Mittwoch, 30. Mai 2018

Laufsteg-Apostolat?

Ich weiß nicht, wie viele Jahre es her ist, dass ich einmal unfreiwillig etwa 20 Minuten einer Folge von "Germany's Next Top Model" zu sehen bekam. Oder wie lang ein Abschnitt zwischen zwei Werbeblöcken da eben so zu sein pflegt. Ursächlich für dieses unfreiwillige Fernseherlebnis war der Umstand, dass die Sendung in einer Pizzeria lief, in der ich Essen zum Mitnehmen bestellte. Kein Witz. Da stand ich nun da und konnte nur denken: Warum tun Leute sich das an?

Diese Frage bezog sich einerseits auf die Zuschauer, andererseits und vor allem aber auf die Kandidatinnen. Sich um der sprichwörtlichen "15 Minuten Ruhm" willen vor laufender Kamera psychoquälen lassen, um günstigstenfalls einen Knebelvertrag zu "gewinnen", der sicherstellt, dass man seinen Peinigern noch auf Jahre hinaus ausgeliefert bleibt? Stockholm-Syndrom much?

Über den menschenverachtenden Charakter von Castingshows, über die totale psychische und emotionale Ausbeutung der Kandidaten, von der diese Showformate leben, ist schon viel gesagt und geschrieben worden; ich will da gar nicht großartig ins Detail gehen, sonst wird dieser Artikel wieder zu lang und ich werde nie fertig damit. Aber ich würde schon behaupten wollen, dass GNTM in dieser Hinsicht noch schlimmer ist als das Gros der Gesangs- und sonstigen Talentwettbewerbe im Fernsehen; denn hier verkaufen die Kandidatinnen buchstäblich ihren Körper.

(Bildquelle: Pixabay
Aber dieses Jahr ist alles ganz anders, denn in der kürzlich zu Ende gegangenen 13. (!) GNTM-Staffel war eine der Kandidatinnen eine bekennende Christin: Oluwatoniloba ("Toni") Dreher-Adenuga, 18 Jahre, aus Stuttgart, gehört der evangelikalen "Body of Christ Church" an und ist (oder war?) dort sogar Jugendgottesdienstleiterin. Im Laufe des seit Februar auf Pro7 ausgestrahlten Model-Wettbewerbs hat diese junge Dame, wie die evangelikale Nachrichtenagentur idea zu berichten weiß, "öfter ihren Glauben bezeugt und mit Mitstreiterinnen gemeinsam gebetet". Und dann ging "Toni" sogar als Siegerin aus dem Wettbewerb hervor! Wenn das kein Zeichen ist! Bei ihrer Kirchengemeinde jedenfalls herrschte großer Jubel: "Wir feiern Jesus in ihrem Leben. Halleluja!"

Klar: Für die Stuttgarter "Body of Christ Church" bedeutet die erfolgreiche GNTM-Teilnahme ihrer Jugendgottesdienstleiterin einen enormen Publicity-Zugewinn, und außerdem hat Toni angekündigt, ihrer Kirchengemeinde "einen Teil ihrer 100 000 Euro-Siegprämie zu spenden". Davon abgesehen fielen die Reaktionen der christlichen Öffentlichkeit allerdings uneinheitlich aus. Da fehlte es auch nicht an Wortmeldungen, die mehr oder weniger explizit die Auffassung durchblicken ließen, Christen sollten sich an so etwas wie GNTM überhaupt nicht beteiligen. Diesen wurde freilich widersprochen; eine besonders engagierte Wortmeldung, die ich auf Facebook gefunden habe, lasse ich hier mal in ganzer Schönheit (d.h. in unveränderter Orthographie) folgen:
"Sie macht aber auch dort werbung für jesus. Zeugnis geben kann man natürlich am besten da wo leute jesus noch nicht kennen. Jesus hat selber bei den zöllnern und prostituierten gesessen. Das gäbe damals auch voll den shitstorm wenns da facebook gegeben hätte. Wenn sie jetzt bekannt wird kann sie doch toll vielen leuten zeugnis geben. Viel mehr als wenn sie beim bäcker schrippen verkauft. Geld kann man übrigens auch f den bau v gottes reich gebrauchen. Sie hat auch noch mit den anderen gebetet, was wollt ihr denn noch? Von mir gibts ein hut ab!" 
-- Schönheit der Orthographie hin oder her: Vom Kern der Sache her hätte das ein studierter Pastoraltheologe nicht besser sagen können. Kirche muss gesellschaftlich relevant sein; bei allem, was öffentliches Interesse erregt, müssen Christen Präsenz zeigen; man muss die Leute da abholen, wo sie stehen. Man kennt diese Parolen. Was aber, wenn die Kirche bzw. das Christentum durch diese "Adabei"-Strategie gerade unkenntlich gemacht wird -- weil sie/es wie ein amorpher Farbfleck im Hintergrund mit seiner Umgebung verschwimmt, weil er sich nicht klar genug von ihr abhebt? Das, liebe Freunde, ist das sogenannte "Identität-Relevanz-Dilemma". Sicherlich kann bzw. sollte man nicht von vornherein ausschließen, dass die GNTM-Teilnahme einer gutaussehenden und sympathischen bekennenden Christin tatsächlich einen positiven evangelisierenden Effekt auf die Zuschauer haben kann, nämlich insofern, als manche Zuschauer dadurch vielleicht erstmals anfangen, sich für den christlichen Glauben zu interessieren und ihn in einem positiven Licht wahrzunehmen. Man sollte sich zugleich jedoch auch die Frage stellen, was für eine Art von Zeugnis für den christlichen Glauben das eigentlich ist, wenn damit gleichzeitig der Eindruck erweckt wird, ein - wie oben angedeutet - in Hinblick auf sein Menschenbild zumindest fragwürdiges Showformat wie Germany's Next Top Model sei für Christen akzeptabel. 

Mehr noch: Wenn Toni Dreher-Adenuga, wie in der bereits zitierten idea-Meldung berichtet wird, ihren Casting-Sieg mit den Worten kommentiert "Gott war von Anfang an auf meiner Seite. Schon als ich mich angemeldet habe, wusste ich, dass er bei mir ist. Und er hat mich nicht enttäuscht"; wenn sie erklärt, Gott "habe sie immer bestärkt und beschützt und schließlich so weit gebracht", und im Zuge der Siegerehrung ihren Fans zuruft "Glaubt an euch, denn ihr könnt alles schaffen – mit Gottes Kraft und mit eurer Kraft in Jesu Namen", dann klingt das schon sehr arg nach Prosperity Gospel -- nach jener pseudochristlich eingefärbten Variante des Positiven Denkens, die, gern gestützt auf ein kontextwidriges Verständnis von Philipper 4,13 ("Alles vermag ich durch den, der mich stärkt"), das Bekenntnis zu Christus als den Schlüssel zum Erfolg im Leben verkauft.

Ich will damit überhaupt nicht bestreiten, dass Toni Dreher-Adenuga subjektiv davon überzeugt sein mag, in ihrer Modelkarriere Christus zu verherrlichen. Ich frage mich jedoch, ob  diese subjektive Überzeugung nicht zu einem gewissen Grad illusorisch ist. Jedenfalls muss ich bei dieser ganzen Geschichte unwillkürlich an etwas denken, was mein Freund Rod kurz zuvor in einem ganz anderen Zusammenhang auf seinem Blog geschrieben hat
"Mir fällt da ein evangelikales Paar ein, das uns vor zwanzig Jahren einen Rundbrief schickte, in dem es um Spenden bat, um ihr Projekt zur Missionierung von, jawohl, Supermodels zu unterstützen. Es war ziemlich offensichtlich, dass es ihr Wunsch war, in einer Weltmetropole zu leben und in der Modeszene abzuhängen, und in der Idee eines Supermodel-Apostolats sahen sie die Chance, diesen Traum zu verwirklichen. Ich glaube nicht, dass sie im Geringsten zynisch waren -- in dem Sinne, dass ihnen bewusst gewesen wäre, was sie da taten. Ich glaube, sie wollten einfach einen Fashionista-Lebensstil genießen und hatten für sich einen Weg gefunden, wie sie diesen Wunsch rechtfertigen konnten -- nicht nur vor sich selbst, sondern auch vor den Leuten in der Kirche, die über die Mittel verfügten, ihnen einen solchen Lebenswandel zu subventionieren."
Und dann fällt mir da noch eine Passage aus Adrian Plass' "Tagebuch eines frommen Chaoten" ein, die ich - da mein Exemplar dieses Buches bei meinem letzten Umzug unter die Räder gekommen und seither noch nicht wieder aufgetaucht ist - nur sinngemäß aus dem Gedächtnis wiedergeben kann: Der Sohn des Ich-Erzählers hat mit einigen anderen Jugendlichen aus der Kirchengemeinde eine Heavy-Metal-Band mit dem schönen Namen "Bad News For The Devil" gegründet, und kurz nach ihren ersten Auftritten (im Gottesdienst!) erklären die Bandmitglieder überschwänglich, wenn Gott sie dazu berufen sollte, große Stars zu werden, dann seien sie bereit, dieser Berufung zu folgen - selbst wenn das bedeuten sollte, Unmengen von Geld zu verdienen, um die Welt zu reisen und in teuren Hotels zu wohnen. 

Kurz gesagt, wenn jemand sich von Gott exakt dazu berufen fühlt, was er sowieso gern tun möchte, dann ist grundsätzlich Vorsicht geboten. Auch dann, wenn der Glaube an diese Berufung subjektiv total "echt" ist. 


Samstag, 26. Mai 2018

Dorothy Day und die KiTa-Demo

In Berlin ist heute eine Demo gegen den Mangel an KiTa-Plätzen. Ich gehe da nicht hin. Einerseits, weil der Tag schon anderweitig verplant ist, andererseits aber auch, weil ich mich mit dem Anliegen der Demo nicht so richtig identifiziere. Meine Frau und ich machen uns weniger Sorgen darum, ob wir für unsere Tochter einen KiTa-Platz bekommen, als vielmehr darum, wie wir - sobald die bezahlte Elternzeit abgelaufen ist - unseren Alltag so organisieren, dass wir keinen KiTa-Platz brauchen. 

