpunkt von ihrer politischen Affiliation zu wissen). Wir sprachen bei dieser Gelegenheit zwar nicht sehr viel miteinander, waren uns aber sympathisch, und unsere Kinder spielten miteinander -- darauf lässt sich aufbauen. 

Bei der Zweitstimme war ich hingegen lange unentschlossen. Auch der Wahl-O-Mat war keine große Hilfe, denn da landeten CDU und Grüne bei mir gleichauf -- was wohl an sich schon ein Indiz dafür ist, wie schwer sich aus meinen politischen Anschauungen eine Parteipräferenz ableiten lässt. Gut, zugegeben, einige andere Parteien erzielten im Wahl-O-Mat ein noch besseres Ergebnis als CDU und Grüne, aber mit Ausnahme der ÖDP waren das durchweg solche, von denen ich mir sicher war, dass ich sie nicht wählen wollte. 

Relativ kurz vor meinem persönlichen Wahltag sah ich dann auf Facebook Wahlwerbung der Grünen, und darin hieß es, SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey strebe eine Koalition mit CDU und FDP an -- und um das zu verhindern, brauche es starke Grüne. Diese Werbebotschaft veranlasste mich, erst einmal nachzuschauen, ob es laut den jüngsten Umfragen eine realistische Chance gibt, dass die Grünen, und nicht die SPD, stärkste Kraft im Berliner Abgeordnetenhaus werden und dann womöglich auch die Regierende Bürgermeisterin stellen. Wie sich zeigte, waren sich die Demoskopen in dieser Frage ausgesprochen uneinig, aber ganz ausgeschlossen schien es jedenfalls nicht zu sein, also sagte ich mir: Im Zweifel lieber Grüne als SPD, lieber Jarasch als Giffey. 

Und dann war da ja noch dieser Volksentscheid. Direkte Demokratie finde ich als Parteienskeptiker und Anhänger des Subsidiaritätsprinzips natürlich prima, auch wenn die bisherigen Volksbegehren und -entscheide in Berlin nicht besonders viel Gutes gebracht haben. Beim Volksentscheid "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" war ich, bevor ich die Wahlunterlagen erhielt, nahezu sicher, dass ich mit "Nein" stimmen würde. Nicht aus Sympathie für Immobilien-Großspekulanten, sondern weil ich mir nicht recht vorstellen konnte, dass es vorteilhafter wäre, den Staat (und dann auch noch ausgerechnet das Land Berlin!) als Vermieter zu haben anstelle eines Privatunternehmens. (Mich persönlich betrifft es übrigens nicht, das Haus, in dem ich mit meiner Familie zur Miete wohne, gehört keiner großen Firma.) Aber dann las ich mir die offizielle Infobroschüre zum Volksentscheid durch, die mit den Wahlunterlagen kam, und stellte fest, dass die Argumente der Antragsteller mich durchaus überzeugten -- während ich die Gegenargumente des Senats als öde, verzagt und teilweise irritierend passiv-aggressiv empfand. 

Auf den ersten flüchtigen Blick dachte ich, da stünde "Argumente des Satans". Aber der hat bestimmt bessere. 

Hilfreich zur Bewertung des Vorhabens, um das es in dem Volksentscheid geht, fand ich in den Argumenten der Antragsteller insbesondere die Hinweise, dass Vergesellschaftung nicht dasselbe wie Verstaatlichung sei; dass Artikel 15 des Grundgesetzes die Möglichkeit der Vergesellschaftung von Grundbesitz ausdrücklich vorsieht (lesenswert hierzu übrigens ein aktueller Beitrag im Verfassungsblog); und dass eine Kombination bzw. ein Nebeneinander von Privateigentum und Gemeineigentum insgesamt ganz im Sinne des Grundgesetzes sei. Letzteres scheint mir, wenngleich ich alles andere als ein Experte dafür bin, durchaus auch auf der Linie der katholischen Soziallehre zu liegen. Kurz und gut, ich stimmte mit "Ja" -- und bin jetzt gespannt, was passiert. 

Übrigens kann man den Titel des Volksentscheids insofern ein bisschen irreführend finden, als ein Erfolg bei der Abstimmung noch nicht automatisch bedeuten würde, dass Deutsche Wohnen & Co. tatsächlich enteignet werden. Worüber in dem Volksentscheid abgestimmt wird, ist lediglich der Auftrag an den Berliner Senat, eine gesetzliche Grundlage dafür zu schaffen, dass gewinnorientiert arbeitende Unternehmen, die in Berlin 3.000 oder mehr Wohnungen besitzen, enteignet werdwn können. Die ultimative Trollerei wäre es demnach, beim Volksentscheid mit "Ja" zu stimmen und gleichzeitig bei der Abgeordnetenhauswahl die FDP zu wählen, damit die das umsetzen müssen. 

Abschließend möchte ich übrigens noch anmerken, dass ich es als sehr angenehm empfunden habe, die Stimmzettel ganz entspannt am heimischen Küchentisch auszufüllen statt in der Wahlkabine. Also, wenn ich mich zukünftig wieder einmal dazu hinreißen lasse, an einer Wahl teilzunehmen, dann gerne wieder per Briefwahl. 


