Wenn die "tagesschau" verkündet "Kirche und Glaube verlieren laut Studie an Bedeutung", dann mag man zunächst geneigt sein zu denken: "Na toll, da wäre ich zur Not auch noch ohne diese Studie drauf gekommen." Wenn dann aber hochrangige Kirchenfunktionäre erklären, sie fühlten sich durch die Ergebnisse der besagten Studie in ihrem Kurs bestätigt, dann muss man sich sagen: Irgend etwas läuft hier falsch.
Wobei zugegebenermaßen auch das etwas ist, worauf man auch ohnedies hätte kommen können.
Aber mal der Reihe nach: Bei der Studie, um die es hier geht, handelt es sich um die 6. Kirchenmitgliedschaftsstudie (KMU) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die KMU ist ein religionssoziologisches Langzeit-Forschungsprogramm mit dem Ziel, "durch die Erforschung der Einstellungen und Erwartungshaltungen von Kirchenmitgliedern, aber auch von Ausgetretenen und Konfessionslosen, frühzeitig neue Trends in Bezug auf Religion und Kirche zu erkennen, deren Ursachen zu verstehen sowie kirchliche Handlungsoptionen im Umgang mit diesen Trends auszuloten" (Quelle: Tante Wikipedia). Die erste Datenerhebung im Zuge dieser Langzeitstudie wurde 1972 durchgeführt, weitere Befragungen folgten ungefähr alle zehn Jahre. Jetzt sind wir also in der sechsten Runde dieser Untersuchung, die auf einer im letzten Quartal 2022 durchgeführten Befragung von 5000 "repräsentativ aus der Gesamtbevölkerung ausgewählt[en]" Personen basiert. "Zum ersten Mal wirkte auch die römisch-katholische Kirche, vertreten durch die Deutsche Bischofskonferenz, an der Umfrage mit", wird auf der Website der EKD betont; konkret bedeutet das, dass die Deutsche Bischofskonferenz – wie sie selbst es formuliert – "die Erhebung durch fachliche Expertise und finanzielle Mittel unterstützt" hat.
Ich will mich hier nicht damit aufhalten, grundsätzliche Zweifel an der Aussagekraft solcher Studien anzumelden oder kritische Anfragen an die Methodik der Untersuchung zu stellen; gehen wir ruhig davon aus, dass die Umfrageergebnisse ein im Großen und Ganzen zutreffendes Bild ergeben. Und wie sieht dieses Bild aus?
In den Zusammenfassungen der Ergebnisse, die in jüngster Zeit durch die Medien gegangen sind, wird vor allem "eine deutliche Zuspitzung bei den Kirchenaustritten" hervorgehoben: "43 Prozent der Menschen in Deutschland sind bereits konfessionslos, zwei Drittel der evangelischen und drei Viertel [!] der katholischen Kirchenmitglieder neigen zum Austritt." Zugegeben, das sind drastische Zahlen, aber so richtig überraschend ist es, wenn man es recht bedenkt, wohl doch nicht. Es kommt mir so vor, als hätte ich das schon öfter gesagt: Wenn man die Mitgliederzahlen der Großkirchen in Deutschland mit den Zahlen derer vergleicht, die zum Gottesdienst kommen oder sich womöglich noch darüber hinaus irgendwie aktiv am Leben und der Sendung der Kirche beteiligen, dann müsste man sich eher darüber wundern, dass so viele Menschen noch nicht aus der Kirche ausgetreten sind. In vielen Fällen dürfte das kaum tiefere Beweggründe haben als Gewohnheit, Trägheit oder der Wunsch, der frommen Oma keinen Kummer zu machen. Aber diese Faktoren für "Austrittshemmung" verlieren gegenwärtig zusehends an Kraft, und sei es nur, weil die Oma schon gestorben oder aber dement ist und es nicht mehr mitkriegt. Abgesehen von einzelnen Omas gibt es natürlich auch noch den Aspekt der allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz. Noch vor einigen Jahrzehnten wurde ein Kirchenaustritt als gewagter, mindestens aber als Aufsehen erregender Schritt wahrgenommen; das ist heute wohl