Aber, na klar, wir sind ja auch religiöse Freaks. Normale Eltern brauchen nun mal einen KiTa-Platz für ihr Kind. 

Katholisches Heim für Findelkinder in New York, 1888
(Bildquelle hier
Und genau das macht mir Kummer. Im Ernst, in den ersten Wochen nach der Geburt meiner Tochter fand ich es geradezu erschreckend, mit welcher Selbstverständlichkeit in Berlin davon ausgegangen wird, dass man sein Kind schnellstmöglich in eine KiTa steckt. Wie wir von allen Seiten (übrigens auch innerhalb der Kirchengemeinde) gefragt wurden, ob wir uns schon um einen KiTa-Platz für unsere Kleine gekümmert hätten, und wie wir angeschaut wurden, wenn wir das nicht nur verneinten, sondern sogar erklärten, wir wollten es nach Möglichkeit vermeiden, unser Kind in Fremdbetreuung zu geben, ehe es nicht mindestens drei Jahre alt ist. 

Sicher: Es ist schwierig, ohne KiTa auszukommen. Es bedeutet finanzielle Einschnitte, es erfordert mindestens ein Elternteil, das entweder gar nicht berufstätig ist oder von zu Hause aus arbeitet. Viele Eltern haben diese Möglichkeit schlichtweg nicht. Und selbst wenn man sie hat, braucht man zusätzlich dazu immer noch viel Unterstützung, Rücksichtnahme und Verständnis. Von Großeltern, Freunden, Nachbarn, Arbeitskollegen. "Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind aufzuziehen." Angesichts der galoppierenden Fragmentierung der Gesellschaft sind solche Bedingungen immer schwerer zu finden bzw. zu schaffen. 

Das Problem ist, dass der (theoretische) Rechtsanspruch auf einen KiTa-Platz suggeriert, es sei ja gar nicht nötig, Eltern dabei zu unterstützen, ihr Kind zu Hause aufzuziehen. Im Gegenteil, das ist eigentlich sogar unerwünscht

Zugestanden: Wenn die Verhältnisse nun einmal so sind, dass Eltern im Normalfall schlichtweg auf einen KiTa-Platz für ihr Kind angewiesen sind, und dann gibt es zu wenige davon, dann ist das ein schwerwiegendes Problem. Insofern haben die Eltern, die heute in Berlin für mehr KiTa-Plätze demonstrieren, meine Sympathie. Aber das eigentliche Problem ist nicht, dass es zu wenige KiTa-Plätze gibt, sondern dass möglichst umfassende KiTa-Betreuung als Normalfall und als gesellschaftlich erstrebenswert verkauft wird. 

Unpopular Opinion Time, ich weiß. Umso mehr hüpfte mir das Herz im Leibe, als ich über die folgende Passage aus Dorothy Days  Autobiographie"The Long Loneliness" stolperte: 
"Eine große Frage beschäftigte mich zuinnerst. Warum wurde so viel unternommen, um soziale Missstände zu verbessern, statt dass man sie von allem Anfang an vermied? Es gab wohl Kindergärten - warum aber erhielten die Väter nicht genügend Lohn für den Unterhalt ihrer Familien, so dass die Mütter nicht auf Arbeit fortzugehen brauchten?" [1] 
Das schrieb Dorothy Day im Jahr 1952, und die Passage ist eingebettet in die Schilderung der Zeit ihres Studiums an der University of Illinois (1914). Mir scheint, wir haben seitdem eine Menge verlernt -- und haben dieses Vergessen Fortschritt genannt.   


***** 
[1] Dorothy Day, The Long Loneliness. New York: Harper, Reprint 1981, S. 45. Deutsche Übersetzung übernommen aus: Angelika Sirch, Der ganze Weg zum Himmel ist Himmel. Über Gotteserfahrung und Weltverantwortung bei Dorothy Day. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2010, S. 50, Anm. 144. 

Freitag, 25. Mai 2018

Weder arm noch sexy

Jeremias Schröder OSB ist Abtpräses der Benediktinerkongregation von St. Ottilien, und er ärgert sich über den schlechten Ruf, den die Führungsebene der katholischen Kirche in Deutschland beim Rest der Welt - genauer: beim Rest der Weltkirche - genießt. Er ärgert sich darüber so sehr, dass katholisch.de schon vor fast drei Jahren - im Vorfeld der Familiensynode jenes Jahres - ein Interview, das Björn Odendahl mit dem Abtpräses geführt hatte, unter dem Titel "Die deutsche Kirche als Buhmann" veröffentlichte. Seither hat der Ärger offenbar nicht abgenommen, denn nun hat Abt Jeremias unter einem auffallend ähnlichen Titel - "Die deutsche Kirche ist immer der Buhmann" - einen Meinungsbeitrag für die "Standpunkt"-Rubrik des umstrittenen Portals aus Bonn verfasst. Der erschien übrigens auch schon vor über einer Woche, sodass die fulminante Breitseite, die der Erzbischof von Philadelphia, Charles J. Chaput, jüngst im Magazin First Things gegen die große Mehrheit der Deutschen Bischofskonferenz und deren Haltung in der Frage der Interkommunion für gemischtkonfessionelle Ehepaare abgefeuert hat, darin noch gar keine Berücksichtigung finden konnte. Ist die nächste Jeremiade (Titelvorschlag: "Die deutsche Kirche ist schon wieder bzw. immer noch der Buhmann") also schon vorprogrammiert? Man wird sehen. 

Nun ist es zugegebenermaßen tatsächlich so, dass man nur mal aufs Geratewohl einen Blick in die katholischsprachige Auslandspresse zu werfen braucht, um festzustellen, dass die deutsche Teilkirche da meist nicht gut wegkommt. Und zwar aus genau dem Grund, den Abt Jeremias schon 2015 gegenüber Björn Odendahl angab: 
"Vor allem in konservativen Kreisen wird es so dargestellt, dass die deutsche Kirche mit ihren finanziellen Möglichkeiten die kirchliche Lehre umkrempeln oder von innen aushöhlen will. Das sind ganz unerfreuliche Töne." 
Zweifellos. Aber wäre es nicht vielleicht mal angebracht, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, inwiefern an solchen Vorwürfen etwas dran sein könnte - oder wenn nicht, wie es dann kommt, dass die deutschen Kirchenoberen bei ihren ausländischen Kollegen wieder und wieder diesen Eindruck erwecken? Nö. Abt Jeremias setzt in seiner "Standpunkt"-Kolumne lieber auf Empörung -- darüber, dass es überhaupt jemand wagt, so etwas zu sagen oder auch nur zu denken. Zu diesem Zweck verweist er zunächst auf einen ungenannten Monsignore, der gesagt haben soll, "die deutsche Kirche sei leider schon ganz dem Protestantismus verfallen" -- und kommentiert süffisant: "Er wurde kurz darauf versetzt, aus anderen Gründen – aber immerhin." Also, hochwürdigster Herr Abt: Wofür soll ich dieses "immerhin" denn bitte halten? Etwa für Schadenfreude? Ts, ts. 

Als ein weiteres Beispiel nennt er den "Romkorrespondent[en] des amerikanischen National Catholic Register", der seinen Lesern erklärt habe, "dass der Erzbischof von Hamburg zum 'heterodoxen Flügel' der deutschen Kirche gehört. Er zählt die Mehrheit unserer Bischofskonferenz zu diesen Irrgläubigen". -- Ein bisschen Background gefällig? Dieser Korrespondent, von dem der Abtpräses meint, er würde die deutschen Bischöfe "diffamieren", heißt Edward Pentin und erregte im Umfeld der Familiensynode 2014 unter anderem damit Aufsehen, dass er den deutschen Kardinal Walter Kasper dabei erwischte, sich erst herablassend über afrikanische Bischöfe zu äußern und es dann zu leugnen. Schon damals hat es also nicht an Versuchen von interessierter Seite gefehlt, Pentins journalistischen Ruf zu beschädigen. Aber was hat er denn diesmal geschrieben, also in echt

Nun, tatsächlich hat er die Einschätzung des Erzbischofs von Hamburg, Stefan Heße, Papst Franziskus habe Unterstützung für den Interkommunion-Vorstoß der DBK-Mehrheit signalisiert, mit dem Hinweis garniert, diese Äußerung werde "von vielen als eine unvermeidliche Reaktion des heterodoxen Flügels der deutschen Kirche betrachtet". Zugegeben: "Viele meinen" ist keine belastbare, geschweige denn überprüfbare Quellenangabe. Trotzdem geht aus dieser Formulierung nicht hervor, dass Pentin selbst die Mehrheit der deutschen Bischöfe für heterodox hält; auch wenn das tatsächlich der Fall sein sollte. Wer diffamiert hier also eigentlich wen? 

Aber es kommt noch "besser", denn Abtpräses Jeremias greift zu dem bemerkenswerten Argument, "das, was Ablehnung erzeugt", sei "oft genug auch eine Stärke". Mit anderen Worten: Das, was man uns vorwirft, stimmt, aber wir finden das gut so. Zum Beispiel: 
"Der alltägliche Umgang mit protestantischen Christen [...] hat Wertschätzung entstehen lassen. Die historischen Verzahnungen mit staatlicher Autorität [...] haben ein Verhältnis zum Staat hervorgebracht, das sehr konstruktiv ist, aber eben auch ein Sich-Abfinden mit den Kompromissen realer Gesellschaftspolitik erfordert." 
Na herzlichen Dank! Und schließlich: 
"Auch das viele Geld, das in deutschen Kirchensäckeln sprudelt, dürfte hie und da Ressentiments erzeugen. Die französische Kirche ist bettelarm und sexy, die deutsche – weder noch." 
Mit anderen Worten: Ihr seid doch nur neidisch, dass wir mehr Kohle haben als ihr! P.S.: Deinemudda!! 

Rembrandt, Frühjahrsvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz, 1629 (gemeinfrei
Abschließend wirft der Abtpräses auch noch den "kirchlichen Auslandsdeutschen" vor, sie würden allzu gern "den heimatkritischen Exilanten geben", statt "um Verständnis [zu] werben [...] für die Eigenheiten ihrer katholischen Landsleute." 