Montag, 20. September 2021

Ansichten aus Wolkenkuckucksheim #16 (25. Woche im Jahreskreis)

Was bisher geschah: Ich bin mir ja manchmal nicht sicher, wer von den Leuten aus den Gremien "meines" Pastoralen Raums so alles meinen Blog liest; okay: Von manchen dieser Leute weiß ich es, von manchen vermute ich es, die Frage ist daher wohl eher, wie weit sich das, was diese wenigen Personen hier lesen, unter denen, die es nicht selbst lesen, herumspricht. Da kann man oft nur spekulieren. Jedenfalls: Dass ich mich in der am vergangenen Montag erschienenen 15. Folge der "Ansichten aus Wolkenkuckucksheim" darüber beklagte, von der AG Ehrenamt des Pastoralausschusses seit eineinhalb Wochen keine Antwort auf eine Anfrage erhalten hatte, und keine drei Stunden nach der Veröffentlichung dieses Blogartikels kam die Antwort dann doch - eingeleitet durch eine Entschuldigung dafür, dass es so lange gedauert hatte -, das fand ich dann doch ein bisschen auffällig. Na ja, kann Zufall gewesen sein. Die Mail war jedenfalls ausgesprochen freundlich, wenn auch inhaltlich etwas unbefriedigend: Die tabellarische Übersicht über die diversen ehrenamtlichen Aktivitäten in den Gemeinden unseres Pastoralen Raums könne nicht veröffentlicht bzw. weitergegeben werden, da aus Datenschutzgründen erst die Zustimmung aller darin aufgeführten Personen eingeholt werden müsste. Ich nehme an, aus rechtlicher Sicht ist das korrekt. Ich könnte jetzt lang und breit darüber lamentieren, dass das ein typisches Volkskirchenproblem sei, das man schlichtweg nicht hätte, wenn die Kirche nicht so weltlich wäre, aber das ist eben ein strukturelles Problem, für das man niemanden persönlich verantwortlich machen kann, ergo führt das hier zu nichts. Ich bin noch dabei, einen pragmatischen Lösungsvorschlag auszuhecken, wie man vielleicht eine Version dieser Tabelle erstellen könnte, die keine personenbezogenen Daten enthält, aber trotzdem einen Überblick darüber ermöglicht, was in Sachen Ehrenamt in unseren Gemeinden so alles läuft. Denn, mal ehrlich: Was nützt so eine Tabelle, wenn niemand sie sehen darf? 

Am Dienstag hatten wir nicht nur eine sehr schöne Lobpreisandacht zum Fest Kreuzerhöhung, sondern meine Liebste und ich erhielten auch ausgesprochen interessante elektronische Post: eine Einladung zu einem Seminar in Brandenburg/Havel Ende Oktober, in dem der vom Institut für Neuevangelisierung im Bistum Augsburg entwickelte "Neuland"-Kurs vorgestellt werden soll. Um zu entscheiden, ob wir daran teilnehmen können, gibt es zwar noch ein paar organisatorische Fragen zu klären, aber ich bin frohen Mutes -- und sehr gespannt... 

Der eigentlich für Mittwoch geplante "Omatag" musste kurzfristig verschoben werden, und vor die Wahl gestellt, ob es stattdessen ins Aquarium oder ins Trampolinland gehen sollte, entschied unsere Große sich fürs Trampolinland. Am Donnerstag erschien dann in der Tagespost mein Essay zum Thema Ökologie und Apokalyptik, nachdem in der Online-Ausgabe bereits am Dienstag eine Vorabmeldung mit zwei Auszügen aus dem Artikel veröffentlicht worden war. Mich erreichte überwiegend positives Feedback, allerdings insgesamt weniger, als ich erhofft hatte. Na, kommt vielleicht noch. 

Am Freitag hatte unser Jüngster einen Vorsorgetermin beim Kinderarzt; Ergebnis: Der Knabe ist kerngesund und topfit. Das hört man gern! Zum Krabbelbrunch am Samstag kamen außer uns noch zwei weitere Familien, eine mit drei Kindern und eine mit einem Kind; es war ausgesprochen nett, die Kinder verstanden sich ausgezeichnet miteinander. Zum "Marsch für das Leben" schafften wir es anschließend leider nicht mehr, zumal wir ja auch noch mitten in den Reisevorbereitungen steckten. Derweil gab es auch von "Team Instagram" endlich Neues: Am Vorabend der Sitzung des Pastoralausschusses wurde der "Steuerungsgruppe" ein Konzeptentwurf für den angedachten Instagram-Account zugesandt, mit der Bitte, diesen im Pastoralausschuss zu thematisieren. Man darf gespannt sein. 

Am Sonntag war Caritas-Sonntag, und die Messe wurde gestaltet vom Familiengottesdienst-Team. Hier mein umfassender Kommentar: 

("© Text: Bistum Erfurt". Steht auf der Rückseite. Im Ernst.) 

Hätte man uns nicht wenigstens vorwarnen können? Na, immerhin kredenzten wir uns anschließend ein opulentes Frühstück - mit Spiegelei, Speck, Würstchen und Waffeln -, da wir uns sagten: Was wir vor dem Urlaub noch verbrauchen, kann während unserer Abwesenheit nicht schlecht werden. 

Am Nachmittag schauten wir, wie schon lange geplant, bei der Eröffnung des "BilderKraft"-Familienzentrums vorbei (des "Froschzentrums", wie ich es, seines Logos wegen, zu nennen beschlossen habe). 