allenfalls noch in sehr überschaubaren sozialen Milieus der Fall. Je mehr Menschen aus der Kirche austreten, desto mehr erscheint dieser Schritt auch denjenigen als eine plausible Handlungsoption, die bisher noch Kirchenmitglieder sind, aber selbst schon lange nicht mehr so genau wissen, warum sie es noch sind. Kurzum, die Zeit massenhafter Kirchenmitgliedschaft – die Kirchenmitgliedschaft als gesellschaftlicher Normalzustand – ist vorbei, und das ist der Religionssoziologie längst bekannt. Diese Entwicklung wird seit Jahrzehnten in pastoraltheologischen Strategiepapieren diskutiert. Wenn jetzt angesichts der Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung alle lange Gesichter machen, dann offenkundig nur deshalb, weil der Zusammenbruch der massenhaften Mitgliedschaft schneller voranschreitet als erwartet. Mit anderen Worten: Man hatte gedacht oder gehofft, man hätte noch etwas mehr Zeit, sich auf das Unvermeidliche einzustellen.
Symbolbild, Quelle: Pixabay |
Tendenziell gravierender erscheint es, dass die Studie einen "rapide[n] Rückgang der Religiosität der gesamten Bevölkerung" diagnostiziert. Wobei man da eigentlich fragen müsste, was das überhaupt heißt. Einerseits setzt ein "rapider Rückgang" eigentlich voraus, dass es vorher eine große Religiosität in der Bevölkerung gegeben hätte, und diesen Eindruck hatte ich in meiner Lebenszeit eigentlich noch nie, nicht einmal in meiner Kindheit auf dem Dorfe, ja eigentlich gerade da nicht. Andererseits müsste man hier eigentlich hinterfragen, was Menschen meinen, wenn sie von sich sagen, sie seien "nicht religiös"; was sie möglicherweise dazu motiviert, sich selbst so zu sehen bzw. zu definieren. Und ehrlich gesagt habe ich erhebliche Zweifel, ob eine soziologische Studie über das Instrumentarium verfügt, solchen Fragen vertiefend nachzugehen.
Weiter heißt es in der Ergebniszusammenfassung auf der EKD-Website: "Zwar spielen die Kirchen nach wie vor eine wichtige und anerkannte gesellschaftliche Rolle in der Wahrnehmung der Menschen – das bezieht sich aber vor allem auf den sozialen Bereich. Außerdem werden von den Kirchen ein angemessenerer Umgang mit Schuld und grundlegende Reformen erwartet." Nun will ich die Forderung nach einem "angemessene[n] Umgang mit Schuld" durchaus nicht kleinreden, aber davon abgesehen fällt es schon sehr auf, dass diese Ergebnisse aus "synodalbewegter" Sicht geradezu "wie bestellt" kommen. Es verwundert daher nicht, wie sehr beispielsweise die "ZdK"-Vorsitzende Irme Stetter-Karp diese Studienergebnisse abfeiert; aber dazu später. Man darf hier indes nicht vergessen, dass es sich hier die Ergebnisse einer Befragung von Menschen handelt, von denen ein großer Teil eingestandenermaßen nicht nur den Glauben der Kirche nicht teilt, sondern ganz allgemein mit Kirche und Religion nicht viel anfangen kann. Wenn man diese Leute trotzdem dazu auffordert, Erwartungen an die Kirche zu formulieren, dann kann dabei eigentlich nicht viel Sinnvolles herauskommen. – Ganz grundsätzlich möchte ich die These wagen: Wenn man Menschen nach ihrer Meinung zu einem Thema befragt, von dem sie nicht viel verstehen und für das sie sich auch nicht besonders interessieren, legen sie oft ein bemerkenswertes Geschick darin an den Tag, zu erspüren, was der Fragesteller von ihnen hören will — ganz ähnlich wie das berühmte Zirkuspferd "Kluger Hans" (ich habe darüber mal etwas für die Tagespost geschrieben). Im Zweifel reproduzieren sie einfach das, was ihnen in den Medien als der vernünftige, moralisch richtige und "zeitgemäße" Standpunkt präsentiert wird.