Ahem. 

WIR SIND HIER NICHT IM FUßBALLSTADION! ES GEHT HIER NICHT DARUM, DASS MAN GEFÄLLIGST DEM EIGENEN TEAM ZUJUBELT, EGAL WIE SCHEIßE ES SPIELT! 

Wobei: Selbst im Fußball gibt es vielleicht bessere Methoden. dem eigenen Team seine Loyalität zu zeigen, als dadurch, dass man so tut, als wäre alles in bester Ordnung, während Team und Trainer dem Abstieg entgegentrudeln... 



Mittwoch, 23. Mai 2018

#BenOp-News: Graswurzelrevolution besiegt den Liebling des Establishments...

...zumindest für den Moment! 

Mir ist klar, dass Amazon-Rankings flüchtig sind und dass dieser Screenshot somit nur eine Momentaufnahme darstellt. Vielleicht wird die "Benedikt-Option" zu dem Zeitpunkt, wenn Du, Leser, diesen Blogeintrag liest, schon wieder ein paar Plätze nach unten durchgereicht worden sein. Aber ich bin optimistisch, dass sie nicht zum letzten Mal auf Platz 1 der Liste "Neuerscheinungen Christentum & Theologie" erschienen sein wird. 

Für den Moment sei es mir jedenfalls bitte gegönnt, dass ich mächtig abfeiere. Nicht nur über Platz 1 in der besagten Rangliste, sondern auch und besonders darüber, dass die BenOp somit das aktuelle Buch von Erik Flügge von ebendiesem Platz 1 vertrieben hat. 

Ich habe ja schon angemerkt, dass ich das Fernduell zwischen "Benedikt-Option" und "Eine Kirche für alle statt heiligem Rest" als symptomatisch, ja geradezu als symbolträchtig für die Auseinandersetzung zwischen einander diametral entgegengesetzten Ansätzen zur "Zukunft der Kirche" betrachte. Und es liegt auf der Hand, auf welcher Seite die Sympathien des Establishments liegen. Flügges Buch wurde bereits in der ZEIT, im Deutschlandfunk, aber auch auf katholisch.de und beim Münchner Kirchenradio besprochen und vom Domradio mehrfach wohlwollend erwähnt (wobei jeweils auch der Kontext der Erwähnung aufschlussreich ist); demgegenüber läuft die Werbung für die BenOp - was zum Charakter des Buches bzw. des darin vorgestellten Konzepts ja irgendwie auch ganz gut passt - bisher eher auf einem Graswurzel-Level ab. Die ersten im Netz auffindbaren Reaktionen auf die neu erschienene deutsche Ausgabe habe ich ja unlängst bereits dokumentiert; dazu gibt es nun allerdings ein wichtiges Update: Auf dem Blog Nolite Timere ist heute eine ausführliche und differenzierte Besprechung erschienen, und gemessen daran, dass Bloggerin Crescentia die auf meinem Blog erschienenen Vorab-Artikel zur BenOp ausgesprochen kritisch kommentiert hat, ist ihr Gesamturteil bemerkenswert positiv ausgefallen. Hier meine Lieblingspassagen aus ihrer Rezension: 
"Die Grundidee des Buches ist einfach: Wir brauchen starke christliche Parallelgesellschaften (ich bitte zu beachten, dass ich diesen Begriff in keiner Weise negativ meine), um den Glauben in einer glaubensfeindlichen Umgebung zu bewahren, ihn authentisch zu leben und ihn an die nächste Generation weiterzugeben. Damit sind keineswegs zwangsläufig autarke Landkommunen gemeint. Die kommen am Rande vor [...], aber es geht sehr viel mehr um Pfarrgemeinden, christliche Schulen, Studentenverbindungen, berufliche Netzwerke und natürlich die kleinere Gemeinschaft der Familie. Dieser Grundidee kann man kaum widersprechen, und der Autor gibt so einige nützliche Impulse für die praktische Umsetzung." 
"Man beginnt direkt, sich nach dem geordneten Leben in einem mittelalterlichen Benediktinerinnenkloster zu sehnen, in dem man seine Tage mit Stundengebet, Unkrautjäten, Kartoffelschälen und lectio divina verbringen kann. Also, ich jedenfalls. Irgendwie." 
"Es gab immer wieder Stellen, an denen ich mir gedacht habe: Ja, ganz genau so ist es! Ganz genau so. Etwa, wenn Dreher darüber spricht, auf welche Weise der Glaube schon über ein, zwei Generationen verloren gehen kann (wenn ich meine Großeltern, die jeden Sonntag in die Kirche gehen bzw. gingen, und meine Geschwister, die vermutlich noch irgendwie an einen Gott glauben, vergleiche, kann ich diese Entwicklung gut nachvollziehen)." 
Read the whole thing, wie mein Freund Rod in solchen Fällen sagen würde! :)

Weitere Neuigkeiten folgen, sobald es welche gibt...




Der Bischof als Märtyrer, der Seelsorger als Teppich-Experte

Als ich vor ein paar Tagen über die Abschiedspredigt von Matthias Marx als Pfarrer in Eppelborn stolperte, dachte ich zunächst nicht, dass da mehr als eine skurrile kleine Randnotiz rauszuholen wäre. Inzwischen haben mich allerdings einige Zuschriften von Leserseite davon überzeugt, dass es sich lohnt, genauer hinzuschauen. Immerhin geht es hier um das Bistum Trier, wo die (bislang) radikalste pastorale Flächensanierung Deutschlands ihre Schatten voraus wirft: Bis 2020 soll die Zahl der Pfarreien in der ältesten Diözese Deutschlands von jetzt 887 auf 35 (!) reduziert werden. Und irgendwie - wenngleich mir nicht ansatzweise klar ist, wie genau - soll auch der "Erkundungsprozess", in dem der bisherige Eppelborner Pfarrer ja eine Rolle zu spielen haben wird, der Vorbereitung dieser durchgreifenden Strukturreform dienen. 

Informiert man sich aus öffentlich zugänglichen Quellen über die Personalie Matthias Marx, stößt man schnell auf allerlei Skurriles. So zum Beispiel auf den Umstand, dass der Geistliche neben seiner seelsorgerischen Tätigkeit seit 2002 ein Teppichmuseum leitet. Präziser gesagt, das Jean-Lurçat-Museum Eppelborn, dessen Exponate einer von Marx gegründeten Stiftung gehören. Diesem Museum wird sich Matthias Marx wohl auch zukünftig, wenn er das Amt des Gemeindepfarrers von Eppelborn gegen das abenteuerliche Leben eines "Erkunders" im Dienste des Bistums Trier eingetauscht haben wird, weiterhin widmen. Aber die viel interessantere Frage - außer vielleicht für passionierte Tapisserie-Connaisseure - ist ja: Was hat es jetzt eigentlich wirklich mit diesem "Erkunder"-Job auf sich? Darüber äußerte sich Pfarrer Marx selbst in einem am 27. Januar ausgestrahlten Beitrag für die Sendereihe "Lebenszeichen" auf SR2 KulturRadio:  
"Wir sind in einer Erkundungsphase, und in wenigen Wochen wird Bischof Stephan Ackermann zehn Erkunder-Teams aussenden. Jedes Team besteht aus drei Personen, gemischt aus kirchlichen Berufen und der Caritas. Das ist eine vollkommen neue Vorgehensweise in unserem Bistum [...]. [D]ie Erkunder wollen im Auftrag des Bischofs nichts anderes als hingehen und hinhören. Natürlich klingt das etwas naiv oder einfältig – aber genau das ist die Haltung, auf die sich das Bistum Trier festgelegt hat." 
Toll. Es folgen die üblichen pastoraltheologischen Floskeln - "dem Gegenüber, dem anderen Menschen, [...] so begegnen [...], wie er, wie sie ist [...]; [...] auf Augenhöhe [...] und ohne eine andere Absicht, als eben diesen Mitmensch zu verstehen" -, und dann heißt es: 
"Weil ich zu den Erkundern gehören darf, bin ich voller Vorfreude und Spannung, denn es erwartet uns ein Abenteuer des Heiligen Geistes." 
Aber mindestens
"Was wird geschehen, wenn wir Drei, Ingeborg, Michael und ich, aufrichtig interessiert Erkundigungen einziehen über lebendige Erfahrungen, also Zeichen von Leben, und Einschätzungen, auf die wir selber nie gekommen wären? Was wird geschehen, wenn wir mit offener Neugier hören dürfen, was Gott selbst in anderen Menschen an Visionen, Hoffnungen, aber auch an kritischer Sicht hat wachsen lassen?" 
Ja, was wird da wohl geschehen? Und wenn es für Matthias Marx so eine abenteuerliche Aussicht ist, Menschen aufgeschlossen zuzuhören, was hat er denn dann ein Vierteljahrhundert lang als Gemeindepfarrer gemacht? Oder als Teppichmuseumsdirektor? Egal, kommen wir zum Schluss des Radiobeitrags: 
"Der große Mut, also der Freimut, mit dem Bischof Stephan die Synode riskiert hat, setzt sich heute fort in der mutigen Erwartung, dass tatsächlich Gottes Heiliger Geist das gestalten wird, was wir mit unseren eigenen Absichten eher verderben würden." 
Okay, also zumindest den letzten Nebensatz glaube ich sofort. Was an dieser Passage sonst noch auffällt: In einem öffentlichkeitswirksam platzierten Beitrag den eigenen Vorgesetzten über den grünen Klee zu loben, ist der Karriere sicherlich nicht abträglich. Wer nun meint, diese Lobhudelei auf Bischof Ackermann sei ein bisschen dick aufgetragen und ergo irgendwie peinlich, dem sei gesagt: DAS IST NOCH GAR NICHTS. 

