Donnerstag, 9. November 2023

Vorlesestoff fürs Tochterkind – November '23

Neulich waren meine Tochter (neuen oder nicht-regelmäßigen Lesern meines Blogs sei gesagt: Sie ist kürzlich 6 geworden) und ich mal wieder in unserer örtlichen Stadtteilbibliothek, die über eine recht umfangreiche Kinder- und Jugenbuchabteilung verfügt; von den vier Büchern, die wir von dort mitgenommen haben, habe ich in meinem jüngsten Wochenbriefing aus einer Laune heraus den jeweils ersten Satz angegeben, ohne die Titel zu nennen. Hier also nun die Auflösung: 

Die Pferdemädchen-Franchise "Ostwind" ist mir erstmals in Gestalt einer Comic-Zeitschrift begegnet, die meine Liebste unserer Tochter auf deren Drängen im Supermarkt kaufte; bei dem Titel dachte ich natürlich spontan an die "Ostwind-Mission" von Pater Paulus Tautz CFR und sagte mir: Guck an, Neuevangelisierung für Pferdemädchen, echt innovative Strategie. Im Ernst gesagt war mir aber natürlich klar, dass es sich um eine zufällige Namensgleichheit handelte. – Dass dieses Comic-Magazin, wie so viele dieser Art, im Wesentlichen ein Marketing-Vehikel für eine vielgestaltige Medien-Franchise ist, die auch Filme, Bücher, Computerspiele und vielleicht (das weiß ich nicht mit Sicherheit, nehme es aber an) auch Puppen, äh, ich meine Actionfiguren umfasst, war schon bei oberflächlicher Betrachtung recht offensichtlich; dennoch existierte die "Ostwind"-Reihe bestenfalls am Rande meines Bewusstseins, bis ich beim jüngsten Büchereibesuch mindestens fünf verschiedene "Ostwind"-Bücher im Regal stehen sah. Eines von diesen trug den Titel "Ostwind – Wie es begann", und beinahe hätte ich das zuerst ausgeliehen; aber der Klappentext klärte mich darüber auf, dass es sich um ein Prequel handelt, eine "nachgelieferte Vorgeschichte" also. Nun scheint es unter Fans von Buchreihen (ich bevorzuge ja eigentlich "alleinstehende" Romane, aber die gibt es heutzutage, besonders im Kinder- und Jugenbuchsektor, offenbar kaum noch) geradezu einen Glaubensstreit darüber zu geben, ob man Buchreihen, deren einzelne Teile nicht dem chronologischen Handlungsverlauf entsprechend verfasst bzw. veröffentlicht wurden, in der Reihenfolge ihres Erscheinens oder in chronologischer Reihenfolge lesen sollte, und als jemand, der "selbst schreibt", bin ich entschieden der Meinung: Wenn ein Autor seine Geschichte nicht in chronologischer Reihenfolge erzählt, dann wird er schon seine Gründe dafür haben, und darum ist die Reihenfolge der Entstehung (oder im Zweifel die der Veröffentlichung) die "richtige"

Im vorliegenden Fall nützte mir diese Überzeugung allerdings nichts, da ich auf den ersten Blick nicht erkennen konnte, welches der in der Bibliothek vorhandenen Bücher in diesem Sinne das "erste" war. Ich griff schließlich zu demjenigen Buch, das als "Buch zum Film" gekennzeichnet war, da ich mir dachte: Verfilmt wird ja wohl in der Regel der erste Teil einer Reihe. Da hatte ich allerdings den Umfang und den medienübergreifenden Erfolg der "Ostwind"-Reihe unterschätzt. Wie ich inzwischen herausgefunden habe, gab es zuerst einem Film mit dem Titel "Ostwind", der auch eigentlich gar nicht als Auftakt einer Reihe konzipiert war; dann wurde jedoch das Buch zum Film überraschend zum Bestseller, weshalb zu diesem eine Fortsetzung geschrieben wurde, die ebenfalls verfilmt wurde, und so weiter. Insgesamt sind bislang ganze fünf "Ostwind"-Filme produziert worden, und von diesen ist "Ostwind – Der große Orkan" der fünfte. Tja. Da müssen wir nun wohl durch. 