Wenn in der Ergebniszusammenfassung sodann die Frage in den Blick genommen wird, wie "Menschen trotz ihres nachlassenden Interesses an explizit religiösen Inhalten auch weiterhin erreicht werden" können, fällt es auf, dass dieses nachlassende Interesse an Religion nicht als ein Problem betrachtet wird, das die Kirchen womöglich selbst mitverschuldet haben und gegen das sie etwas unternehmen müssten, sondern vielmehr als eine Tatsache, die man als unabänderlich hinnehmen und sich auf sie einstellen müsse, etwa indem die Kirchen ihr Angebot der veränderten Nachfragesituation anpassen. "Hier sehen die Autor*innen vor allem Chancen im sozialen Engagement, in der Jugendarbeit, in einer allgemeinverständlicheren Sprache, bei den Kasualien und in vielfältigen Gottesdienst- und Begegnungsformen."
– Wie schon gesagt, darf man nicht vergessen, dass es sich um eine soziologische Studie handelt. Soziologen wird man wohl kaum einen Vorwurf daraus machen können oder wollen, dass sie in soziologischen Kategorien denken. Aber von hochrangigen Amtsträgern der Kirche – also zum Beispiel Bischöfen – sollte man doch eigentlich erwarten können, dass sie das Wesen und den Auftrag der Kirche nicht allein unter soziologische Kriterien betrachten. Dass ihnen bewusst ist, dass die Kirche von Jesus Christus zu einem klar definierten Zweck und mit einem klar definierten Auftrag gestiftet wurde und dass sie, wenn sie diesen Zweck und Auftrag nicht erfüllt, zu nichts mehr Nütze ist als dazu, "weggeworfen und von den Leuten zertreten zu werden" (vgl. Mt 5,13). – In dieser Hinsicht gibt die Stellungnahme des Bischofs von Mainz, Peter Kohlgraf, der die Ergebnisse der KMU-Studie im Namen der Deutschen Bischofskonferenz kommentiert hat, ein recht gemischtes Bild ab.
Positiv hervorzuheben ist immerhin, dass Bischof Kohlgraf betont: "Wir verlieren als Christen nicht unseren Auftrag, Zeugen der Hoffnung zu sein, die uns trägt – das Evangelium anzubieten, Menschen dabei zu begleiten, in eine lebendige Christusbeziehung hineinzuwachsen und in ihr zu wachsen." Aber was er damit meint, bleibt doch recht unscharf, und insgesamt wirken diese Passagen erheblich weniger eindringlich und konkret als diejenigen, in denen er sich "dankbar" zeigt, "dass die Institution Kirche gesellschaftlich immer noch eine Rolle spielt", und unterstreicht, die Kirche wolle auch in Zukunft "ein wichtiger Faktor in gesellschaftlicher wie religiöser Hinsicht bleiben".