Pfarrer Marx hat - so wurde mir versichert - normalerweise nicht die Angewohnheit, seine Predigten in gedruckter Form oder als Video- oder Audioaufzeichnung weiterzuverwerten; vor einigen Monaten wurde aber doch mal eine Predigt von ihm als Beiblatt zum Pfarrbrief veröffentlicht, und das war seine Predigt zum 26. Dezember vergangenen Jahres. Landläufig gilt dieser Tag als zweiter Weihnachtsfeiertag, liturgisch ist es aber das Fest des Hl. Stephanus, des ersten Märtyrers der Kirchengeschichte. Somit ist dieser Tag - wie Pfarrer Marx messerscharf bemerkte - der Namenstag von Bischof Ackermann, weshalb er es (so wörtlich!) "außerordentlich angemessen" fand, seine Predigt zu einer Laudatio auf den "Hirten der Trierer Kirche" zu gestalten. Im Ernst.

Einleitend erinnerte Pfarrer Marx daran, dass Bischof Ackermann 2010 zum "Beauftragte[n] [...] für die gesamte Missbrauchsgeschichte der katholischen Kirche in Deutschland" ernannt worden war: "Die anderen Bischöfe haben ihn, den damals jüngsten" - einen Jüngling von noch nicht ganz 47 Jahren! - "gebeten, das im Namen der Bischofskonferenz auf sich zu nehmen, also den Kopf hinzuhalten vor der Öffentlichkeit". Das sei ja, meinte Pfarrer Marx, ein "Martyrium" gewesen - womit sich der Bischof, so legt es der Kontext nahe, wohl des Beispiels seines Namenspatrons würdig erwiesen habe: "Wir haben einen Hirten, der heute oft genug so da steht wie es eben im Evangelium seines heiligen Patrons Stephanus hieß: wie unter Anklage und wie vor Gericht gestellt."

Aber sicher. 



An anderer Stelle derselben Predigt heißt es über Ackermann: "Der Bischof wie ein Anführer, wie ein Mose seiner Trierer Kirche." Ich denke mir das nicht aus! Und weiter:
"Als Dechant [...] hatte ich mit dem Bischof natürlich auch mehr zu tun als vorher, und ich habe ihn erlebt als einen inspirierenden, tatkräftigen und überaus mutigen Mann. [...] Er hat eine Gabe, mit den Menschen zu reden und er nimmt das an, was sie sagen. Wir haben einen Hirten, der dem Bistum vorangeht. Der in dem ihm eigenen Freimut spricht." 
Man fragt sich: Hat dieser Mensch eigentlich überhaupt kein Schamgefühl? Und vor allem: Matthias Marx ist (oder wird im laufenden Kalenderjahr) 64 Jahre alt -- WAS hat der eigentlich noch VOR bis zu seinem Ruhestand? Die Ernennung zum "Erkunder" hatte er zum Zeitpunkt dieser Predigt bereits in der Tasche; er erwähnt es mit ähnlichen Worten wie einen Monat später in dem Radiobeitrag. Worauf also legt er es mit seiner - gelinde gesagt - Charmeoffensive NOCH an?


Die Frage muss bis auf Weiteres offen bleiben, aber es fällt auf, dass Pfarrer Marx seine Gemeinde zum Ende der Predigt hin wiederholt beschwört, Bischof Ackermann in Hinblick auf die anstehenden Reformen im Bistum zu vertrauen. Sich nicht von "Scheingefechten" und "Fake-News" beeindrucken zu lassen.
"Halten Sie sich an den Bischof. Das ist übrigens auch eine Einstellung, die zu einem gesunden Katholiken gehört, der noch weiß, was das apostolische Amt bedeutet. [...] Bitte halten Sie sich an gute und gesunde lnformationen. Bitte fragen Sie nach: Wie ist das gemeint, was kommt da wirklich auf uns zu? Damit das, was tatsächlich auf uns zukommt, nicht auf einmal so vom Himmel fällt. Und bitte trauen Sie unserem Bischof Stephan." 
Was diesen flammenden Appell so brisant macht, ist just der Umstand, dass im Bistum Trier auch noch rund ein halbes Jahr nach dieser Predigt weitgehende Unklarheit über den konkreten Weg zu den geplanten 35 "Pfarreien der Zukunft" herrscht - und Bischof Ackermann allem Anschein nach wenig Anstalten macht, diesem Zustand abzuhelfen. Man kann nicht einmal erkennen, dass er sich darum bemüht, für seinen Reformkurs zu werben -- weder bei den Laien noch beim Presbyterium. In seinem diesjährigen Fastenhirtenbrief, der sich theoretisch dafür angeboten hätte, wird der Raumgliederungsplan mit keinem Wort erwähnt, und auch in der Chrisammesse wartete die versammelte Priesterschaft vergebens auf eine (er)klärende Stellungnahme ihres Oberhirten.

Übrigens zeigt ein Blick in den Kalender, dass 2020 gar nicht mehr so weit weg ist, wie der Klang der Jahreszahl es vermuten lassen könnte. Man fragt sich, ob die Pastoralstrategen des Bistums Trier einen revolutionären Geheimplan zur durchgreifenden Neugestaltung der Pfarreistrukturen in der Schublade haben und mit Sperenzien wie dem "Erkundungsprozess" bloß davon ablenken wollen -- oder ob sie in Wirklichkeit völlig planlos sind und mit Sperenzien wie dem "Erkundungsprozess" bloß davon ablenken wollen. Und zumindest ich bin mir keineswegs sicher, welches dieser Szenarien das beunruhigendere ist.



Dienstag, 22. Mai 2018

Die TPG sind nicht MECE. Farce in einem Akt.

Im Allgemeinen neige ich ja zu der Auffassung, das beste, was man über kirchliche Laiengremien sagen könne, sei, dass sie zu ineffizient sind, um ernsthaften Schaden anrichten zu können. Ich muss allerdings gestehen, dass diese Einschätzung sich fast zur Gänze auf meine persönlichen Einblicke in die Arbeit von Pfarrgemeinderäten und Lokalausschüssen stützt (in ganz unterschiedlichen Pfarreien übrigens -- nicht dass sich hier jemand speziell angesprochen fühlt); und da lautet mein Eindruck vom typischen Verlauf einer Sitzung: Die Hälfte der Zeit geht mit "Berichten aus den Ausschüssen" drauf, die andere Hälfte damit, Tagesordnungspunkte an die Ausschüsse zurückzudelegieren; beschlossen wird kaum je mal was, und wenn doch, ist noch lange nicht gesagt, dass das auch umgesetzt wird. 

Aber das ist ja nur die unterste Ebene der Gremienpyramide. Und die hat zumeist das Problem, eine Mitgliederbasis repräsentieren zu sollen, die in der Breite überhaupt kein Interesse daran hat, sich von ihr repräsentieren zu lassen. Das zeigt sich sowohl in der notorisch mageren Wahlbeteiligung bei Pfarrgemeinderatswahlen als auch in dem Umstand, dass viele Pfarreien Mühe haben, überhaupt genügend Kandidaten für die Wahl aufzustellen. Die Folge ist, dass neben denen, die sich wirklich für die inhaltliche Arbeit in den Gremien interessieren und womöglich sogar eine Vision haben, was sie dort "bewegen" wollen, und denen, die sich einfach gern wichtig machen (zwei Gruppen, zwischen denen es zweifellos Schnittmengen gibt), in den Räten auch die sitzen, die sich zur Kandidatur haben überreden lassen, weil irgend jemand es ja machen MUSS

Was die höheren Ebenen der Gremienpyramide betrifft, kann man wohl davon ausgehen, dass dorthin tendenziell die engagierteren und (zumindest nach Auffassung der anderen Mitglieder) kompetenteren Leute delegiert werden. Das mag sich positiv auf die Effizienz auswirken, führt aber gleichzeitig auch dazu, dass die Zusammensetzung der Gremien auf höherer Ebene immer weniger repräsentativ für die Basis in den Pfarreien ist. Ich bin gar nicht unbedingt der Meinung, dass das immer und unter allen Umständen schlecht ist, aber für das Selbstverständnis der Gremien, eine quasi-demokratische Laienvertretung darzustellen, ist das ein Problem.

(Ich gehe übrigens durchaus davon aus, dass das in "weltlichen" Verbänden und politischen Parteien prinzipiell genauso ist. Aber gab es nicht mal Einen, der sagte "Bei euch aber soll es nicht so sein"?) 

Dieses Problem lässt sich übrigens auch nicht dadurch lösen, dass man - wie es derzeit sehr en vogue zu sein scheint - auf Bistumsebene "Dialogprozesse" an den etablierten Gremienstrukturen vorbei initiiert. Vielmehr haben diese Prozesse die Tendenz, dieselben Probleme zu reproduzieren; und das ist auch kein Wunder, denn die Leute sind nun mal, wie sie sind. Ich wage zu behaupten, die meisten "normalen Gläubigen" würden, wenn man sie nach ihrer Vision für die Zukunft der Kirche befragte, gar nicht wissen, was sie sagen sollen; und ich fühle mich versucht, hinzuzufügen: Und das ist auch gut so.

Aber diese Leute fragt ja in Wirklichkeit auch keiner. Man tut nur so. Kürzlich war hier vom "Erkundungsprozess" im Bistum Trier die Rede, ein Thema, auf das in absehbarer Zeit noch ausführlicher zurückzukommen sein wird; im Bistum Aachen gibt es derweil den "Heute bei dir"-Prozess. "'Heute bei dir' will neue Wege entwickeln, um Menschen besser anzusprechen, will neugierig machen auf die Botschaft des Evangeliums und will jeden dazu einladen, die Kirche im Bistum Aachen aktiv mitzugestalten, um gemeinsam die Zukunft zu prägen", heißt es auf der dazugehörigen Website. "Zur Mitarbeit im synodalen Gesprächs- und Veränderungsprozess sind grundsätzlich alle Menschen im Bistum Aachen eingeladen" - aber es werden nicht alle mitarbeiten, zum Teil aus den bereits genannten Gründen, zum Teil aber auch, weil diejenigen, die - um eine Formulierung von Max Goldt aufzugreifen - die Eleganz besitzen, mir ein wenig zu ähneln, auf den von Soziologenjargon und Neuer Innerlichkeit verpesteten Pastoralneusprech, mit dem das Projekt sich präsentiert, mit heftig juckendem Ausschlag reagieren dürften. Aber Moment mal: Ich sehe gerade, dass "alle Menschen" hier gar nicht im Sinne von "ALLE Menschen" gemeint ist; es folgt noch ein Relativsatz, der dieses "alle" genauer eingrenzt. Gemeint sind "alle [...], die ein Interesse daran haben, die Kirche im Bistum Aachen zukunftsfähig zu machen". -- Entscheidend ist hier das Wort "Interesse": Angesprochen sind Interessengruppen, "interessierte Kreise", wie man so schön sagt. Interessiert woran? Daran, "die Kirche im Bistum Aachen zukunftsfähig zu machen". In aller wünschenswerten Deutlichkeit wird hier klargestellt, dass es ausdrücklich und ausschließlich um die organisatorische Funktionalität "von Kirche" geht. Nicht etwa darum, in Wort und Sakrament das Evangelium Jesu Christi zu den Menschen zu bringen, oder wie man den Auftrag und Daseinszweck der Kirche sonst noch beschreiben könnte.