Aus der Ella-Buchreihe des finnischen Autors und Ex-Lehrers Timo Parvela, die meinem Kenntnisstand zufolge bereits 20 Bände umfasst, hatten wir vor rund einem halben Jahr zunächst "Ella und das Abenteuer im Wald" in der Bücherei entdeckt – das ist Bd. 14 –, und rund zwei Monate später fand ich in dem von uns selbst ins Leben gerufenen Büchertauschregal im Vorraum der Besuchertoilette von Herz Jesu Tegel "Ella auf Klassenfahrt" – das ist Teil 3. Und jetzt haben wir Teil 10 ausgeliehen. Ich wage aber zu behaupten, dass es bei dieser Buchreihe ziemlich beliebig ist, in welcher Reihenfolge man die Bände liest, da die Handlung der einzelnen Teile nicht in nennenswertem Maße aufeinander aufbaut. In meiner  Besprechung von "Ella und das Abenteuer im Wald" hatte ich den "überkandidelt satirischen, zuweilen ins Surreale lappenden Erzählstil" hervorgehoben, "den ich irgendwo zwischen 'Lemony Snicket – Eine Reihe betrüblicher Ereignisse' und den Kommissar-Schneider-Romanen von Helge Schneider einordnen würde"; nach der Lektüre von zwei Ella-Romanen meinte ich als "das grundlegende Handlungsmuster" der Reihe erkannt zu haben, "dass die Ich-Erzählerin und ihre Klassenkameraden mitsamt ihrem gutwilligen, aber tollpatschigen und vom Pech verfolgten Lehrer wider Willen in ein Abenteuer hineingeraten". Wir werden mal sehen, inwieweit auch "Ella und ihre Freunde außer Rand und Band" diesem Muster entspricht. 

Die "Bibi & Tina"-Franchise – ursprünglich eine Hörspielreihe, entstanden als "Spin-Off" der von Elfie Donnelly begründeten Serie "Bibi Blocksberg" – dürfte für zahllose Mädchen die Einstiegsdroge in Sachen Pferdemädchen-Bücher, -Filme, -Comics, -Hörspiele usw. gewesen sein; auch wenn diese Serie, anders als beispielsweise "Wendy" (von anspruchsvolleren Reihen wie Lauren Brookes "Rose Hill – Internat für Mädchen und Pferde" oder Joanna Campbells "Vollblut" ganz zu schweigen; wie "Ostwind" sich da einsortiert, wird sich noch zeigen), kaum in nennenswertem Umfang echte Kenntnisse über Pferdepflege und Reitsport vermittelt. – In unserem Haushalt befinden sich derzeit einige (wenn auch nicht sehr viele) "Bibi und Tina"-Hörspielkassetten und -CDs sowie ein paar Folgen der "Bibi und Tina"-Zeichentrickserie; der Film "Bibi & Tina – Einfach anders"  (erschienen 2022, Regie: Detlev Buck) war, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, der erste Film, den unsere Tochter sich (zusammen mit mir) im Kino ansehen durfte; die ebenfalls von Detlev Buck inszenierte "Bibi & Tina"-Serie auf Amazon Prime war dem Tochterkind indes "zu gruselig", weshalb wir das Anschauen kurz vor Ende der vierten Folge (von zehn) abbrachen – aber mir hat sie eigentlich ziemlich gut gefallen, weshalb ich von Zeit zu Zeit mit dem Gedanken spiele, sie heimlich allein zu Ende zu schauen. – Die Buchreihe, von der wir bestimmt auch schon so drei oder vier Bände durch haben – insgesamt umfasst sie wohl um die 50 Bände, wenn nicht mehr – finde ich von allen Formaten der "Bibi & Tina"-Franchise am wenigsten überzeugend; die Handlung ist meist sehr simpel gestrickt und vorhersehbar, die handelnden Personen recht eindimensional gezeichnet. Als Gutenachtlektüre haben die Bücher aber immerhin den Vorteil, dass die Textmenge so gering ist, dass man einen Band meist mühelos an zwei bis drei Abenden durch kriegt und danach wieder was Besseres lesen kann. 

Die "Sternenschweif"-Reihe der britischen Autorin Linda Chapman habe ich in der Bettlektüre-Rubrik meiner Wochenbriefings schon öfter erwähnt, und das hat einen simplen Grund: Das Tochterkind steht da total drauf. Ich wüsste nicht mit Bestimmtheit zu sagen, wie viele "Sternenschweif"-Romane wir bereits gelesen haben, aber mehr als zehn waren es allemal. Bei der ersten Erwähnung, in Nr. 27 der "Ansichten aus Wolkenkuckucksheim" (Ende April des laufenden Jahres), erläuterte ich die "Handlungsprämisse" dieser Buchreihe – die ich da übrigens als "ziemlich gaga" beurteilte – wie folgt: 

"Hauptfigur der Reihe 'Sternenschweif' (Originaltitel 'My Secret Unicorn') ist ein Mädchen namens Laura, das mit seinen Eltern und einem jüngeren Bruder (in späteren Bänden kommt noch ein Baby hinzu) auf einer Farm lebt; mit Hilfe eines geheimnisvollen alten Buches kommt Laura dahinter, dass ihr unscheinbares graues Pony Sternenschweif in Wirklichkeit ein magisches Einhorn vom Planeten Arkadia ist und sie es temporär in seine wahre Gestalt verwandeln kann, dies aber streng geheim halten muss, selbst vor ihrer Familie und ihren besten Freundinnen." 