Die Einrichtung machte einen ausgesprochen sympathischen Eindruck, die Stimmung bei der Einweihungsfeier war prima, vor dem Gebäude spielte eine dreiköpfige Bands Coverversionen von Amy Winehouse, Amy Macdonald und anderen Amys. Als die Musiker Pause machten, fragte ich sie: "Wo kann man euch denn sonst noch so hören? Gibt's euch im Internet? Habt ihr einen Namen?" Daraufhin erfuhr ich, dass die drei Musiker in dieser Konstellation zum ersten Mal zusammen auftraten. Beachtlich! Der Leadgitarrist gab mir seine Telefonnummer. 

Außerdem war an diesem Sonntag auch noch "Berlin Punk Rock Market" auf dem RAW-Gelände, und im Prinzip hätte ich's gut gefunden, da hinzugehen, schon allein, weil ich das RAW-Gelände mag. Aber letztlich scheiterte das an der Erkenntnis "Reisevorbereitungen mit zwei kleinen Kindern sind auch so schon stressig genug". Genau wie der "Marsch für das Leben", könnte man sagen. Wer hätte gedacht, dass diese Veranstaltungen so viel miteinander gemeinsam haben... 

Was ansteht: In dem Moment, in dem dieser Artikel online geht, bin ich mit Frau und Kindern auf dem Weg zum Berliner Hauptbahnhof, um für eine Woche zu verreisen. Wer weiß, wann wir das nächste Mal Gelegenheit dazu haben werden. Dass  wir in dieser Woche zum zweiten Mal in diesem Jahr an die Nordsee fahren wollten, war schon seit Monaten geplant gewesen - wie schon bei unserem Urlaub Anfang Juni hatte meine Liebste den Zeitraum u.a. danach ausgewählt, dass in dieser Woche nirgendwo in Deutschland Schulferien sind, wodurch Bahntickets und Unterkünfte vergleichsweise billig zu haben sind -, aber wie ich vorige Woche bereits angedeutet habe, haben sich noch einige kurzfristige Änderungen in Hinblick darauf ergeben, wo und wie wir diese Woche verbringen werden. Vorgehabt hatten wir eigentlich, uns für die gesamte Woche in einem zum Center Parc in Tossens gehörenden Ferienhaus einzuquartieren, aber dann kam uns eine Einladung zum 50. Geburtstag meiner Schwester "dazwischen". Das geht natürlich vor, also haben wir umdisponiert und verbringen nun nur vier Tage in Butjadingen (und zwar, weil das im Center Parc nicht geht, in einem Ferienhaus in Burhave, unweit der Unterkunft unseres Juni-Urlaubs). Danach geht's weiter nach Ostfriesland, wo am Samstag großes Familientreffen mit Grillen im Garten geplant ist. Nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass das der Vorabend des Wahltags ist, erwäge ich, zur Vorbereitung ein paar Ratgeber-Artikel zum Thema "Thanksgiving feiern in der Trump-Ära" nachzulesen (davon gab's in den letzten Jahren einige!), aber ohne Flachs, ich freu' mich auf das Wiedersehen mit der Familie. Ist selten geworden, dass mal alle zusammenkommen: Bruder und Schwägerin, Schwester und Schwager, die Neffen und natürlich meine Mutter. 

Und am Sonntag schaffen wir's hoffentlich, in der St.-Wiho-Kirche in Hage zur Messe zu gehen. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Messbesuch im Bistum Osnabrück dazu beiträgt, uns davon zu überzeugen, dass wir's in Berlin noch verhältnismäßig gut haben... aber schau'n wir mal. 

Zitat der Woche: 

Eine Demokratie kann, da sie die Herrschaft des Volkes vorschreibt, nur so stark sein wie die Menschen, die in ihr leben. Folglich lautet die Frage, die sich uns gegenwärtig stellt, ob die derzeitige politische Situation einen Verrat an der liberalen Demokratie darstellt oder ob sie nicht vielmehr - bedenkt man, dass Individualismus und Egalitarismus zentrale Prinzipien der liberalen Demokratie sind - ihre zwangsläufige und ultimative Verwirklichung unter den Bedingungen des Säkularismus bedeutet." 

(Rod Dreher, "Die Benedikt-Option") 

Linktipps: 

Vor ein paar Wochen hatte ich hier einen Artikel aus Harper's Bazaar am Wickel, der sich dadurch auszeichnete, dass die Autorin, während sie sich über sektenartige Sprachmuster in Mami-Blogs ausbreitet, keinerlei Bewusstsein für die ideologische Bedingtheit ihres eigenen Standpunkts erkennen lässt. Heute sehen wir, dass es noch bizarrer geht. Der hier verlinkte Artikel, in dem die Amadeu Antonio Stiftung eine von ihrer "Fachstelle für politische Bildung und Entschwörung" [sic!] herausgegebene Broschüre vorstellt und bewirbt, ist, wie man sieht, schon rund sechs Wochen alt, aber ich bin erst kürzlich auf Umwegen darauf aufmerksam geworden. Die Kurzfassung lautet, meine Aufmerksamkeit wurde geweckt durch einen Facebook-Beitrag, in dessen Mittelpunkt das Schlagwort "QAMoms" stand -- ein Kofferwort aus "QAnon", einer Chiffre für ein ganzes Bündel von im Internet kursierenden Verschwörungstheorien sowie für deren Verfechter bzw. Anhänger, und "Mom". Da witterte ich - nachdem ich nun einmal für das Thema sensibilisiert bin - wieder einmal Anti-Familien-Propaganda, und diesbezüglich wurde ich auch keineswegs enttäuscht. 