Wenn Bischof Kohlgraf einerseits erklärt, die Kirche habe "noch eine Botschaft", gleich darauf jedoch einräumt, "das Evangelium" verliere "für immer mehr Menschen an Lebensrelevanz", und meint, die "zentrale Herausforderung" für die Zukunft sei es, "zu sehen, wie wir diese beiden Größen (die Institution und ihre Botschaft) zueinander entwickeln", dann gilt es zu beachten, dass auch Soziologen und Unternehmensberater den Kirchen nicht etwa raten, ihren Charakter als Religionsgemeinschaften ganz aufzugeben und sich als rein diesseitige Lebenshilfe-Dienstleister neu zu erfinden. Weil das schlichtweg nicht ginge. Die Rede von Gott, die Verwendung von Kommunikationsformen wie Gebet und Segen gehören in dieser Sicht zur "corportate identity" der Kirchen, sie sind Wiedererkennungseffekte, Unterscheidungsmerkmale gegenüber anderen Anbietern auf dem Lebenshilfemarkt, und dafür braucht man sie auch in Zukunft noch. Auch der Pasta-König Guido Barilla war sich, als er 2002 die Bäckereikette Kamps übernahm, einigermaßen im Klaren darüber, dass die Leute in der Bäckerei nicht unbedingt Nudeln kaufen wollen. Das ist aber auch schon so ziemlich alles. Ich will Bischof Kohlgraf nicht unbedingt unterstellen, dass diese Analogie seine Sichtweise widerspiegelt, aber eine klare Aussage dazu, welche der von ihm benannten Größen "Botschaft" und "Institution" für ihn die primäre ist – ob in seinen Augen die Institution um der Botschaft willen da ist oder umgekehrt – ist ihm jedenfalls nicht zu entlocken.
Bezeichnend ist es in diesem Zusammenhang vor allem, dass Bischof Kohlgraf meint, angesichts der "Situation einer säkularen Mehrheitsgesellschaft" könne es der Kirche "nicht um die Perspektive der kleinen Herde bzw. des heiligen Rests" gehen. Da mag man geneigt sein zu fragen: Warum nicht bzw. was denn sonst? Aber natürlich sind uns solche Abwehrreflexe gegen die Vision einer Kirche, die ihren unvermeidlich scheinenden Schrumpfungsprozess als Aufruf zu innerer Bekehrung und geistlicher Erneuerung begreift, hinlänglich bekannt. Gerade der Bischof von Mainz ist schon öfter mit Äußerungen dieser Art aufgefallen. So erklärte er im Rahmen einer Tagung "Bistümer im epochalen Umbruch" im Januar 2019, die Kirche könne in Zukunft "nicht ein gallisches Dorf, eine Insel der Seligen inmitten einer mobilen Welt" sein; und in einer Predigt zur Eröffnung des Gedenk- und Jubiläumsjahres "1000 Jahre Heribert von Köln" im März 2021 warnte er vor "Tendenzen, von einer kleinen, reinen Herde der Rechtgläubigen zu träumen". Man fragt sich indes, was die Apologeten der Institution Volkskirche – oder besser gesagt, des von der Volkskirche übrig gebliebenen institutionellen Apparats, dem mehr und mehr die Mitgliederbasis abhanden kommt – dieser Vision eigentlich positiv entgegenzusetzen haben. Eine Kirche, die sich ihren Status als gesellschaftlich relevante Institution irgendwie auch ohne eine massenhafte Mitgliederbasis bewahrt, eine Art FDP des vorpolitischen Raums? Wie sollte das funktionieren, und selbst wenn: Wozu sollte das gut sein? Fast könnte man den Verdacht haben, die boshafte Unterstellung, man habe es mit einem elitären Zirkel zu tun, der sich – so Kohlgraf wörtlich! – "schmollend zurückzieht und abschottet" (wie anders hätte die Kirchengeschichte verlaufen können, hätte nur jemand zur rechten Zeit den Christen in den Katakomben des alten Rom gesagt, sie sollten das Schmollen sein lassen!), all die Polemik gegen "Wagenburgmentalität" und "Versektung", diene nicht zuletzt dazu, solche kritischen Fragen gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Gemäß der bewährten Rollenverteilung bleibt es dem "ZdK" vorbehalten, ein Statement abzugeben, das die Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz im direkten Vergleich einigermaßen moderat, ja fast schon "moderat-konservativ" aussehen lässt. "Wir sehen klar, dass der Wandel der Kirche in der postmodernen Gesellschaft nicht schnell und nicht nachhaltig genug gelingt", stellt die Vorsitzende Irme Stetter-Karp fest; mit anderen Worten: Frechheit, dass der Felsen Petri sich im Säurebad der säkularen Postmoderne einfach nicht rückstandsfrei auflösen will. Derweil findet Frau Stetter-Karp es "besonders interessant", dass unter der Mehrheit der Befragten, die "sich selbst als säkular oder eher säkular" beschreiben, "auch Kirchenmitglieder" sind (als hätte irgendwer ernsthaft etwas anderes erwartet): "Für die Kirchen heißt das, zu akzeptieren, dass Religiosität nicht auf den Genen liegt." Schon allein damit, dass sie in diesem Zusammenhang von Genen spricht, offenbart Frau Stetter-Karp einen derart kruden Materialismus, dass sie sich für eine Diskussion über religiöse Phänomene eigentlich von vornherein disqualifiziert; dass sie aus den Ergebnissen der KMU-Studie schlussfolgert, es gebe "keine selbstverständliche Sehnsucht" nach dem Transzendenten, "die jedem Menschen innewohnt", mag man folgerichtig finden oder auch nicht, bemerkenswert ist jedenfalls, dass sie dies aus ihrer Perspektive als "ZdK"-Präsidentin als eine gute Nachricht bewertet: Religion ist den Menschen gar nicht so wichtig, darum sollte auch die Kirche sie nicht so wichtig nehmen und sich lieber auf ihre Rolle "als Kämpferin für Klimaschutz, für Menschenwürde und für sozialen Ausgleich in der Gesellschaft" konzentrieren.
Eine ganz andere Sicht auf die Ergebnisse der KMU-Studie legt der katholische Publizist und YouCat-Initiator Bernhard Meuser in einem Beitrag auf Facebook dar. Den Ausgangspunkt seiner Anmerkungen stellt der Umstand dar, dass der Studie zufolge "[n]ur noch 27 % der Katholiken [...] für sich einen Kirchenaustritt aus[schließen]" – ein Phänomen, das Meuser als "Kirchenflucht" bezeichnet. Als ursächlich hierfür macht er ein ganzes "Bündel von Problemen" aus:
"Lange vor der Missbrauchskrise gab es die Kirche als Behörde, das Dabeisein als unverbindliche Mitgliedschaft. Und war da die Langeweile, die routinierte Betreuung, der Ritualismus der 'Sonntagspflicht'."
Hier unterbreche ich erst einmal, um auf die Absurdität der Tatsache hinzuweisen, dass das "Lager", aus dem solche Kritik am altgewohnten Alltagstrott der gemächlich vor sich hin sterbenden Volkskirche geäußert wird – am "Verwesungsgeruch der Mediokrität", der aus den "Verbandsschubladen" aufsteigt, wie Meuser etwas weiter unten schreibt – in der innerkirchlichen Debatte regelmäßig als das "konservative" etikettiert wird, das "Reformen verhindern" wolle. Das grenzt schon an Gaslighting, finde ich. – Auch auf Bischof Kohlgrafs Polemik gegen die "kleine Herde" bzw. den "heiligen Rest" hat Meuser, ohne direkt auf sie einzugehen, die richtige Antwort parat. Schon seit geraumer Zeit, so meint er, konnte man der "alt und kalt gewordenen Konsumentenkirche" mit ihren "toten Gemeinden" "gläubig mit seinen Kindern nur entkommen konnte durch Flucht ins Charismatische oder Traditionalistische, auf geistliche Inseln, an Sonderorte und in besondere Gemeinschaften, wo man auftankte, um wieder im braven Trott der Volkskirche mitzutrotten". Es sei daher kein Wunder, dass die "Institution" diese "kleinen Fluchten ihrer Mitglieder [...] als Vorwurf begriff" – und folglich vor ihnen "zitterte":
"Die Disziplinierung der flüchtenden Intellektuellen, Jungen und Frommen, denen man abwechselnd Restauration ('Die wollen das Heilige!') , Quietismus ('Die beten!'), Eskapismus ('Die sind unpolitisch!') und Fundamentalismus ('Die glauben alles!') nachwarf, scheiterte je länger desto mehr."