Übrigens beschleicht mich beim Betrachten der "Heute bei dir"-Website der Eindruck, gemessen an der beanspruchten Offenheit für (fast) alles und jeden kranke das Projekt, wie so Vieles in Deutschland, an einem Übermaß an bürokratischer Strukturierungswut. Da gibt es "Themenforen", "Teilprozessgruppen", eine "Lenkungsgruppe" und zu guter Letzt ein "Koordinationsbüro" -- in dem unter anderem eine Dame sitzt, die ich weitläufig von Twitter her kenne. Und diese - nennen wir sie kurz S. - twitterte unlängst gut gelaunt:  
Beim #heutebeidir-Prozess im Bistum Aachen sind jetzt die nächsten Schritte und Beteiligungsmöglichkeiten veröffentlicht worden. Wer macht noch mit? 
Zu Wort meldete sich M., eine junge Frau, die mal als studentische Honorarkraft für das Bistum Aachen gearbeitet hat und einen Master-Abschluss in "International Relations" in Oxford (!) gemacht hat. 
Ehrlich gesagt bin ich bei manchen Überschriften nicht sicher, was gemeint ist, zB "Dialog" oder "Besondere Seelsorge"[*]. Und es erscheint mir teils überlappend. Davon abgesehen wäre "Begleitung von Menschen"[**] und alle Strukturfragen in "Die Kirche gestalten" meins.  
In einem geradezu klassischen Fall von "Mansplaining" grätscht nun C., seines Zeichens Pastoralreferent und Familienvater, dazwischen:  
Nur dass "Die Kirche gestalten" keine TPGs[***] sind, weil da erst am Ende drauf geschaut wird. Und das finde ich btw eine sehr kluge Entscheidung...  
Und nun kommt Feuer in die Unterhaltung.
M.: Wenn ich mit meiner beruflichen Brille drauf gucke, sage ich: die TPG sind nicht MECE[****]. Stört dich das nicht? Das wird doch ewiges Kompetenzgerangel und Ineffizienz geben. 
C.: Ich starte bei größeren Projektplanungen mit Teams auch IMMER mit der Vision. Der Strukturkram nimmt die Kreativität und wird zu schnell Klein-Klein. 
(Er merkt echt nicht, wie überheblich und bevormundend er rüberkommt. Ein bisschen critical maleness wäre hier durchaus angebracht.)  
M.: Ja sicher. Meine Kritik bezog sich keinesfalls auf die Reihenfolge der Prozessschritte. Sondern auf die nicht trennscharf formulierten TPGs. Und als Frau würde ich sagen: meine Vision von Kirche lässt sich nicht getrennt von Strukturen denken :( 
-- Was heißt denn "ich als Frau"? Da regt mich ja schon die Frage auf. 


C.: Es sagt ja auch keiner, dass man Strukturen nicht mitdenken soll. Aber wenn am Anfang die Strukturen zementiert werden sollen ohne das klar ist welchen Sinn sie haben, wird es nicht produktiv.  
M.: Okay okay - ich glaube wir reden aneinander vorbei. Findest du die TPGs trennscharf? That was my main point; ich weiß nicht, warum ich mich jetzt für mein Interesse an Strukturthemen rechtfertigen muss? 
Immerhin: Der Opferrollen-Reflex funktioniert. Muss man sich merken: Mit "Ich sehe überhaupt nicht ein, wieso ich mich jetzt dafür rechtfertigen muss, dass ich..." kann man stets und überall jeden kritischen Einwand abschmettern, vorausgesetzt, man hat nach den Regeln des Intersektionalismus einen höheren Opferstatus als der Kontrahent. 

Das erinnert mich jetzt übrigens daran, wie vor einigen Jahren die Fachschaftsinitiative Gender Studies der Berliner Humboldt-Universität in eine schwere Krise geriet, weil den wackeren Kämpfer*innen für Gendergerechtigkeit plötzlich auffiel, dass sie keine PoC[*****] in ihren Reihen haben. Woraus sie den Schluss zogen, sie müssten erst mal ihren eigenen strukturellen Rassismus kritisch reflektieren -- ein Prozess, der sie in der Folgezeit derart in Anspruch nahm, dass die sonstigen Tätigkeiten dieses Gremiums weitgehend lahmgelegt wurden. 

So gesehen besteht ja vielleicht die Hoffnung, dass auch der #heutebeidir-Prozess im Bistum Aachen sich so beharrlich an Verfahrensfragen und politisch korrekten Sprachregelungen festbeißt, dass er keinen größeren Schaden anrichten kann... 



[* Spontan habe ich "besorgte Seelsorge" gelesen. Auch ein schöner Begriff.
** Wen oder was, außer Menschen, könnte man denn noch so begleiten?
*** TPG = Teilprozessgruppe.
**** MECE = "mutually exclusive, collectively exhaustive". Laut Tante Wiki ein "technischer Begriff für die Eigenschaft von Unterelementen bezogen auf ein Oberelement, dieses vollständig und überschneidungsfrei abzubilden bzw. auszumachen". Noch Fragen?
***** PoC = "people of color", d.h. alle, die nicht weiß sind. Zuweilen werden auch Hispanics dazu gerechnet, obwohl die zu einem großen Teil sehr wohl weiß sind.]



Montag, 21. Mai 2018

Wenn man sich vom Acker macht, in dem ein Schatz vergraben liegt

"Jetzt predigen die schon zum neuen Buch von @davidmholte und mir. :)", frohlockte Erik Flügge jüngst auf Twitter und verlinkte einen Artikel der Saarbrücker Zeitung über die Verabschiedung eines langjährigen Gemeindepfarrers im saarländischen Eppelborn. Tatsächlich erfährt man aus dem Artikel, dass der scheidende Seelsorger in seiner Predigt explizit auf die Thesen des Buches „Eine Kirche für viele statt heiligem Rest“ eingegangen sei.

Nun, zugegeben, die Versuchung zur Eitelkeit ist wohl jedem vertraut, der im weitesten Sinne schriftstellerisch tätig ist; und ich würde wahrscheinlich auch abfeiern, wenn ein Geistlicher in einer Predigt etwas zitieren würde, was ich geschrieben habe. Aber wenn man sich die auf Flügges Buch bezogene Passage der Predigt mal etwas genauer ansieht, entsteht doch eher der Eindruck unfreiwilliger Komik. 

"Wenn von zehn Söhnen neun ihr Zuhause verlassen und nur einer bleibt, dann muss man neu überlegen, wer nun der verlorene Sohn ist", äußerte Pfarrer Matthias Marx, der nach fast 25 Jahren seinen Abschied von der Pfarrei St. Sebastian nimmt, dem Zeitungsbericht zufolge. Ja wie jetzt – was genau gibt es da "neu zu überlegen"? Wenn jetzt etwa der eine, der noch da ist, der eigentliche Verlorene sein soll, was folgt denn dann daraus? Dass man ihn dazu bringen muss, auch noch wegzugehen? Nun, wahrscheinlich hat der brave Geistliche etwas ganz Anderes sagen wollen und sich lediglich in seinen Metaphern verheddert – was eine Twitter-Nutzerin zu der souveränen Parodie veranlasste:
"Wenn von hundert Schafen neunundneunzig den Weinberg des Königs verlassen und nur eine arme Witwe bleibt, dann müssen wir neu überlegen, wer hier eigentlich das Senfkorn ist." 
Hermann Neuhaus: Der verlorene Sohn (ca. 1891). Gemeinfrei

In der Tat. – Davon abgesehen könnte man aber auch auf die Idee kommen, die Abschiedspredigt von Pfarrer Marx, der bisher auch Dechant des Dekanats Illingen gewesen ist, als anekdotischen Beleg dafür anzusehen, was es für Leute sind, die die pastoraltheologischen Bilderstürmereien von Leuten wie Flügge bejubeln und auf der kirchenpolitischen Agenda nach vorn pushen: altgediente Priester (und Laienfunktionäre), die 30 oder mehr Jahre damit verbracht haben, den Karren in den Dreck zu fahren, nun kurz vor dem Rentenalter oder schon darüber hinaus sind und applaudierend zuschauen, wie eine jüngere Generation so richtig Gas gibt, wenn auch mit durchdrehenden Rädern. -- Oder doch nicht? Matthias Marx ist Jahrgang 1954, und verabschiedet wurde er nicht etwa in den Ruhestand, sondern wird zukünftig als "Erkunder" für das Bistum Trier tätig sein. Kein Witz. Wer sich nun aber ausmalt, der bärtige Geistliche werde demnächst in Lederstrumpf-Manier durch die Wälder und Prärien des Saarlands und der Pfalz pirschen, um Wege zur Evangelisierung der Eingeborenen auszukundschaften, der wird auf der Bistumswebsite eines Langweiligeren belehrt:
"'Erkunden heißt zunächst, den Sozialraum zu analysieren', erläutert [Gemeindereferentin] Anne Kiefer. 'Das heißt, die Lebenswelten der Menschen im direkten Kontakt mit ihnen zu entdecken.' Man möchte also zunächst wissen, wo die Menschen leben und wo sich ihr Leben abspielt: Wo wohnen sie, wo arbeiten sie, wo gehen sie einkaufen, wo verbringen sie ihre Freizeit?" 
Die Erkundung von Sozialräumen hatte dieser Gemeindereferent sich anders vorgestellt.
(Gemeinfrei.)
Marktforschung an der Mitgliederbasis also, kurz gesagt; dass der scheidende Pfarrer von Eppelborn sich, wie er in seiner Abschiedspredigt durchblicken lässt, offenbar mit Flügges Buch in der Hand auf diese seine neue Aufgabe einstimmt, erscheint nicht direkt abwegig, wohl aber beunruhigend. Und es wirft ein bezeichnendes Licht darauf, dass Flügge keineswegs der Rebell ist, als der er sich gern inszeniert, sondern ganz im Gegenteil der Liebling eines Kirchen-Establishments, das den Verlust institutioneller Stabilität mehr fürchtet als Tod und Teufel. Nachdem man in der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) bereits seit der Jahrtausendwende beobachten kann, wie Pastoralstrategen zunehmend auf "Kundenorientierung" und damit auf eine Ökonomisierung kirchlicher Strukturen setzen - eindrücklich dargestellt in dem von Jan Hermelink und Gerhard Wegner herausgegebenen Sammelband "Paradoxien kirchlicher Organisation", Würzburg 2009 -, kommt dieser Trend mit typischer Verzögerung allmählich auch in der katholischen Kirche an, und Flügge ist eine der Galionsfiguren dieses Paradigmenwechsels.