Weiterhin erwähnte ich, dass die Schöpferin der Buchreihe "nur" 15 Bände von "My Secret Unicorn" verfasst hat, dass jedoch "für die deutsche Ausgabe [...] zahlreiche weitere Folgen von verschiedenen Ghostwritern hinzugeschrieben wurden". Die Einschätzung, dass sich dies, "wie man sich vorstellen kann, nicht unbedingt positiv auf die Qualität auswirkt", musste ich später allerdings teilweise revidieren: In den Sommerurlaub nahmen wir einen Sammelband mit drei "Sternenschweif"-Geschichten mit, die ursprünglich als Band 18-21 der Reihe erschienen waren, also zu den ersten Folgen gehörten, die nicht von der ursprünglichen Autorin stammten. Und ich muss sagen, diese drei Geschichten gefielen mir tendenziell besser als einige der früheren: Die jeweilige Haupthandlung ist überzeugender konstruiert und dadurch auch spannender, und die Nebenhandlungen wirken nicht so banal und beliebig, wie es in einigen Büchern der Originalautorin der Fall war. 

Das unterschiedlich ausgeprägte Erzähltalent der diversen Ghostwriter kann indes nichts daran ändern, dass die "Sternenschweif"-Geschichten auf die Dauer – Tante Wikipedia führt nicht weniger als 70 Bände auf! – ziemlich redundant werden. Nachdem Protagonistin Laura in einem der letzten noch von Linda Chapman selbst verfassten Bände zur "Geheimnishüterin" avanciert ist, treten in der Serie immer mehr Kinder (zumeist Mädchen) auf, denen Laura dabei helfen muss, herauszufinden, dass ihre Ponys in Wirklichkeit Einhörner sind, und von Zeit zu Zeit muss immer mal ein Mädchen dabei sein, das sich nicht an die strikten Regeln für Einhornfreunde hält und danit nicht nur das eigene Einhorn, sondern auch die anderen und in letzter Konsequenz die ganze Einhornwelt Arkadia in Gefahr bringt. Es ist wie bei einem Brettspiel: Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem alle möglichen Spielzüge durchgespielt sind. Irgendwann, so hoffe ich, wird diese Serie auch meiner Tochter langweilig werden. 

-- Vorerst haben wir allerdings noch mit keinem der vier hier aufgeführten Bücher angefangen, denn erst einmal mussten wir noch ein anderes Buch zu Ende lesen, das wir nicht aus der Bücherei haben: 

Mit diesem Buch – und ich meine ganz konkret das physische Exemplar dieses Buches, das sich in unserem Haushalt befindet – verbindet sich für mich eine ganz spezielle Geschichte, denn ich habe es am Tag vor der Geburt meiner Tochter gekauft, und zwar in einem Supermarkt. Das war so eine spontane Eingebung. Meine Liebste lag im Humboldt-Klinikum und wartete auf die Entbindung, ich wollte schnell ein paar Kleinigkeiten einkaufen und dann wieder zu ihr; und als ich im Supermarkt schon auf dem Weg zur Kasse war, kam ich an so einem Wühltisch mit Büchern vorbei, und da fiel mir dieses Buch ins Auge. Ich fand den Titel vielversprechend und sagte mir: Das könnte ich meiner Liebsten am Bett vorlesen, wenn sich das Warten auf die Entbindung noch etwas hinzieht (und das tat es). Schon damals freute ich mich darauf, dasselbe Buch eines Tages auch meiner Tochter vorzulesen, und, tja, jetzt ist es soweit. 