Die in der Überschrift aufgeworfene Frage "Wie viel Geschlecht steckt in Verschwörungsideologien?" ist im Grunde verkehrt herum formuliert; gemeint ist vielmehr "Wie viel Verschwörungsideologie steckt im Geschlecht?", und die intendierte Antwort lautet: viel. Die Idee der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen - also die Behauptung, Menschen seien entweder männlich oder weiblich - ist selbst schon eine Verschwörungstheorie. Wenn hier jemand einwenden möchte, jetzt übertreibe ich aber, sage ich: vielleicht. Zumindest aber sieht die Amadeu Antonio Stiftung einen Zusammenhang zwischen "tradierten Vorstellungen von Geschlecht" und einer erhöhten Anfälligkeit für "Verschwörungsideologien": 

"Verschwörungsideologien treten besonders im Kontext weltbewegender und -verändernder Ereignisse auf, weil sie Gefühle von Ohnmacht und Kontrollverlust kompensieren. Auch das Festhalten an traditionellen Geschlechterbildern kann eine Reaktion auf Krisen sein, weil eine klare Geschlechterrolle vermeintlich Halt und einen festen Platz in der Welt bietet. Verschwörungsideologien gehen deshalb oft mit Retraditionalisierung und Antifeminismus einher, der Frauen und Männern unterschiedliche Identitätsangebote macht." 

Das alte Spiel: Ihr seid ja nur deshalb konservativ, weil ihr Angst vor Veränderung habt, ihr armen Hasis. Und wer diesen Befund abstreitet, der bestätigt ihn gerade dadurch: 

"Männer können besonders anfällig für die Versprechen von Verschwörungsideologien sein, weil Angst, Unsicherheit und Unwissen für Männlichkeit oft ein Tabu sind. Die Heldenerzählungen von Verschwörungsideologien setzen hier an und bieten Männern die Möglichkeit, tabuisierte Gefühle zu verleugnen und umzudeuten [...]. Gekränkte Männlichkeit [und] die Angst vor Souveränitätsverlust [...] ergeben so einen toxischen Nährboden".

Soweit also erst mal nichts Neues. Aber was ist denn nun mit den Frauen

"Frauen wird die Rolle der kämpfenden Aktivistin oft abgesprochen, deshalb wird ihre Rolle in demokratiefeindlichen Gruppen meist unterschätzt. Dabei gibt es verschwörungsideologische Kanäle und Inhalte, die sogar gezielt von Frauen vertreten werden" --

nämlich zum Beispiel eben "Mütter-Blogs", auf denen "Impfgegnerschaft, Esoterik und Verschwörungsideologie" miteinander verknüpft werden. -- Sicherlich: Dass es das gibt, kann ich aus eigener Anschauung bestätigen; wenn hier aber insinuiert wird, diese Blogs seien Bestandteil einer umfassenden und ausgeklügelten "rechten" Medienstrategie, um verschiedene Zielgruppen entsprechend ihrer jeweiligen Befindlichkeiten und Bedürfnisse zu manipulieren und zu radikalisieren, dann frage ich mich: Was soll das denn bitte sein, wenn nicht eben gerade Verschwörungsdenken? Es kommt aber noch "besser": 

"Weibliche Zuschreibungen, die oft mit sexistischer Abwertung einhergehen, werden hier umgedeutet und als positive Identität angeboten: Weibliche Naturmacht und die Selbstverharmlosung als 'besorgte Mutter' rechtfertigen und verbreiten den Hass auf Wissenschaft, Technik und Demokratie."

Merkste was, Leser? Die "Linken" glauben den "Rechten" (ich halte ja generell nicht viel von solchen Zuschreibungen, daher hier die Gänsefüßchen) ganz grundsätzlich nicht, dass sie von dem, was sie nach außen hin vertreten, tatsächlich und genuin überzeugt sind; sie müssen ihnen partout irgendwelche verborgenen Motive unterstellen, die immer etwas mit "Umdeuten" und "Rechtfertigen" zu tun haben und idealerweise unbewusst sind -- was darauf hinausläuft, dass die "Linken" besser wissen, was die "Rechten" wirklich denken, fühlen und wollen, als diese selbst. Das ist wirklich Gaslighting vom Feinsten. Die Anrufe kommen von innerhalb des Hauses...! 

Es gäbe an diesem Artikel noch allerlei zu kommentieren, aber ich habe mich ohnehin schon zu lange damit aufgehalten. Gesagt werden muss aber noch etwas zum Stichwort "Demokratiefeindlichkeit": Es ist nicht untypisch für Vertreter der "successor ideology" - wie der Publizist Wesley Yang sie genannt hat -, dass sie ihren eigenen ideologischen Standpunkt mit "Demokratie" schlechthin gleichsetzen und damit alle Andersdenkenden zu Demokratiefeinden stempeln. -- Gewiss: Auch die DDR nannte sich demokratisch, auch Nordkorea nennt sich Demokratische Volksrepublik. Aber mit einem traditionellen "westlichen" Verständnis von Demokratie hat das nicht viel gemein, denn dieses bezeichnet ein Regierungssystem, das geradezu davon lebt, dass verschiedene politische Überzeugungen nebeneinander bestehen und frei miteinander konkurrieren dürfen. In diesem Sinne ist die Amadeu Antonio Stiftung erheblich "demokratiefeindlicher" als viele der Gruppierungen oder Strömungen, denen sie ebendies vorwirft. Meinem Verständnis nach müsste die Amadeu Antonio Stiftung eigentlich als extremistische Organisation eingestuft werden. Stattdessen wird sie von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert. Tja. Die perfekte Antwort auf den ganzen "Entschwörungs"-Diskurs habe ich auf der Satireseite "The Babylon Bee" gefunden: "Deranged Conspiracy Theorists Worried Leaders May Build A New World Order After Leaders Say They're Building A New World Order". Enjoy. 