Hatten die Baby-Boomer die Kirche seit den 70ern und bis in die 90er hinein in erster Linie als eine Art politische Vorfeldorganisation betrachtet bzw. zu einer solchen machen wollen, tendieren neuere pastoraltheologische Entwürfe verstärkt dazu, sie als Dienstleister auf dem Markt für spirituelle Wellness und Lebenshilfe zu betrachten. Das bedingt teilweise unterschiedliche konzeptionelle Ansätze, aber gemeinsam ist ihnen eine fundamentale Unfähigkeit, die Kirche als Braut Christi zu sehen – und zu begreifen, dass sie Seinen Willen zu vollziehen hat und nicht ihren. Und dass die Kirche über Zweck und Ziel ihres Handelns im Letzten nicht frei verfügen kann bzw. darf – nicht auf bürokratischem und nicht auf politischem Wege, und auch nicht auf dem Wege der Marktorientierung. 


Junge Männer in Soutane

Alexander Santora ist katholischer Priester und Dechant im US-Bundesstaat New Jersey. In einem Leitartikel für das Online-Magazin northjersey.com macht er sich Gedanken über Priesternachwuchs und Priesterausbildung – und kommt dabei unter anderem zu der Einschätzung, die "Ekklesiologie" jüngerer Geistlicher, ihre "Vision von Kirche", sei "beunruhigend für die Laien und die reifere Geistlichkeit". Warum? Weil diese jungen Priester, so meint Fr. Santora, die "Wiederbelebung einer klerikalen Kultur" anstrebten, mit Scheußlichkeiten wie Eucharistischer Anbetung, lateinischen Messen und Novenen. (Man kann sich lebhaft ausmalen, wie der "reife Geistliche" bei diesen Worten angewidert das Gesicht verzieht.) 

Solchen Tendenzen gilt es Einhalt zu gebieten, meint er, und dies müsse schon in den Seminaren geschehen – indem man "sicherstellt, dass die Lehren des II. Vatikanischen Konzils die Grundlage der Priesterausbildung darstellen." (Fun Fact: Das II. Vaticanum hatte, entgegen hartnäckiger anderslautender Gerüchte, überhaupt nichts gegen lateinische Messen. Und gegen Eucharistische Anbetung und Novenen auch nicht. Aber was weiß ich schon.) "Father Santoras Leitartikel dringt darauf, noch weit stärker als bisher auf das 'Disco Stu'-Priesterausbildungsmodell des II. Vaticanums zu setzen", spottet mein Freund Rod auf seinem Blog, "weil das ja so gut funktioniert hat." 


Aber so groß die Versuchung auch sein mag, sich über den hochwürdigen Herrn Dechanten lustig zu machen: Im Grunde ist das eine ernste Angelegenheit. Wenn ein Geistlicher in doch einigermaßen einflussreicher Stellung eine solche Haltung gegenüber dem Priesternachwuchs einnimmt und sich nicht scheut, das öffentlich kundzutun, dann steht er damit offenbar nicht allein da; und dann muss man sich auch nicht wundern, wenn - wie ich es in den letzten Jahren mehrfach aus verschiedenen Orten erfahren habe - junge, liturgisch und dogmatisch eher "konservativ" eingestellte Priester, die in Gemeinden, die über Jahrzehnte von Priestern des Typs "Disco Stu" (oder des Typs "Kaktus-Schamane") geprägt worden sind, Probleme mit den "engagierten Laien" bekommen, in so einer Situation keinen Rückhalt seitens ihrer Vorgesetzten, bis hinauf zum Bischof, erfahren. 

Sinngemäß ganz ähnlich wie Fr. Santora äußerte sich übrigens - einem Bericht der Tagespost zufolge - bei einem Podium des jüngst vergangenen Katholikentags die Religionspädagogin Simone Birkel, ihres Zeichens Lehrkraft für Jugend- und Schulpastoral an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt: "Bei uns heißt es: Hoffentlich kein junger Priester, weil die mit einem klerikalen Anspruch auftreten, der für normale Jugendliche nicht attraktiv ist." Nun könnte man sich sicherlich darüber streiten, was "normal" eigentlich bedeutet, aber wenn man das landläufige Verständnis zugrunde legt, "normal" sei das, was für die meisten gilt bzw. auf die meisten zutrifft, dann würde ich zunächst einmal ganz dreist erwidern: "Normale Jugendliche gehen überhaupt nicht in die Kirche!" Eine unbequeme Wahrheit, aber doch eine, der man ins Auge sehen muss. Das gilt übrigens, wie ich mir habe sagen lassen, sogar für Schüler katholischer Schulen. Bezieht sich Frau Birkel hingegen darauf, was unter denjenigen Jugendlichen als "normal" gilt, die in kirchlichen Strukturen aktiv sind, dann liegt es nahe, zu fragen: Wer prägt denn da das Bild von "Normalität", wenn nicht die kirchlichen  Strukturen selbst?
...
...
...

Na, lassen wir diesen Gedanken mal einfach so im Raum stehen. Es kommen ohnehin noch andere Fragen hinzu. Woher kommen sie denn, die jungen Priester, die angeblich so schlecht mit den "normalen Jugendlichen" harmonieren? Müssten die, jung wie sie sind, nicht vor verhältnismäßig kurzer Zeit selbst noch jugendlich gewesen sein - und womöglich sogar als Jugendliche ihre Berufungsentscheidung getroffen haben? Und wieso wird eigentlich von denjenigen Jugendlichen, die Frau Birkel für normal hält, offenbar niemand Priester? Irgendwas ist doch faul an der ganzen Geschichte.

Aber – mal als offene Frage an die Leser, die da ja sicherlich ihre eigenen Erfahrungswerte haben – stimmt es denn überhaupt, dass junge Priester und Priesteramtskandidaten in der Gesamttendenz konservativer sind als die aus der allmählich abtretenden Baby-Boomer-Generation? Ich würde sagen, "konservativ" ist vielleicht ein irreführender Begriff. Einige mehr oder weniger kirchenferne, zum Teil ungetaufte Gäste meiner Hochzeit beispielsweise waren sehr angetan von dem Priester, der die Brautmesse zelebrierte, und wären als Außenstehende wohl nicht auf die Idee gekommen, dass das ein konservativer katholischer Geistlicher sei: Unter dieser Bezeichnung hätten sie sich etwas ganz Anderes vorgestellt. Trotzdem setze ich hier jetzt einfach mal als bekannt voraus, was im Sinne "kirchenpolitischer" Positionierungen mit diesem Begriff gemeint ist. Wenn es also stimmt, dass der Priesternachwuchs eher in die konservative Richtung tendiert, dann müsste man davon ausgehen, dass dieser Trend die Kirche längerfristig verändern wird. 

Vor diesem Hintergrund nun wiederum erscheint es doch einigermaßen auffällig, dass sämtliche Rezepte, die landläufig als Lösungen des vielbeschworenen Problems "Priestermangel" gehandelt werden – Gemeindeleitung durch Laien, Ordination von "viri probati", Aufhebung der Zölibatspflicht, Frauenordination – wie dafür gemacht zu sein scheinen, einer "drohenden" Dominanz konservativer Millennial-Priester entgegenzuwirken. Äußerungen wie die von Santora und Birkel tragen dazu bei, den Verdacht zu erhärten: Wo "Priestermangel" als Argument für die Notwendigkeit "progressiver" Reformen in der Kirche eingesetzt wird, da ist in Wirklichkeit womöglich nicht eine objektiv zu niedrige Zahl von Priesteramtsanwärtern gemeint, sondern vielmehr ein "Mangel", der darin besteht, dass der Priesternachwuchs nicht dem Kirchenbild des Gremien- und Verbandskatholizismus entspricht -- und dem der "reiferen Geistlichkeit"...



Sonntag, 20. Mai 2018

Ramadan-Neid

Sie ist wieder da, diese magische Zeit im Jahr, da selbst normalerweise eher weltlich-allzuweltlich gesonnene Medienformate plötzlich von einem intensiven Drang heimgesucht werden, ihrem Publikum Kenntnis und Verständnis religiöser Gebräuche beizubiegen. Pfingsten? Nee, Quatsch: Ramadan!

(Bildquelle: Pixabay

Tatsächlich scheint das mediale Interesse an der islamischen Fastenzeit hierzulande von Jahr zu Jahr größer zu werden, und das bei einem muslimischen Bevölkerungsanteil von (laut unterschiedlichen Schätzungen) gerade mal 5-7%. Manch einen ärgert das – vor allem (aber wohl nicht nur) solche, die dem Islam und seinen Anhängern ohnehin wenig Wohlwollen entgegenbringen. Wohlmeinende Ratschläge für den möglichst rücksichtsvollen Umgang mit fastenden Nachbarn oder Arbeitskollegen werden als Zumutung empfunden; praktizierende Christen motzen, sie sähen gar nicht ein, auf Muslime Rücksicht zu nehmen, schließlich nehme auf sie ja auch nie jemand Rücksicht. Ähnlich benachteiligt bzw. zurückgesetzt fühlt sich so mancher Christ, wenn Politiker aller Parteien zwar die vorösterliche Fastenzeit ignorieren, zum Ramadan aber Grußworte verbreiten lassen.