Und nun, da – nicht zuletzt infolge des Missbrauchsskandals – "das ganze System über den Kipppunkt hinaus" sei und "die panischen Bischöfe" sich "in Mehrheit für die Flucht in die diametral falsche Richtung entschieden" haben ("Noch mehr vom Falschen! Noch gründlicher die Spuren verwischen! Noch kernloser verkündigen! Noch geringere Ansprüche an sich selbst! Noch mehr Bürokratie! Noch mehr Verweltlichung! Noch weniger Identität!"),
"ginge es heillos gegen die Wand, gäbe es die verachteten Ränder der Kirche nicht, in denen unverdrossen geglaubt, freifinanziert geliebt, unbezahlt angebetet, gläubig gelehrt, sakramental gelebt und das Gotteslob in neuen Liedern dargebracht wird".
(Nochmals zwischengefragt: Klingt das "konservativ"?)
"Fern vom Getue der Unverzichtbaren sammeln sie sich: die Jungen, die Frommen, die Intellektuellen. Und sind hoffentlich noch da, wenn die ZDK-Kirche und der laikale Apparat seine Insolvenz eingestanden hat."
Das Stichwort "Insolvenz" kann man hier sowohl im buchstäblichen, also finanziellen Sinne als auch metaphorisch, im Sinne eines geistig-moralischen Bankrotts, verstehen; und es ist noch nicht gesagt, was von beidem zuerst eintritt. – Wir wissen, dass Christus der Kirche, die auf dem Felsen Petri gegründet ist, zugesagt hat, die Pforten der Hölle würden sie nicht überwältigen. Die Geschichte der letzten 2000 Jahre hat indes gezeigt, dass diese "Bestandsgarantie" nicht zwingend für die konkrete Sozialgestalt und Organisationsstruktur der Kirche in einer bestimmten Weltgegend in einer bestimmten historischen Epoche gilt. Und es liegt auf der Hand, dass diese Zusage erst recht nicht für den Fall gilt, dass Kirchenfunktionäre in dem Versuch, die Institution zu retten, Glaubensgut und Verkündigungsauftrag über Bord werfen. Wenn die aktuellen Entwicklungen sich fortsetzen, liegt es durchaus im Bereich des Möglichen, dass wir noch in unserer Lebenszeit den totalen Zusammenbruch der institutionellen Strukturen der Kirche in unserem Land sehen werden. Das ist, wenn es so kommt, kein Grund zum Verzweifeln, denn die Kirche Jesu Christi wird, wie sie es immer getan hat, andere Wege finden, um zu überleben und weiterzuwirken – an den Rändern, in den Nischen, notfalls in der Wagenburg, im Untergrund. Gleichwohl sollte man sich bewusst sein, dass in einem solchen Zusammenbruch nicht für vieles Überflüssige und sogar Schädliche, das es heute in der institutionellen Kirche gibt, untergehen wird, sondern auch Manches, das es wert wäre, bewahrt zu werden. Die obige Aussage, ein totaler Kollaps der kirchlichen Strukturen sei aus gläubiger Perspektive "kein Grund zum Verzweifeln", wäre somit zu ergänzen um die Klarstellung, dass er andererseits aber auch nichts ist, was man herbeisehnen oder gar – im Sinne des Diktums Nietzsches, "was fällt, das soll man auch noch stoßen" – aktiv fördern sollte.