Als ich vor zwei Wochen an dieser Stelle Micah Murphys Kritik an der verbreiteten Praxis würdigte, Firmlinge zu Sozialstunden zu verpflichten, zeichnete sich bereits ab, dass das nicht das Letzte gewesen sein würde, das wir von Micah Murphy zum Thema Sakramentenkatechese hören bzw. lesen würde. Im zweiten Teil seiner auf vier Teile angelegten Artikelserie formuliert er noch grundsätzlichere Kritik: Während Murphy anerkennt, dass katechetische Angebote sinnvoll und unter Umständen notwendig sein können, um auf einen würdigen und fruchtbringenden Empfang der Sakramente vorzubereiten, kritisiert er, dass die landläufige Praxis der Sakramentenvorbereitungskurse vielfach dazu führe, dass Kinder und Jugendliche unnötig lange vom Empfang der Sakramente ferngehalten werden

Ich war gerade dabei, meine Gedanken zu Murphys Ausführungen zu sortieren, da sah ich auf der Facebook-Seite der Pfarrei meines Heimatstädtchens dies hier: 

(Screenshot) 

Hand aufs Herz, mich tät ja interessieren, wie viele meiner Leser jetzt denken: "Na und? Ist doch normal!" Worauf ich erwidern würde: Dass das als normal angesehen wird, ist gerade das Problem. Ich will ja nicht angeben - na gut, vielleicht ein bisschen -, aber während meines Studiums wurde mir mehrfach attestiert, meine große Stärke sei der fremde Blick auf das vermeintlich Vertraute; die vermeintliche Selbstverständlich von Dingen zu hinterfragen, die Andere als gegeben hinnehmen würden. Folglich bemühe ich mich, diese Fähigkeit zu kultivieren, auch wenn ich mir damit nicht immer nur Freunde mache, zum Beispiel im Pfarrgemeinderat. Das mal als allgemeiner Einschub, nun zurück zum Thema: Den sauren Atem der Bürokratie, der mir aus Verlautbarungen wie der obigen entgegenschlägt, halte ich für ein Grundübel des Systems Volkskirche. Mir drängt sich da das Bild eines Fließbands auf, auf dem die Kinder jahrgangsweise die einzelnen Stationen der Sakramentenmaschine durchlaufen. 

Von der mangelnden Flexibilität dieser Maschinerie kann auch Familienvater Murphy ein Lied singen, oder eigentlich sogar zwei. So mussten er und seine Frau vor der Taufe ihres zweiten Kindes an einem Taufvorbereitungskurs teilnehmen, obwohl die Taufe ihres ersten Kindes noch kein Jahr zurücklag und obwohl beide Elternteile einen Hochschulabschluss in Theologie haben und, wie sich zeigte, erheblich besser qualifiziert gewesen wären, den Kurs selbst zu leiten, als die Person, die das tatsächlich tat. (Seinen Lesern gibt Murphy den Rat: "Wenn man euch dazu verpflichtet, an solchen Taufvorbereitungskursen teilzunehmen, obwohl ihr schon alles wisst, dann bringt alle eure anderen Kinder mit. Und gebt ihnen vorher Zucker.") 

Nicht minder ärgert sich Micah Murphy darüber, dass es in seiner Pfarrei keine Möglichkeit geboten wurde und wird, seine Kinder - die, wie er sagt, schon als Kleinkinder ein starkes Verlangen nach der Eucharistie gezeigt haben - früher zur Erstkommunion gehen zu lassen als zum ortsüblichen Termin, nämlich im Herbst des zweiten Schuljahres. Was er wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass in meiner Pfarrei die Erstkommunion-Katechese erst im vierten Schuljahr anfängt? 

Aber das ist letztlich nicht der entscheidende Punkt; sondern vielmehr, dass es prinzipiell fragwürdig ist, die Kinder jahrgangsweise zur Erstkommunion-Vorbereitung zu schicken. Kinder entwickeln sich unterschiedlich schnell, und dass die Entwicklung ihres religiösen Verständnisses sehr stark davon abhängig ist, welche Rolle Religion im Alltag ihrer Familie spielt, wird wohl niemand bestreiten. Wenn nun also manche Kinder schon erheblich früher "so weit sind" als andere -- wieso muss man sie warten lassen

Wenn nun jemand einwenden möchte, für eine flexiblere und individuellere Regelung des Zugangs zu den Sakramenten sei die Kirche als Organisation schlichtweg zu groß, dann kann ich nur erwidern: Na, das Problem wird sich hierzulande ja wohl bald erledigt haben. 