Besonders soweit es Vertreter der säkularen Linken betrifft, kann man es natürlich je nach Laune als verlogen anprangern oder als unfreiwillig komisch belächeln, dass diese aus dem Bestreben heraus, keinesfalls fremdenfeindlich oder kulturimperialistisch wirken zu wollen, ihre Toleranz oder sogar Wertschätzung gegenüber allem „Fremden“ auch auf Dinge ausdehnen, die eigentlich ihrer Weltanschauung widersprechen. Wie zum Beispiel eben strikte Observanz religiöser Gebote. Die betreffenden Personen wären vermutlich sehr verblüfft, wenn man sie darauf hinwiese, wie viel diese Haltung („Wir selber sind für sowas ja zu aufgeklärt, aber die dürfen das“) mit postkolonialistischer Überheblichkeit zu tun hat; aber das wäre ein Thema für sich und würde an dieser Stelle zu weit führen.

Sicherlich kann man den Umstand, dass islamische Glaubenspraktiken ein unverhältnismäßig größeres mediales Echo auf sich ziehen als vergleichbare christliche, zum Teil auch damit erklären, dass vom Fremden, "Exotischen" stets eine tendenziell größere Faszination ausgeht als vom vermeintlich Vertrauten.  Aber ich sage hier ganz bewusst "vermeintlich". Wie vertraut ist das Christentum hierzulande denn tatsächlich noch? Zwar gehört (noch) eine satte Mehrheit der Bevölkerung nominell einer christlichen Glaubensgemeinschaft an; aber der Bevölkerungsanteil derer, die den christlichen Glauben konsequent praktizieren, liegt ziemlich sicher im einstelligen Prozentbereich. Und wie es außerhalb dieser Minderheit um die Kenntnis christlicher Glaubenslehre und -praxis bestellt ist, davon kann man sich, wenn man es darauf anlegt, tagtäglich selbst ein Bild machen. Da gäbe es für die breite Öffentlichkeit also theoretisch viel Spannendes und Überraschendes zu entdecken.

Theoretisch, wie gesagt.

Und an wem liegt es nun, dass davon in der öffentlichen Wahrnehmung so wenig ankommt? Sicher nicht an den Muslimen. Sondern eher wohl an den Christen selbst. Auf Twitter merkte ein katholischer Rundfunkjournalist an:
"Ich würde sagen, das hängt auch damit zusammen, wie ernst eine Religion ihre eigenen Praktiken nimmt. Und wenn bei uns die Rosenmontagszüge in die Fastenzeit verlegt werden, weil die wichtiger sind, dann brauchen wir auch keine Grußworte."
Und es geht ja nicht nur um Rosenmontagsumzüge. Man muss sich nur mal das „Aktionsarchiv“ der evangelischen Fastenaktion „7 Wochen ohne“ ansehen: In den letzten Jahren, in umgekehrter chronologischer Reihenfolge, lauteten die Aktionsmotti „Augenblick mal! Sieben Wochen ohne sofort!“, „Großes Herz! Sieben Wochen ohne Enge“, „Du bist schön! Sieben Wochen ohne Runtermachen“. Also, sorry, Leute. Wer es hinkriegt, die traditionelle asketische Praxis des Fastens derart in ein hochglanzjournaltaugliches Wellnessprogramm umzudefinieren, der darf sich wirklich nicht beschweren, wenn er kein sonderliches Interesse, geschweige denn Respekt, von Außenstehenden erntet.

Kurz und pauschal gesagt: Wenn das Christentum von Außenstehenden als "nichts Besonderes", ergo als uninteressant und unattraktiv wahrgenommen wird, dann sicher nicht zuletzt deshalb, weil viele Christen - darunter auch offizielle Repräsentanten der Kirchen - es selbst so präsentieren, und das mit voller Absicht.  Man will sich nicht groß von seiner Umgebung abheben, um nicht anzuecken. Hier sieht man, wie zutiefst fehlerhaft der "Relevanz"-Begriff derer ist, die insistieren, die Kirche müsse "zeitgemäß" sein und "im 21. Jahrhundert ankommen", d.h. sich der säkularen Gesellschaft und Kultur anpassen. Tatsächlich macht genau das die Kirche irrelevant.

Letztendlich läuft das Gemeckere über den Ramadan aber natürlich wieder einmal auf die unsägliche "Gehört der Islam zu Deutschland?"-Debatte hinaus; eine Debatte, die mich nicht zuletzt deshalb so ankotzt, weil ich, unabhängig davon, welche Antwort gegeben wird, schon die Frage nicht verstehe. Was soll das überhaupt heißen, zu Deutschland gehören? Gehöre ich zu Deutschland? Ich bin mir da manchmal nicht so sicher. 

Denjenigen hingegen, die sich sehr sicher sind, dass der Islam nicht zu Deutschland gehört, genügt es nicht, sich einfach nur genervt darüber zu äußern, dass dem Ramadan so viel Aufmerksamkeit zuteil wird; für diese Klientel muss man schon schärfere Geschütze auffahren. So schrieb die CDU-Bundestagsabgeordnete Sylvia Pantel auf ihrer Facebook-Seite
"Es ist an der Zeit, dass eindeutige Vorgaben kommen, die unmissverständlich klarstellen, dass der Ramadan in Klassenzimmern nichts zu suchen hat. Ausgewiesene Islam-Experten weisen immer wieder darauf hin, dass Kinder vom Fasten ausgenommen sind. Also muss es eine klare Anweisung der Landesregierung geben, dass der Ramadan in der Schule nichts zu suchen hat!" 
Nach allem, was ich von ihr weiß, gehört Frau Pantel dem explizit christlich-konservativen Flügel ihrer Partei an, somit ist wohl davon auszugehen, dass sie auch eine entsprechend positionierte Anhängerschaft hat. Und nun würde ich ja gern mal wissen, was diese Christen sagen würden, wenn ihnen eine staatliche Behörde unter Berufung auf irgendwelche „Experten“ erklären wollte, was ihre Religion lehrt und was nicht. Das ist übrigens gar keine so abwegige Vorstellung, wie man vielleicht denken könnte

Aber ich bin ja nun wahrhaftig kein Experte für den Islam und weiß wenig über die Details der im Ramadan geltenden Fastenvorschriften und darüber, wie das in der Praxis gehandhabt wird. Also fragte ich einfach mal einen praktizierenden Muslim, den ich über Twitter kenne, wie er die Sache sieht. Der junge Mann wohnt in Mainz, und unbeschadet der Tatsache, dass seine Familie aus der Türkei stammt, ist er, gemessen an seinem Enthusiasmus für den European Song Contest und den ZDF-Fernsehgarten, deutscher als ich. Hier seine Stellungnahme in voller Länge: 
"Ich kann nicht erkennen, dass in den letzten Jahren ein 'Trend' zum Fasten zugenommen hätte. Allenfalls ist der Wahrnehmung der Fastenden gestiegen. Ich habe als junger Schüler nie an die große Glocke gehängt, dass ich faste, weil ich keine Lust auf immer gleiche Erklärungen hatte.
Ich kenne auch wenig Schüler, die nicht vom Recht des 'Nachfastens' Gebrauch machen, wenn beispielsweise wichtige Examina anstehen. Also da gibt's immer Mittel und Wege. Beim Sportunterricht wird's dann kritisch und da war ich immer auf Verständnis angewiesen. Hat aber geklappt.
Dass das Fasten für Kinder erst ab der Geschlechtsreife gilt, ist in der islamischen Welt ein breiter Konsens. Wenn sich einzelne Kinder Radikaler trotzdem daran halten wollen, kann ich sie nicht aufhalten. Ermessensentscheidung jedes Einzelnen.
Man darf Kinder nicht unterschätzen. Es galt schon immer: Wenn der Durst zu groß wurde, dann unterbrach man das Fasten und erzählte es halt nicht den Eltern, um nicht 'schwach' zu wirken. So war das schon immer und so wird es auch immer sein. Und das ist gut so." 
So, liebe Freunde, sieht common sense aus. Ein ungewohnter Anblick heutzutage, gebe ich zu. 

Nun kann man natürlich fragen: Aber was ist mit Kindern, die von ihren fanatischen Eltern zum Fasten gezwungen werden und es nicht wagen, dagegen zu verstoßen? Nun, ich kann nicht ausschließen, dass es solche Fälle gibt. Und wenn es die gibt, dann können wir uns vermutlich darauf einigen, dass das Recht der Eltern, ihre Kinder gemäß ihren eigenen Überzeugungen zu erziehen, da seine Grenze findet, wo sie damit die Gesundheit ihrer Kinder gefährden. Ich gehe allerdings davon aus, dass das eher selten vorkommt -- zu selten, als dass es gerechtfertigt wäre, dass die bloß hypothetische Möglichkeit solcher Vorkommnisse die ganze Debatte dominiert. Hinzu kommt: Ähnlich wie bei Forderungen nach einem Kopftuchverbot für Mädchen unter 14 Jahren glaube ich den meisten, die so etwas propagieren, schlichtweg nicht, dass es ihnen wirklich um das Wohl der Kinder geht. Ich glaube vielmehr, dass es ihnen einfach darum geht, Muslime zu schikanieren. Weil sie die einfach nicht haben wollen. Und wenn man sie schon nicht loswird, will man wenigstens dafür sorgen, dass sie sich in diesem Land möglichst unwohl und unwillkommen fühlen.