Im  Mittelpunkt dieser an skurril-witzigen Einfällen überreichen Abenteuergeschichte, die in der Inka-Ruinenstätte Machu Picchu beginnt und, nach einem Zwischenstopp in New York, im Dschungel am Amazonas weitergeht, steht ein elfjähriges Zwillingspaar, Celia und Oliver Navel; ihre Eltern sind berühmte Forschungsreisende, aber sie selbst sind eigentlich gar nicht abenteuerlustig, sondern, wie sie selbst wiederholt beteuern, "eher Stubenhocker": Statt geheimnisvolle Tempel zu erkunden, im offenen Boot einen Wasserfall hinunterzufahren oder per Versuch und Irrtum herauszufinden, wie man ein Wasserflugzeug fliegt, würden sie die Sommerferien lieber vor dem Fernseher verbringen; und statt eine Prophezeiung zu erfüllen, von der angeblich das Schicksal der Welt abhängt, wollen sie eigentlich nur, dass ihre Mutter nach Hause kommt, die vor drei Jahren verschwunden und seither nur sporadisch wieder aufgetaucht ist. Aber die Mitglieder zweier miteinander verfeindeter Geheimgesellschaften haben andere Pläne mit ihnen, und obendrein müssen sie sich noch mit rachsüchtigen Grabräubern herumschlagen. Die verdrossen-fatalistische "Nie kriegen wir, was wir wollen"-Haltung, mit der die Zwillinge all die überraschenden Wendungen der Handlung über sich ergehen lassen (und sich dabei dennoch als erstaunlich kompetente Abenteuer erweisen, hauptsächlich mit Hilfe von Kenntnissen, die sie beim Fernsehen erworben haben), trägt  erheblich zur Komik des Buches bei. 

Dass es sich um den zweiten Teil einer vierteiligen Buchreihe handelt, war mir, als ich das Buch kaufte, nicht bewusst; dass ich, nachdem mir dies bewusst wurde, in sechs Jahren keinen Versuch unternahm, die anderen Bände der Serie in die Finger zu bekommen, obwohl dieses Buch mir so gut gefallen hatte, scheint erklärungsbedürftig. Und ich möchte sagen, diese Erklärung hat eine einfache und eine komplizierte Seite. Die einfache lautet: Ich habe schlichtweg nicht das Bedürfnis verspürt, die anderen Bände auch zu lesen, weil dieses Buch sehr gut für sich allein stehen kann. Über die Vorgeschichte erfährt man in Form eingestreuter Rückblicke genug, um die Handlung des zweiten Teils zu verstehen, ohne den ersten gelesen haben zu müssen; und am Schluss des Bandes ist zwar weiterhin unklar, wonach die beiden rivalisierenden Geheimgesellschaften eigentlich suchen und inwiefern das Schicksal der Welt davon abhängen soll – aber den Zwillingen ist das, nachdem sie endlich ihren ersehnten Kabelfernseh-Anschluss bekommen haben, eigentlich egal; wieso also sollte es dem Leser anders gehen? 

Der komplizierte Teil ist, dass ich wohl mehr oder weniger intuitiv der Auffassung war, es wäre möglicherweise besser, die Antwort auf die genannten Fragen nicht zu kennen. 

Dieses zugegeben eher vage Gefühl wiederum hatte und hat mit der Erkenntnis zu tun, dass der Autor bei all seiner überbordenden Fabulierlust und seinem schrägen Humor sehr wohl eine pädagogische Agenda mit seinen Büchern verfolgt. Das beginnt damit, dass Celia ihrem Bruder Oliver ständig Fremdwörter erklärt und dabei gelegentlich gemeinte Erinnerungshilfen ("Eselsbrücken" nannte man das in meiner Kindheit) verwendet, und geht so weit, dass auf der Website des Autors Aufgabenvorschläge für die Behandlung der Bücher im Unterricht zu finden sind. Entgegen dem ersten Eindruck gehört die Buchreihe um die Navel-Zwillinge eben doch zu jener von Bastian Balthasar Bux verachteten Kategorie von Büchern, mit denen der Leser "zu was gekriegt" werden soll – auch wenn das, wozu C. Alexander London seine Leser "kriegen" will, zunächst mal nichts Schlechtes ist, nämlich: neugierig zu sein und etwas über die Welt erfahren zu wollen. Zuweilen kommt er dabei allerdings rüber wie Neil deGrasse Tyson – und das sind dann meist auch die Momente, in denen erahnbar wird, dass die Agenda der Buchreihe inhaltlich noch weiter reicht. Offenkundig wird das in der "Anmerkung des Autors" am Ende des Bandes. Hier wird der innerhalb der Romanhandlung schon einmal erwähnte Begriff "Ethnosphäre" erläutert, von dem es heißt, "Wade Davis, der echte residierende Forschungsreisende am National Geographic Institute", habe ihn geprägt, und der eine gewissermaßen ökologische Sicht auf kulturelle Phänomene beschreibt: Darunter sei "die Gesamtheit aller Gedanken, Träume, Ideale, Überzeugungen, Mythen, Eingebungen" zu verstehen, :die unsere Vorstellungskraft hervorgebracht hat, seit es das menschliche Denken gibt" (S. 272). Ebenso wie das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten sei daher auch der Untergang von Kulturen "eine Tragödie, [...] eine unendliche Katastrophe" (S. 273). Der Zwiespalt zwischen den Anliegen, einerseits eine witzige und turbulente Abenteuergeschichte zu erzählen und andererseits eine derart gewichtige und mit solchem moralischen Anspruch daherkommende "Message" zu transportieren, stellt eine stellenweise deutlich spürbare Belastung für den Roman dar, und ich kann mir kaum vorstellen, dass dieses Problem sich nicht weiter verschärft, je näher die Handlung ihrer Auflösung kommt. Und was für eine Auflösung sollte das sein? Will man das wirklich wissen? Ich habe mich, wie gesagt, intuitiv für "Nein" entschieden. 