Aber Micah Murphys Kritik geht, genau besehen, noch erheblich tiefer. Murphy argumentiert als jemand, der ernsthaft an die objektive Wirksamkeit der Sakramente ex opere operato glaubt -- und wenngleich das der verbindlichen katholischen Lehre entspricht, kann man zuweilen den Eindruck haben, der institutionelle Apparat der Kirche rechne überhaupt nicht damit, dass irgend jemand ernsthaft daran glaubt. Ich stelle mir vor, dass viele (haupt- wie ehrenamtliche) Pfarreimitarbeiter im wahrsten Sinne des Wortes ungläubig den Kopf schütteln oder bestenfalls mitleidig-herablassend lächeln würden, wenn ihnen jemand wie Micah Murphy mit dem Argument käme, sie setzten mutwillig das Seelenheil der Kinder und Jugendlichen aufs Spiel, indem sie diesen die Gnaden der Sakramente länger als nötig vorenthielten. -- Was es für die, sagen wir mal, "gefühlte Plausibilität" des Glaubens bedeutet, wenn man selbst innerhalb der Pfarrgemeinde Mühe hat, jemanden zu finden, der in seinem Handeln den Eindruck erweckt, tatsächlich an das zu glauben, was die Kirche lehrt, brauche ich wohl kaum zu erläutern. Ich merke das auch an mir selber. Theoretisch leuchten mir Micah Murphys Argumente für einen möglichst frühen und möglichst niederschwelligen Zugang zu den Sakramenten durchweg ein, und dennoch drängen sich mir die einschlägigen pragmatischen "Ja, aber"-Argumente auf und mahnen, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Zum Beispiel: Würde man, wie Murphy vorschlägt (und wie es übrigens auch can. 891 CIC vorsieht, "wenn nicht die Bischofskonferenz ein anderes Alter festgesetzt hat"), das Sakrament der Firmung zusammen mit (bzw. noch vor) der Erstkommunion im Alter von etwa sieben Jahren spenden -- was bliebe dann noch für die Teenager? 

Auf solche Gedankengänge hat Micah Murphy eine deutliche Antwort -- und die lautet: Die Strategie, die Sakramente gewissermaßen als ein Lockmittel einzusetzen, um dafür zu sorgen, dass die betreffenden Kinder und Jugendlichen (und deren Familien) überhaupt mal zur Kirche kommen, und die Sakramentenkatechese womöglich auch noch künstlich in die Länge zu ziehen, um die Leut', wenn man sie schon einmal am Wickel hat, nicht so bald wieder gehen zu lassen, ist eine missbräuchliche Instrumentalisierung, die dem Wesen und Wert der Sakramente eklatant unangemessen ist. 

Bäm

Ich gestehe, ich habe an diesem Artikel ordentlich kauen müssen und bin wohl auch noch nicht ganz fertig damit. Schon vor zwei Wochen habe ich zum Thema "Pflicht-Anforderungen für die Zulassung zur Firmung" die "vielleicht etwas paradoxe" Auffassung zu Protokoll gegeben, erstens sei es "falsch, dass es diese Anforderungen überhaupt gibt", und zweitens seien sie "zu niedrig". Was in dieser Aussage unter anderem mitschwingt, ist mein Eindruck, dass die landläufige Praxis der Firmvorbereitung oft nicht genügt, um bei den Jugendlichen eine solide katechetische Grundlage für den Empfang des Sakraments zu schaffen. Und nun meint Murphy, das notwendige Maß an katechetischer Vorbereitung auf den Empfang des Firmsakraments könne man innerhalb eines Wochenendes erledigen. Ja was denn nun? 

Nach einigem Nachdenken neige ich zu der Auffassung, dass beides richtig ist und dass das gar nicht so paradox ist, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte. Dass der Stand der katechetischen Bildung hierzulande selbst unter regelmäßigen Kirchgängern ziemlich im Argen liegt, halte ich für unbestreitbar; demnach bräuchte man im normalen Pfarrei-"Betrieb" eigentlich mehr und vor allem bessere katechetische Angebote -- für Kinder, für Jugendliche und für Erwachsene. Aber dass die katechetischen Angebote, die es gibt, in der Form eines Pflichtprogramms für die Zulassung zum Sakramentenempfang präsentiert werden, ist schlichtweg ein Systemfehler. Es scheint mir gar nicht unplausibel, anzunehmen, dass gerade diese Praxis zu dem verbreiteten Problem beiträgt, dass rund 90% der gefirmten Jugendlichen nach der Firmung nicht mehr in die Kirche kommen. Sie haben den "Abschluss gemacht", auf den sie hingearbeitet haben, und damit ist das Thema für sie erledigt. Man würde ja auch nicht, nachdem man das Abitur bestanden hat, weiterhin zur Schule gehen. 

Auch hier sind mir die pragmatischen "Ja, aber"-Argumente durchaus klar: Mit einem rein freiwilligen katechetischen Angebot, wo man für die Teilnahme am Ende nicht mal "was kriegt", könne man höchstens eine Handvoll Leute erreichen, und das seien dann in der Regel solche, die diese Angebote nicht mal brauchen, weil sie sowohl in der Lage als auch ausreichend motiviert sind, sich auf eigene Faust katechetisch weiterzubilden; hingegen seien Erstkommunion und Firmung genau die Gelegenheiten, auch Leute zu erreichen, die mit der Kirche sonst nicht so viel am Hut haben, und diese Gelegenheiten müsse man doch nutzen, um den Leuten wenigstens ein bisschen was "mitzugeben". -- Was sage ich dazu? Ich sage dazu, dass dieser volkskirchentypische Minimalismus eine self-fulfilling prophecy ist. Wenn man sein gesamtes katechetisches und pastorales Angebot auf eine Zielgruppe ausrichtet, von der man - ob zu Recht oder zu Unrecht - annimmt, dass es sie eigentlich sowieso nicht interessiert, braucht sich keiner zu wundern, wenn dabei etwas herauskommt, was niemanden interessiert. 