Ich habe es erst neulich schon mal geschrieben, und bei Bedarf schreibe ich es gern auch noch öfter: Gerade konservative Christen sind äußerst schlecht beraten, sich an solchen Kampagnen gegen Muslime zu beteiligen. Wenn es hart auf hart kommt – und das wird es –, werden sie es schwer haben, die Religionsfreiheit und die Elternrechte, die sie den Muslimen abgesprochen haben, für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Wie eine Bloggerkollegin es in einer geschlossenen Facebook-Diskussionsgruppe ausdrückte:
"Das Problem ist, dass die immer noch denken wie in einer Mehrheitsposition eines christlichen Staates. Die kapieren nicht, dass dieser Staat nicht mehr von einer objektiven Wahrheit ausgeht und deshalb alle Religionen eben gleich behandelt, nicht gemäß ihres Wahrheitsgehalts. Am Ende wird halt Kindern der Besuch von Gottesdiensten verboten werden." 

Mit Rock und Zopf gegen den Rest der Welt?

In meinem gestern veröffentlichten Artikel "Das Kopftuch der Anderen" hatte ich eine "gewisse Sympathie für die 'gegenkulturelle' Lebensweise der russlanddeutschen Brüdergemeinden" ausgedrückt und hinzugefügt, dass ich mir - "vorbehaltlich genauerer Informationen bzw., besser noch, eigener Anschauung -" vorstellen könnte, dass diese Lebensweise "manches Vorbildliche an sich hat". 

Und siehe da, noch am selben Tag meldete sich eine Leserin bei mir, die Angehörige einer russlanddeutschen Brüdergemeinde aus eigener Anschauung kennt und mir einige Beobachtungen und Reflexionen dazu zur freien Verwendung überlassen hat. Mitgeschickt hat sie mir zwei Presseberichte über eine solche Gemeinde, aber die werde ich wohl zu einem späteren Zeitpunkt würdigen. Ich habe schließlich auch noch andere Themen in der Pipeline. 

"Hutterite Sunset". Foto von Rainer Mueller, Bildquelle hier

Kommen wir also ohne weitere Umschweife zum Bericht der besagten Leserin: 
Mein erster Kontakt ergab sich über einen Arbeitskollegen, dessen Frau die Tochter einer russlanddeutschen Brüderfamilie war. Er hatte eine abgeschlossene Ausbildung und ein Studium, und bei einer Missionsveranstaltung von Campus für Christus hatte er seine Frau kennengelernt, die Erzieherin war. Also kein Studium, aber eine qualifizierte Ausbildung. Und nun wird es interessant: Sie hatte gearbeitet bis zum Burn-Out. Das war die Arbeitseinstellung in ihrer Familie: Man arbeitete so gut es ging, denn alles, was man tut, tut man zur Ehre Gottes. Der Vater ging morgens eine Stunde früher zur Arbeit und blieb grundsätzlich länger. Ein von Gott gesegnetes Leben ist ein Leben ohne Müßiggang. Dass der Schwiegersohn (also mein Kollege) nicht planmäßig sofort Arbeit gefunden hatte und zu Hause war…: ein echtes Problem für die lieben Schwiegereltern, mein Kollege bekam entsprechenden Druck zu spüren. 
Mein zweiter Kontakt fand im Zug statt: Ich hatte gerade unseren neuen Wohnort besucht, und im Zug saß eine junge Frau in langem Rock und mit einem schwarzen Kopftuch, die fröhlich und auf Russisch auf eine „normal“ gekleidete Frau einschnatterte. War ich auf einem Kostümfest gelandet?  
Der dritte Kontakt hält an – die wohnen hier nämlich! Meine Kinder gehen zusammen mit deren Kindern zur Schule. Die Jungen sind relativ unauffällig, die Mädchen, genannt „Rock-und-Zopf-Bande“, erkennt man halt sofort. Die Mütter auch – jedenfalls fast, aber dazu später mehr. Die Mütter fahren ihre Kinder zur Schule – Autos kommen da meist in Maxigröße –, und man sieht: langer Rock und Haarknoten unterm Tuch.  
Diese russlanddeutschen Brüder – sind sie „integriert“ 
Mir gehen dazu mehrere Fragen im Kopf herum. Zuerst: Kann bitte mal jemand endlich „Parallelgesellschaft“ und „Integration“ definieren? Bei Integration kann man zwar sagen, wann sie gar nicht geklappt hat, aber kann man auch sagen, wann sie geklappt hat und woran man das messen soll?  
Die beiden Begriffe sind ja eng miteinander verknüpft: Entweder man ist integriert oder in einer Parallelgesellschaft.  
Als Kriterien werden häufig Zugang zu Bildung und Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen genannt, und auch hier besteht wieder ein Zusammenhang. Keine Schulbildung, kein Job. Zu einem gewissen Grad ist in der Bundesrepublik jeder Empfänger von Transferleistungen – Kindergeld z.B. ist kein Merkmal von sozial schwachen Familien –, aber lassen wir das mal beiseite.  
Sind die Angehörigen dieser russlanddeutschen Gemeinden also „bildungsfern“ und/oder überproportional häufig von staatlichen Transferleistungen abhängig? Nach meinem subjektiven Eindruck können wir diese Frage getrost verneinen. Die Kinder haben solide Leistungen in der Schule; Faulheit geht halt nicht. Mindestens einer der Abiturienten gehört zu ihnen. Eine der Lehrerinnen übrigens auch, hier muss jetzt also keiner die „Frauen werden von Bildung ausgeschlossen und sind nur zum Dauerkinderkriegen da!“-Keule rausholen.  
Es gibt eine gewisse Tendenz dazu, dass die Söhne was Solides im Handwerk lernen sollen, statt akademische Höhenflüge zu unternehmen. Handwerk hat goldenen Boden und die Philosophie ist eine brotlose Kunst. Die Mädchen machen selbstverständlich auch Ausbildungen, meist was Soziales, Pädagogisches oder Pflegerisches. Das sind zwar klassisch weibliche Berufe und damit unterbezahlt, aber dass man Frauen mies bezahlen darf, ist ja bekannt und kein Phänomen, dass nur Parallelgesellschaften betrifft oder von diesen zu verantworten wäre.  
Mir fällt auf, dass Musikinstrumente eine große Rollen spielen und das Erlernen durchaus ernst genommen wird. Hat das etwas zu bedeuten? Ja, ich denke schon. Nämlich dass Kinder aus sozial schwachen Familien oftmals vom Erlernen eines Instruments ausgeschlossen sind und dass das hier ausdrücklich nicht passiert.  
Viele Kinder zu haben, wird in Deutschland mit „Hartz IV“ assoziiert. Nun erhöhen Kinder allerdings tatsächlich das Armutsrisiko, gerade für Alleinerziehende. Mit Armut geht Vereinsamung einher. Parallelgesellschaften, heißt es, grenzen sich ab. Damit kommen wir nun zu einem Punkt, den man schlechter erfassen kann als Mathenoten oder Einkommen. Wie misst man Sozialkontakte?Und vor allem: Wie misst man Sozialkontakte außerhalb der eigenen Filterblase? Geht das überhaupt? Fragen wir uns mal: Wer von uns hat eigentlich einen Freundeskreis, der „repräsentativ“ zusammengesetzt ist? Es ist doch ganz normal, dass man sich Leute sucht, mit denen man zurechtkommt, weil irgendeine Form von Konsens da ist. Seit ich Kinder habe, habe ich gemerkt, dass man nicht mit jedem automatisch befreundet ist, nur weil die sich auch reproduziert haben. Arbeitskollegen sehe ich am liebsten von hinten. Es ist nicht so, als ob das schreckliche Menschen wären, gegen die etwas Handfestes zu sagen wäre. Aber etwas, was uns über den Job hinaus miteinander verbinden würde, fehlt. Eigentlich merkt man schon in der eigenen Schulzeit, dass in die gleiche Klasse zu gehen kein Garant für Freundschaft ist und dass man sich seine Freunde selbst sucht – und nicht davon abhängig macht, wen die Schulleitung in den gleichen Raum eingeteilt hat. „Klassengemeinschaft“ funktioniert nicht auf Kommando.  
Grenzen diese Brüdergemeinden sich ab? Ja – und das dürfen sie auch. Ich suche mir ja auch aus, mit wem ich Umgang haben möchte und mit wem bitte nicht. Das tut jeder. Im Falle der Brüdergemeinden hat man eine gemeinsame Geschichte, die Identität stiftet. Teil dieser Identität ist das eigene Verständnis des christlichen Glaubens – und was das im täglichen Leben bedeutet. Man nimmt den Glauben sehr ernst und räumt ihm einen hohen Stellenwert ein. Der sonntägliche Kirchgang dauert länger, als man es vom „Normalchristen“ kennt, und auch einmal in der Woche Bibelkreis zu haben scheint ziemlich üblich. Normal? Normal ist, was man dazu macht – oder besser: was als normal akzeptiert wird. Und wenn man seinen Bezugspunkt unter Menschen hat, für die es normal ist, am Sonntag mit der ganzen Familie in der Kirche zu sitzen, und die dort ihre Verwandtschaft trifft, dann ist das ebenso „normal“, wie es anderswo „Vatertagsgrüppchen“ mit 2,4 Promille sind.  
Ach ja: das Kopftuch. Dazu wollte ich auch noch etwas sagen. Erstens kenne ich aus meiner Kindheit auf dem Land noch Frauen, die mit Faltenrock und Tuch unterwegs waren. Das finde ich also eher vertraut als schräg.  
Zweitens: Kaum denkt man, man hätte den „Dresscode“ begriffen – da taucht im Kindergarten eine neue Mutter mit leichtem russischen Akzent auf, die einen hautengen, geschlitzten Fast-schon-Minirock trägt und trotzdem auch zu „denen“ gehört. Na toll, wieder ist eine Schublade kaputt, in die man Menschen hätte stecken können! – Unter den Schwestern gibt es dicke und dünne, große und kleine, mit langem wehenden Rock und passendem Kopftuch und eben auch eher knapp gekleidete. Schubladen sind für Socken, nicht für Menschen.  
Was ich bei ihnen allerdings bisher noch nicht angetroffen habe, sind Frauen, die komplett hohlbirnig erscheinen.

Spannend, nicht? Falls noch andere Leser etwas aus eigener Erfahrung zu diesem Thema beizutragen haben: Immer her damit!