Sonntag, 20. Mai 2018

Mit Rock und Zopf gegen den Rest der Welt?

In meinem gestern veröffentlichten Artikel "Das Kopftuch der Anderen" hatte ich eine "gewisse Sympathie für die 'gegenkulturelle' Lebensweise der russlanddeutschen Brüdergemeinden" ausgedrückt und hinzugefügt, dass ich mir - "vorbehaltlich genauerer Informationen bzw., besser noch, eigener Anschauung -" vorstellen könnte, dass diese Lebensweise "manches Vorbildliche an sich hat". 

Und siehe da, noch am selben Tag meldete sich eine Leserin bei mir, die Angehörige einer russlanddeutschen Brüdergemeinde aus eigener Anschauung kennt und mir einige Beobachtungen und Reflexionen dazu zur freien Verwendung überlassen hat. Mitgeschickt hat sie mir zwei Presseberichte über eine solche Gemeinde, aber die werde ich wohl zu einem späteren Zeitpunkt würdigen. Ich habe schließlich auch noch andere Themen in der Pipeline. 

"Hutterite Sunset". Foto von Rainer Mueller, Bildquelle hier

Kommen wir also ohne weitere Umschweife zum Bericht der besagten Leserin: 
Mein erster Kontakt ergab sich über einen Arbeitskollegen, dessen Frau die Tochter einer russlanddeutschen Brüderfamilie war. Er hatte eine abgeschlossene Ausbildung und ein Studium, und bei einer Missionsveranstaltung von Campus für Christus hatte er seine Frau kennengelernt, die Erzieherin war. Also kein Studium, aber eine qualifizierte Ausbildung. Und nun wird es interessant: Sie hatte gearbeitet bis zum Burn-Out. Das war die Arbeitseinstellung in ihrer Familie: Man arbeitete so gut es ging, denn alles, was man tut, tut man zur Ehre Gottes. Der Vater ging morgens eine Stunde früher zur Arbeit und blieb grundsätzlich länger. Ein von Gott gesegnetes Leben ist ein Leben ohne Müßiggang. Dass der Schwiegersohn (also mein Kollege) nicht planmäßig sofort Arbeit gefunden hatte und zu Hause war…: ein echtes Problem für die lieben Schwiegereltern, mein Kollege bekam entsprechenden Druck zu spüren. 
Mein zweiter Kontakt fand im Zug statt: Ich hatte gerade unseren neuen Wohnort besucht, und im Zug saß eine junge Frau in langem Rock und mit einem schwarzen Kopftuch, die fröhlich und auf Russisch auf eine „normal“ gekleidete Frau einschnatterte. War ich auf einem Kostümfest gelandet?  
Der dritte Kontakt hält an – die wohnen hier nämlich! Meine Kinder gehen zusammen mit deren Kindern zur Schule. Die Jungen sind relativ unauffällig, die Mädchen, genannt „Rock-und-Zopf-Bande“, erkennt man halt sofort. Die Mütter auch – jedenfalls fast, aber dazu später mehr. Die Mütter fahren ihre Kinder zur Schule – Autos kommen da meist in Maxigröße –, und man sieht: langer Rock und Haarknoten unterm Tuch.  
Diese russlanddeutschen Brüder – sind sie „integriert“ 
Mir gehen dazu mehrere Fragen im Kopf herum. Zuerst: Kann bitte mal jemand endlich „Parallelgesellschaft“ und „Integration“ definieren? Bei Integration kann man zwar sagen, wann sie gar nicht geklappt hat, aber kann man auch sagen, wann sie geklappt hat und woran man das messen soll?  
Die beiden Begriffe sind ja eng miteinander verknüpft: Entweder man ist integriert oder in einer Parallelgesellschaft.  
Als Kriterien werden häufig Zugang zu Bildung und Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen genannt, und auch hier besteht wieder ein Zusammenhang. Keine Schulbildung, kein Job. Zu einem gewissen Grad ist in der Bundesrepublik jeder Empfänger von Transferleistungen – Kindergeld z.B. ist kein Merkmal von sozial schwachen Familien –, aber lassen wir das mal beiseite.  
Sind die Angehörigen dieser russlanddeutschen Gemeinden also „bildungsfern“ und/oder überproportional häufig von staatlichen Transferleistungen abhängig? Nach meinem subjektiven Eindruck können wir diese Frage getrost verneinen. Die Kinder haben solide Leistungen in der Schule; Faulheit geht halt nicht. Mindestens einer der Abiturienten gehört zu ihnen. Eine der Lehrerinnen übrigens auch, hier muss jetzt also keiner die „Frauen werden von Bildung ausgeschlossen und sind nur zum Dauerkinderkriegen da!“-Keule rausholen.  
Es gibt eine gewisse Tendenz dazu, dass die Söhne was Solides im Handwerk lernen sollen, statt akademische Höhenflüge zu unternehmen. Handwerk hat goldenen Boden und die Philosophie ist eine brotlose Kunst. Die Mädchen machen selbstverständlich auch Ausbildungen, meist was Soziales, Pädagogisches oder Pflegerisches. Das sind zwar klassisch weibliche Berufe und damit unterbezahlt, aber dass man Frauen mies bezahlen darf, ist ja bekannt und kein Phänomen, dass nur Parallelgesellschaften betrifft oder von diesen zu verantworten wäre.  
Mir fällt auf, dass Musikinstrumente eine große Rollen spielen und das Erlernen durchaus ernst genommen wird. Hat das etwas zu bedeuten? Ja, ich denke schon. Nämlich dass Kinder aus sozial schwachen Familien oftmals vom Erlernen eines Instruments ausgeschlossen sind und dass das hier ausdrücklich nicht passiert.  
Viele Kinder zu haben, wird in Deutschland mit „Hartz IV“ assoziiert. Nun erhöhen Kinder allerdings tatsächlich das Armutsrisiko, gerade für Alleinerziehende. Mit Armut geht Vereinsamung einher. Parallelgesellschaften, heißt es, grenzen sich ab. Damit kommen wir nun zu einem Punkt, den man schlechter erfassen kann als Mathenoten oder Einkommen. Wie misst man Sozialkontakte?Und vor allem: Wie misst man Sozialkontakte außerhalb der eigenen Filterblase? Geht das überhaupt? Fragen wir uns mal: Wer von uns hat eigentlich einen Freundeskreis, der „repräsentativ“ zusammengesetzt ist? Es ist doch ganz normal, dass man sich Leute sucht, mit denen man zurechtkommt, weil irgendeine Form von Konsens da ist. Seit ich Kinder habe, habe ich gemerkt, dass man nicht mit jedem automatisch befreundet ist, nur weil die sich auch reproduziert haben. Arbeitskollegen sehe ich am liebsten von hinten. Es ist nicht so, als ob das schreckliche Menschen wären, gegen die etwas Handfestes zu sagen wäre. Aber etwas, was uns über den Job hinaus miteinander verbinden würde, fehlt. Eigentlich merkt man schon in der eigenen Schulzeit, dass in die gleiche Klasse zu gehen kein Garant für Freundschaft ist und dass man sich seine Freunde selbst sucht – und nicht davon abhängig macht, wen die Schulleitung in den gleichen Raum eingeteilt hat. „Klassengemeinschaft“ funktioniert nicht auf Kommando.  
Grenzen diese Brüdergemeinden sich ab? Ja – und das dürfen sie auch. Ich suche mir ja auch aus, mit wem ich Umgang haben möchte und mit wem bitte nicht. Das tut jeder. Im Falle der Brüdergemeinden hat man eine gemeinsame Geschichte, die Identität stiftet. Teil dieser Identität ist das eigene Verständnis des christlichen Glaubens – und was das im täglichen Leben bedeutet. Man nimmt den Glauben sehr ernst und räumt ihm einen hohen Stellenwert ein. Der sonntägliche Kirchgang dauert länger, als man es vom „Normalchristen“ kennt, und auch einmal in der Woche Bibelkreis zu haben scheint ziemlich üblich. Normal? Normal ist, was man dazu macht – oder besser: was als normal akzeptiert wird. Und wenn man seinen Bezugspunkt unter Menschen hat, für die es normal ist, am Sonntag mit der ganzen Familie in der Kirche zu sitzen, und die dort ihre Verwandtschaft trifft, dann ist das ebenso „normal“, wie es anderswo „Vatertagsgrüppchen“ mit 2,4 Promille sind.  
Ach ja: das Kopftuch. Dazu wollte ich auch noch etwas sagen. Erstens kenne ich aus meiner Kindheit auf dem Land noch Frauen, die mit Faltenrock und Tuch unterwegs waren. Das finde ich also eher vertraut als schräg.  
Zweitens: Kaum denkt man, man hätte den „Dresscode“ begriffen – da taucht im Kindergarten eine neue Mutter mit leichtem russischen Akzent auf, die einen hautengen, geschlitzten Fast-schon-Minirock trägt und trotzdem auch zu „denen“ gehört. Na toll, wieder ist eine Schublade kaputt, in die man Menschen hätte stecken können! – Unter den Schwestern gibt es dicke und dünne, große und kleine, mit langem wehenden Rock und passendem Kopftuch und eben auch eher knapp gekleidete. Schubladen sind für Socken, nicht für Menschen.  
Was ich bei ihnen allerdings bisher noch nicht angetroffen habe, sind Frauen, die komplett hohlbirnig erscheinen.