(Nicht verschweigen möchte ich in diesem Zusammenhang, dass meine Liebste und ich kurzzeitig dafür im Gespräch waren, ab diesem Herbst die Erstkommunion-Katechese an unserem Gemeindestandort zu übernehmen, aber das ist am Veto des Pfarrers gescheitert. Er wird schon seine Gründe haben.) 

Chad Pecknold ist Professor für Systematische Theologie an der Catholic University of America, und zu "Kaffee & Laudes"-Zeiten war er schon mehrfach in meinen Linktipps vertreten -- damals schrieb er nämlich eine regelmäßige Kolumne für die inzwischen wieder eingestellte US-Ausgabe des Catholic Herald. Sein erster Beitrag für den American Conservative erntete auf Twitter sehr viel positives Feedback, also dachte ich mir, den muss ich mir wohl mal ansehen. Der unmittelbare Anlass für den Artikel ist die von US-Präsident Biden per Dekret angeordnete Corona-Impfpflicht für Arbeitnehmer, aber eigentlich geht es dem Verfasser um weit Grundsätzlicheres, nämlich um das Konzept des Gemeinwohls und dessen Stellung im Spannungsfeld zwischen staatlicher Autorität und den Rechten des Individuums. Aber genau dafür sind die Auseinandersetzungen um die Rechtmäßigkeit,  Zweckmäßigkeit und Angemessenheit staatlicher Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung eben ein sehr illustratives Beispiel. Pecknold kritisiert sowohl die etatistische Auffassung, der Staat habe sowohl das Recht als auch die Pflicht, festzulegen, was im Interesse des Gemeinwohls liege, und die Bürger notfalls zu ihrem Glück zu zwingen, als auch die libertäre Position, die es aus einer Überbetonung der Rechte des Individuums  heraus grundsätzlich ablehne, zum Wohl der Allgemeinheit Opfer zu bringen, und kommt zu dem Schluss, dass beide Haltungen dasselbe defizitäre Verständnis dafür verraten, was "Gemeinwohl" eigentlich bedeutet. Der christlichen Naturrechtslehre zufolge ist das Gemeinwohl gerade keine politische Größe, sondern eine, die sich in natürlichen personalen Beziehungen - wie etwa in der Familie - verwirklicht; und das Glück und Wohlergehen des Einzelnen ist auf das Gemeinwohl hingeordnet und an dieses gebunden, während im modernen Verständnis Gemeinnutz und Eigennutz tendenziell eher als Gegensätze wahrgenommen werden. Und eben dieser angenommene Gegensatz prägt den Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern staatlich verordneter Pandemiebekämpfungsmaßnahmen. 

Hinsichtlich der Frage, inwieweit der Staat berechtigt sei, in die Rechte und Freiheiten des Individuums einzugreifen, verweist Pecknold auf den Hl. Thomas von Aquin, der drei Kriterien dafür nennt, ob ein staatliches Gesetz gerecht sei und somit befolgt werden müsse ("Ein ungerechtes Gesetz ist überhaupt kein Gesetz", zitiert der Aquinat seinerseits den Hl. Augustinus). Gerecht sei ein Gesetz dann, wenn die Beweggründe, aus denen heraus es erlassen wird, auf das allgemeine Wohlergehen der Rechtssubjekte ausgerichtet sind; wenn die gesetzgebende Instanz dazu befugt ist, ein solches Gesetz zu erlassen; und wenn den Rechtssubjekten dadurch keine unzumutbaren Lasten auferlegt werden. Dazu, ob diese Kriterien auf Präsident Bidens Impf-Erlass und vergleichbare staatliche Maßnahmen in der Corona-Krise zutreffen, wird es sicherlich unterschiedliche Einschätzungen geben; aber es wäre wohl schon viel gewonnen, wenn über solche Fragen eine offene Debatte möglich wäre. 

Auch Larry Chapp ist mit seinem Blog "Gaudium et Spes 22" nicht zum ersten Mal in meinen Linktipps vertreten -- sondern zum zweiten. Chapps Essay über "Synodalität" beginnt anekdotisch und sarkastisch mit einer Erinnerung des Verfassers an seine Zeit als Universitätsdozent, als von ihm erwartet bzw. verlangt wurde, in den Selbstverwaltungs-Gremien der Hochschule mitzuarbeiten. Unabhängig davon, wie der Artikel weitergeht, wäre allein diese Einleitung für mich schon ein völlig hinreichender Grund gewesen, den Text in meine Linktipps aufzunehmen. Denn diese Absätze zeichnen ein äußerst lebhaftes Bild davon, was an Gremienarbeit so ätzend ist -- insbesondere dann, wenn die Gremien de facto überhaupt nichts zu entscheiden haben und nur dazu da sind, die Illusion von Mitbestimmung zu erzeugen bzw. aufrechtzuerhalten. 

