Freitag, 20. November 2020

Die Legende von Hans Apfelkern

Twitter kann ja oft ganz schön ärgerlich sein - frisst Zeit und verführt nur allzu leicht zu fruchtlosen Streitereien mit Blödköpfen -, aber ab und zu beschert einem die digitale Zwitschermaschine dann doch bemerkenswerte Entdeckungen, ohne die das Leben ärmer gewesen wäre. Neulich zum Beispiel wurde mir ein Tweet eines mir ansonsten unbekannten Nutzers in die Timeline retweetet, in dem dieser sinnierte, es sei doch eine sonderbare Vorstellung, dass Johnny Appleseed eine reale Person gewesen sei. Der Urheber des Tweets erhielt darauf eine Vielzahl von Antworten, unter anderem von jemandem, der erklärte, seine Frau sei mit dem echten Johnny Appleseed verwandt. Und ich dachte: Was? Wie? Wovon redet ihr?  

Bezeichnend genug ist es übrigens, dass ich diese Tweets schon wenige Tsge später nicht mehr wiederfand. Warum? Weil man, wenn man bei Twitter "Johnny Appleseed" als Suchwort eingibt, eine unüberschaubare Menge an Fundstellen... äh... erntet. In den USA kennt diese halb legendäre, halb historische Gestalt offenbar buchstäblich jedes Schulkind -- genauer gesagt scheint seine Lebensgeschichte Lernstoff in der Grundschule zu sein, so ungefähr im zweiten Schuljahr. Und außerdem gibt es da diesen klassischen Disney-Film aus dem Jahr 1948. 


"The Lord is good to me 
And so I thank the Lord 
For giving me the things I need: 
The sun and rain and an appleseed" --- 

Das klingt irgendwie #benOppig, dachte ich mir. Wenn es diesen Johnny Appleseed tatsächlich gab, wieso habe ich dann noch nie von ihm gehört?  (Okay: "noch nie von ihm gehört" stimmt streng genommen nicht ganz, aber dazu später.) Kurzum, meine Neugier war geweckt -- und was ich bei einer ersten raschen Recherche herausfand, enttäuschte mich keineswegs: Der unter dem Namen Johnny Appleseed oder auf Deutsch auch als Hans Apfelkern bekannte amerikanische Volksheld, der mit bürgerlichem Namen John Chapman hieß und ungefähr von 1774 bis 1845 lebte, wird in der englischsprachigen Wikipedia-Version als "Missionar und Gärtner", in der deutschsprachigen gar als "ökologischer Pionier" geführt; seinen Ruhm verdankt er der Tatsache, dass er eigenhändig für die Verbreitung von Apfelbäumen im damaligen Wilden Westen sorgte, indem er - ausgerüstet mit einem Blechtopf, den er sowohl als Kochgeschirr wie auch als Hut benutzte, einer Bibel und einem Säckchen voller Apfelkerne - zwischen Pennsylvania und Illinois von Ort zu Ort zog und Aufzuchtgärten anlegte, die er dann der Obhut der örtlichen Siedler überließ. Zudem verkündete er das Evangelium unter den Indianern, die ihn als vom Großen Geist begnadet verehrten, und schloss Freundschaft mit wilden Tieren. 

Eine Art Franz von Assisi des Wilden Westens also? --- Das wird man wohl mit einem klaren Jein beantworten müssen. Einen Wermutstropfen stellt es beispielsweise dar, dass Chapmsn alias Appleseed der sogenannten New Church angehörte, einer obskuren, theosophisch angehauchten Sekte, deren Glaubenslehre auf dem mystischen Schrifttum des schwedischen Spökenkiekers Emanuel Swedenborg (1688–1772) basierte. 

Auch sonst bedarf die romantische Vorstellung von dem skurril gekleideten Vagabunden, der Apfelbäume pflanzt bzw. sät, wo immer er geht und steht, wohl der einen oder anderen Korrektur oder zumindest Relativierung. So gilt es zu bedenken, dass im Zuge der Besiedlung des Mittleren Westens das Anlegen von Obstgärten eine probate Methode war, den Wert eben erst erschlossener Grundstücke zu steigern; anschaulich geschildert wird diese Art der Bodenspekulation in Ferdinand Kürnbergers auch sonst sehr empfehlenswertem Roman "Der Amerikamüde" von 1855. Folgerichtig ließ sich Johnny Appleseed, trotz seiner betont anspruchslosen Lebensweise, seine Pflanzungen durchaus anständig bezahlen und hinterließ bei seinem Tod ein beachtliches Vermögen in Form von Landbesitz. 

Da Johnny Appleseed ein entschiedener Gegner des Veredelns von Obstbäumen war, wird zudem angenommen, dass die Äpfel aus seinen Pflanzungen nicht besonders gut zum Essen geeignet gewesen sein dürften und wohl hauptsächlich zu Apfelwein (Cider) verarbeitet wurden, zumal dieser für Farmer an der Grenze der zivilisierten Welt einfacher herzustellen war als die meisten anderen alkoholischen Getränke. Der Journalist und Buchautor Michael Pollan meint daher, Johnny Appleseeds hauptsächliche Leistung sei es gewesen, den Siedler des Wilden Westens den Zugang zu Alkohol zu sichern, und nennt ihn den "amerikanischen Dionysos". 