Besonders problematisch an dem moralischen Anspruch, mit dem C. Alexander London das Konzept der "Ethnosphäre" verficht, ist der Umstand, dass dieses Konzept selbst eigentlich amoralisch ist, oder sagen wir: in moralischer Hinsicht relativistisch. In der Natur gibt es kein Gut und kein Böse; wenn man daher ökologische Prinzipien auf den Bereich der Kultur überträgt, läuft das darauf hinaus, dass alle kulturellen Phänomene gut und erhaltenswert seien, eben weil sie Teil der "Ethnosphäre" sind. Die dieser Auffassung inhärenten Widersprüche werden besonders deutlich anhand der über die Romanhandlung verstreuten Kommentare zur Eroberung Südamerikas durch die Spanier – ein Thema, das ja ohnehin aus christlicher, speziell katholischer Sicht gesteigerte Aufmerksamkeit erfordert. So heißt es über die spanischen Conquistadores: "Ihnen gefielen die indianischen Schätze, aber deren Orakel und ursprüngliche Religion gefielen ihnen nicht. Deshalb rissen sie die Gebetsstätten nieder, zerstörten sämtliche Aufzeichnungen und gaben den Orten andere Namen. Sie wollten die Inkas nicht bloß erobern, sie wollten ihre Kultur komplett ausrotten" (S. 30f.). Was indes die "ursprüngliche Religion" angeht, hatte Oliver schon zuvor die berechtigte Frage aufgeworfen: "Haben die Inkas nicht Menschen geopfert?" (S. 28). Da könnte man ja nun zu dem Schluss kommen, die Spanier hätten durchaus nachvollziehbare Gründe dafür gehabt, dass ihnen die Religion der Inkas "nicht gefiel". – Oder hätte man die Praxis der Menschenopfer bewahren sollen, weil sie eben zur Ethnosphäre gehören? Die Widersprüche gehen aber noch tiefer: Die Conquistadores werden getadelt, weil sie die Kulturen der Azteken und der Inkas vernichtet haben – aber was ist mit den Kulturen, die ihrerseits von den Azteken und Inkas vernichtet wurden? Es wird ja gern vergessen, dass der Erfolg der Spanier bei der Eroberung der Reiche der Azteken und der Inkas auch dadurch bedingt war, dass die von diesen Reichen unterworfenen Vasallenvölker die Conquistadores zunächst tatsächlich als Befreier begrüßten.

Von alledem muss man sich aber, wenn man es nicht übertrieben ernst nimmt, das Lesevergnügen nicht verderben lassen. Außer durch das enorm sympathische Heldenduo Oliver und Celia und eine Vielzahl origineller, skurriler Nebenfiguren besticht "Wir werden von Kannibalen zum Essen eingeladen" nicht zuletzt durch eine erstaunlich gut durchdachte und solide konstruierte Handlung – was man bei oberflächlicher Betrachtung gar nicht vermuten würde. Von Dramaturgie versteht er was, der C. Alexander London; und es lohnt sich, das Buch mehrmals zu lesen, um das handwerkliche Können zu bewundern, das er beim Aufbau der Geschichte an den Tag legt.

Ehrlich gesagt bezweifle ich stark, dass ich über die zuletzt aus der Bücherei ausgeliehenen Bücher, wenn ich sie gelesen haben werde, ähnlich positiv urteilen werde. Aber warten wir's mal ab... 


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