Warum erscheint mir diese Klarstellung notwendig? – Bernhard Meuser spricht davon, dass der Kurs der "Majorität der Bischöfe", mit dem sie "noch vor dem kompletten Absaufen das rettende Ufer allgemeiner Wertschätzung erreichen" zu können hofften, in Wirklichkeit nur dazu geführt habe, "beide Lager zugleich, die Traditionalisten wie die Utopisten", zu verprellen:
"Die eilen nun alle zum Standesamt, um ihren Kirchenaustritt zu erklären - und zwar wegen der jeweils 'Anderen'. Die einen, weil sie nicht finanzieren wollen, wie man mit bischöflichem Beistand gerade die Kirche kaputtmacht, die anderen, weil man ihnen eine Kirche versprach, die es nie geben wird. Wenn das jemals 'Strategie' war, was sich die Strategen des Synodalen Weges ausgedacht haben, dann war es die blödeste Strategie der Welt."
Hier klingt ein sehr bedenkliches Phänomen an, nämlich die wachsende Zahl gläubiger Katholiken, die gerade darum, weil sie gläubige Katholiken sind, erwägen, aus der Kirche auszutreten: weil sie in der Körperschaft öffentlichen Rechts, die innerhalb Deutschlands die katholische Kirche zu verkörpern beansprucht, immer weniger die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche wiedererkennen, zu der sie sich im Credo bekennen, und weil sie diese Körperschaft auch nicht mit ihren Steuern mitfinanzieren wollen. Ich habe in meinem "erweiterten persönlichen Umfeld" – sowohl online als auch vor Ort – von so einigen Leuten gehört, die sehr ernsthaft über diesen Schritt nachdenken. Ich kann nur sagen, ich rate davon ab. Man kann noch so ehrlich überzeugt sein, dass die Mitgliedschaft in der kirchensteuerfinanzierten Körperschaft öffentlichen Rechts und die Zugehörigkeit zur Kirche als dem Mystischen Leib Christi zwei verschiedene Dinge seien, und noch so entschlossen, mit dem standesamtlichen Kirchenaustritt nur die erstere und nicht die letztere aufzukündigen: Die Gefahr, dass unmerklich eben doch das eine in das andere übergeht, dass der Versuch, getrennt von der verfassten Kirche sein Christsein zu bewahren, schließlich also doch auf die Gründung einer Ein-Personen-Sekte hinausläuft, in der man sein eigener Papst ist, ist ausgesprochen real. --- Natürlich ist es letztlich eine Gewissensentscheidung. Aber wenn mich jemand um meinen Rat fragt, sage ich: Ich würd's nicht tun. Ich würde vielmehr empfehlen, "die Anderen" austreten zu lassen, die "Progressiven", die "Maria 2.0"-Leute, die Leute, denen die Selbstdemontage der institutionellen Kirche immer noch nicht schnell genug geht. Und dann die Lücken zu nutzen, die sich durch diese Austritte auftun. Sich an der Basis, in den Pfarrgemeinden einbringen, besonders an solchen Stellen, an denen man langfristig nachhaltigen Einfluss ausüben kann: in der Kinderkatechese, in der Jugendarbeit, der Familienarbeit. Das wären – neben der Öffentlichkeitsarbeit, die auf Pfarreiebene allerdings ein undankbares Feld sein kann – die Arbeitsbereiche, die mir einfallen würden; es gibt sicherlich noch weitere, je nach Charismen und Interessen des Einzelnen.