Ausgehend von solchen Beobachtungen setzt Chapp zu einer Generalkritik der aktuell sehr angesagten Bestrebungen an, eine "synodalere" Kirchenverfassung zu schaffen, und verwendet dabei - wen wundert's? - den Katholischen Reformprozess Synodaler Weg (KRSW) in Deutschland als abschreckendes Beispiel. Man frage doch mal - so regt er an - traditionelle Katholiken in Deutschland, wie gut sie sich in den angeblich so basisdemokratischen synodalen Prozess eingebunden und in den dazugehörigen Gremien repräsentiert fühlen. -- Es ist ein offenes Geheimnis, dass der KRSW durch allerlei prozedurale Tricks und Kniffe, angefangen bei der Auswahl der Teilnehmer, dazu "frisiert" wurde, der "progressiven" Agenda bestimmter pressure groups und den Interessen des institutionellen Apparats zu dienen; ähnlich sei es schon bei der Familiensynode 2014/15 gewesen, urteilt Larry Chapp. Die Vorstellung, eine umfassendere "Demokratisierung" kirchlicher Strukturen könne solche Manipulationen verhindern, betrachtet Chapp als illusorisch: Ohne einen Fokus auf Bekehrung und persönliche Heiligung, so argumentiert er, würde das Projekt einer "synodaleren" Kirche nur auf eine noch bürokratischere, noch mehr von politischen Interessen, Intrigen und Seilschaften beherrschte Kirche hinauslaufen, als sie es jetzt schon ist. 

Chapp geht in diesem Zusammenhang auch auf das Skandalon des sexuellen Missbrauchs und dessen weitreichender Vertuschung ein; zudem widerspricht er, wie die Überschrift seines Artikels bereits erkennen lässt, der Auffassung, die derzeitige Kirchenverfassung gebe dem Papst zu viel Macht: Die Autorität des Papstes, meint Chapp, sei zu einem großen Teil eine symbolische; sein tatsächlicher Einfluss darauf, was in der Kirche geschehe, sei enger begrenzt, als man von der Theorie her annehmen sollte. -- Es lohnt sich, seinen Essay im vollen Wortlaut zu lesen; deshalb mache ich in meiner Zusammenfassung hier mal einen Punkt. Was ich an Larry Chapp - unter anderem - so mag, ist, dass er absolut kein Blatt vor den Mund nimmt. Er ist ehemaliger Universitätsdozent und betreibt jetzt eine Farm -- was hat er zu verlieren? Den Ärger, den ich in meiner Pfarrei bzw. meinem Pastoralen Raum bekäme, wenn ich mich auch nur halb so konfrontativ äußerte wie er, wage ich mir kaum auszumalen. 


Ohrwurm der Woche: Bob Dylan, "Precious Angel" (1979) 

Seit ein paar Monaten teile ich unter dem Hashtag #Archivdonnerstag einmal wöchentlich einen älteren, aber bisher vergleichsweise wenig gelesenen Artikel meines Blogs auf Facebook und Twitter. Vergangenen Donnerstag war der Artikel "God Gave Rock'n'Roll To You (II)" von 2013 an der Reihe, in dem es um teils skurrile, teils dramatische religiöse Erweckungs- bzw. Bekehrungserlebnisse von Rock- und Popstars geht; und daraufhin fragte mich mein Bloggerkollege Peter aus Einswarden, ob ich eigentlich Bob Dylans Album "Slow Train Coming" kenne. Ich musste gestehen, dass es mir bisher nur vom Hörensagen ein Begriff war, aber auf Peters Empfehlung hin hörte ich mal rein. Der erste Song, "Gotta Serve Somebody", machte einen zwiespältigen Eindruck auf mich: Der Text ist sehr stark, aber der Sound ist mir irgendwie zu glatt und "cheesy", zu sehr "80er-mäßig", obwohl das Album aus dem Jahr 1979 stammt. Das ist einfach nicht das, was man von Bob Dylan will. Der zweite Song, "Precious Angel", gefällt mir hingegen sehr gut. An der Gitarre ist übrigens Mark Knopfler von den Dire Straits zu hören. 


Aus der Lesehore: 

Seht auf den Streiter im Lager Gottes, wie er gegen beides angeht: Gegen Anfeindung von außen und gegen Furcht im Innern. Der Apostel zählt die Kämpfe auf, die er in der äußeren Welt zu bestehen hat: "Gefährdet durch Flüsse, gefährdet durch das eigene Volk, gefährdet durch Heiden, gefährdet in der Stadt, gefährdet in der Wüste, gefährdet auf dem Meer, gefährdet durch falsche Brüder." (2 Kor 11,26) Er fährt fort: "Um von allem anderen zu schweigen, weise ich noch hin auf den täglichen Andrang zu mir und die Sorge für alle Gemeinden." (2 Kor 11,28) Im Äußern erleidet er Kämpfe, er wird mit Ruten geschlagen und in Ketten gefesselt. Im Innern erträgt er Furcht, weil er von seinen Leiden Schaden nicht für sich, sondern für seine Jünger befürchtet. Was er selbst erleidet, zählt für ihn nicht. Aber er sorgt sich, die Jünger könnten in ihrem Herzen der Verführung erliegen.. Für seine eigene Person verachtet er die Wunden des Leibes, bei den andern heilt er die Wunden des Herzens. So sind die Gerechten: Wenn sie selbst Schmerz und Betrübnis erdulden müssen, bleiben sie um den Nutzen anderer besorgt. Wenn sie schmerzlich angefeindet werden, denken sie noch daran, andern die notwendigen Belehrungen zu geben. 

 (Gregor d. Gr., Auslegung zum Buch Ijob)