Spannend, nicht? Falls noch andere Leser etwas aus eigener Erfahrung zu diesem Thema beizutragen haben: Immer her damit! 


3 Kommentare:

  1. In meiner Nachbarschaft wohnen auch keine komplett hohlbirnigen Frauen. Von denen trägt im übrigen keine einen Faltenrock oder ein Kopftuch. Diese Erkenntnis ist eher unspektakulär und wenig spannend. Dass unter einem Kopftuch allerdings eine hohle Birne stecken könnte, ist durchaus vorstellbar. Dann wird es wieder spannend.

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  2. Ich vermute mal, daß Deine nachbarschaftlichen Frauen auch optisch, kombiniert mit einer bestimmten Weltanschauung oder einer Glaubensrichtung irgendwie homogen ist, so daß man ihnen unterstellen könnte, sie wären in irgendeiner Artu und Weise "rückständig"? - So gesehen, am Thema komplett vorbei... (Mal abgesehen davon, ob es tatsächlich den Umständen entspricht, daß Du die Frauen in Deiner Nachbarschaft allesamt so gut kennst, um das beurteilen zu können, oder Du Dich von ihrem weitestgehend "normalen" Erscheinungsbild leiten lässt, was wiederum eine Schublade mit einem positiven Vertraunensvorschuss wäre - aber kein Garant auf Zutrefflichkeit!

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  3. Wenn "rückständig" bedeutet einen Zopf und einen Rock zu tragen, dann wäre das Thema meinerseits sicherlich verfehlt. Eine Glaubensrichtung oder Weltanschauung an der Kleidung fest zu machen, ist nicht mein Ding. Mein Kommentar bezog sich ausschließlich auf den letzten Satz, dass man bei "denen" keine komplett hohlbirnigen Frauen ausmachen könnte. Eine steile These, die wiederum Mini-Rock und Bauchnabel-Piercing in die entsprechende Schublade stecken könnte. Kleider machen Leute und Leute machen Kleider...mehr ist das nun wirklich nicht.

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