Derweil gilt es im Blick zu behalten, dass es – wie Papst Benedikt XVI. in seiner Freiburger Konzerthausrede betonte – bei der "Entweltlichung" der Kirche nicht darum gehen darf, "eine neue Taktik zu finden, um der Kirche wieder Geltung zu verschaffen. Vielmehr gilt es, jede bloße Taktik abzulegen". Einschätzungen darüber, was die Kirche tun oder unterlassen müsse, damit nicht "noch mehr Leute austreten", hört man ebenso aus dem "konservativen" wie aus dem "progressiven" Lager; so weit die jeweiligen Vorstellungen hierzu inhaltlich auseinandergehen, steckt doch in beiden Fällen dasselbe Denkmuster dahinter, und das ist eben falsch. Als Christus infolge seiner "Brotrede" in der Synagoge von Kafarnaum (Joh 6,22-59) einen Großteil Seiner Anhänger verlor, dachte Er nicht über Strategien nach, wie Er sie zurückgewinnen könnte; stattdessen wandte er sich an den engsten Kreis Seiner Jünger und fragte:
Ich empfehle jedem, der mit dem Gedanken spielt, um des Glaubens willen aus der Kirche auszutreten, zur Eucharistischen Anbetung zu gehen, sich vom Herrn anschauen zu lassen und sich diese Frage stellen zu lassen.
Hinweis in eigener Sache: Dieser Artikel erschien zuerst am 1.12. auf der Patreon-Seite "Mittwochsklub". Gegen einen bescheidenen Beitrag von 5-15 € im Monat gibt es dort für Abonnenten neben der Möglichkeit, Blogartikel bis zu einer Woche früher zu lesen, auch allerlei exklusiven Content, und wenn das als Anreiz nicht ausreicht, dann seht es als solidarischen Akt: Jeder, der für die Patreon-Seite zahlt, leistet einen Beitrag dazu, dass dieser Blog für den Rest der Welt kostenlos bleibt!
Danke für diese hervorragende Analyse und die Arbeit die dahinter steckt. Jesus hat seinen Aposteln aufgetragen alle Menschen zu seinen Jüngern zu machen, von Mitgliedern steht in der entsprechenden Bibelstelle nix. Die kleine Herde sollte sich nicht abschotten, sondern nicht fürchten. Der Priester unserer Gemeinde hat die Zeichen der Zeit erkannt. Dieses Wochenende ist eucharistische Anbetung 24 Stunden lang. Eat this, Satan.
AntwortenLöschenIt's over, Volkskirche. Wenn die Eltern nichts mehr mit ihrer Kirche verbindet, werden die Kinder nicht mehr religiös sozialisiert, und deren Kinder erst recht nicht mehr. Die Altersgenossinnen meiner Tochter gehen zwar brav in Religion, lernen dort aber nichts, gehen allerhöchstens in die Kirche, bevor sie zur Erstkommunion tapsen, und werden danach dort nicht wieder gesehen bis zur Firmung, so sie stattfindet. Ich nehme mich selbst da auch nicht aus. Mein Kind ist nicht religiös sozialisiert, nachdem wir selbst keine Kirchenmitglieder mehr sind. Die Weichenstellung ist da nicht "Das Kind muss sich später entscheiden", sondern "Das Kind wird sich nicht für eine Religion entscheiden, warum auch, sieht ja, dass es ohne geht." Gesamtgesellschaftlich ist damit ein Verlust verbunden, der aber individuell für viele nicht spürbar ist. Alles schwierig.
AntwortenLöschenMir ist in meiner Kindheit und Jugend vor 60 Jahren noch beigebracht worden, dass Versäumen des Sonn- und Feiertagsgottesdienstes eine schwere Sünde, ja eine Todsünde, sei. Man müsse das unbedingt beachten und davon losgesprochen worden sein, bevor man wieder die Hl. Kommunion empfangen dürfe. Ohne Beichte und Lossprechung im Stande der Todsünde zu sterben, schließe von der ewigen Seligkeit aus.
AntwortenLöschenIch habe das ein Leben lang auch manchmal unter schwierigen Umständen strikt beherzigt. Inzwischen längst nicht mehr aus Angst vor Strafe sondern auch, weil es mir ein Bedürfnis war.
Heute sagt unser Pfarrer, was wir früher gelernt - und ein Leben lang beherzigt haben - gelte so nicht mehr. Wer hat da wohl recht?