(Aus Cider wiederum kann man einen Applejack genannten Obstbrand herstellen, und wie ich gelesen habe, erfanden die Pioniere des Wilden Westens zu diesem Zweck eine primitive, aber wirksame Methode, die sogenannte Freeze Distillation. Die funktionierte so, dass man den Cider im Winter im Freien aufbewahrte und regelmäßig das gefrorene Wasser absammelte, wodurch der Alkoholgehalt in der verbleibenden Flüssigkeit nach und nach stieg. War der Winter lang und hart genug,  war bis zum Frühjahr aus dem Apfelwein Apfelschnaps geworden. Raffiniert, was?) 

Erst recht zwiespältig erscheint Appleseeds Lebensleistung angesichts des Umstands, dass er - laut einer 1871, also 26 Jahre nach seinem Tod, in Harper's New Monthly Magazine erschienenen, offenbar auf mündlicher Überlieferung basierenden biographischen Skizze - nicht nur dem Apfelbaum im Mittleren Westen der USA zur Verbreitung verhalf, sondern auch einer Pflanze mit dem bezeichnenden Namen Stinkende Hundskamille: Er hielt dieses Gewächs irrtümlich für eine potente Heikpflanze, mit der man u.a. Malaria kurieren könne, aber tatsächlich handelt es sich um ein übles Unkraut, das Hautreizungen und Atembeschwerden verursachen kann. Mir erscheint dieser Zug der Johnny-Appleseed-Saga auf faszinierende Weise symbolträchtig: Man kann darin, wenn msn denn will, geradezu eine Allegorie auf den Umstand sehen, dass er zusammen mit dem Evangelium auch die theosophischen Irrlehren Swedenborgs verbreitete, 

Die volkstümliche Überlieferung hat Johnny Appleseed indes ein ehrendes Andenken bewahrt: An mehreren Orten, an denen er gewirkt hat, wird sein Geburts- oder Todestag als offizieller Feiertag begangen; neben dem bereits angesprochenen Disney-Film gibt es zahlreiche Kinderbücher über ihn -- und übrigens auch mehrere Punk-Songs. Was mich abschließend darauf bringt, wo der Name dieser bemerkenswerten Gestalt mir doch schon früher einmal begegnet ist: nämlich als Titel eines Songs von Joe Strummer & The Mescaleros, der auf dem Soundtrack der sehr sehenswerten Filmbiographie "Joe Strummer - The Future Is Unwritten" enthalten ist. Ich mag den Song: 


Und Joe Strummer war ja seinerseits auch so ein seltsamer Heiliger. Schöne Textstelle übrigens: "If you're after getting the honey, then you don't go killing all the bees". Ja, in dem Liedtext geht es - zumindest unter anderem - um Ökologie. Was mich nun noch einmal darauf bringt, dass Johnny Appleseed von Tante Wiki als "ökologischer Pionier" gerühmt wird: Hierfür ist gerade seine oben schon einmal angesprochene Ablehnung des Veredelns von Obstbäumen von Belang, die allem Anschein nach religiös, nämlich durch den Respekt vor Gottes Schöpfung, motiviert war. Aus ökologischer Sicht (das hat mir meine Liebste bestätigt, die ja studierte Biologin ist, und vor allem politisch-ideologischen "framing" ist Ökologie zunächst einmal eine wissenschaftliche Teildisziplin der Biologie) hat die von Johnny Appleseed praktizierte Aufzucht von Bäumen aus Zufallssämlingen gegenüber dem Veredeln, das im Prinzip eine Art des Klonens darstellt, den Vorteil, dass sie eine größere genetische Vielfalt gewährleistet. Es ist daher wahrscheinlich, dass viele heutige Apfelvarietäten ihre Existenz letztlich dem Wirken Johnny Appleseeds verdanken. 

Abschließend sei noch angemerkt, dass man sicherlich behaupten kann, Johnny Appleseed verdanke seine Popularität zu einem nicht unwesentlichen Anteil einer typisch US-amerikanischen Vorliebe für Sonderlinge und Exzentriker; wer aber meint, im biederen Deutschland hätte es "so etwas nicht gegeben", dem kann ich bei Gelegenheit gern einmal einen Vortrag über gustaf nagel halten... 



Dienstag, 17. November 2020

Ernsthafte Frage an Experten für die Verteidigung gegen die Dunklen Künste

Der Advent steht vor der Tür, und aus diesem Grund habe ich unlängst begonnen, mich auf YouTube nach geeigneter Musik für eine adventliche Gestaltung der Lobpreisandachten umzuschauen, die meine Liebste und ich allwöchentlich in unserer Pfarrkirche abhalten. Im Zuge dessen bin ich auf eine eindrucksvolle Version des traditionellen Adventslieds "Maria durch ein Dornwald ging" gestoßen: gesungen von einem klassischen Tenor, aber unterlegt mit trippigen Beats, sphärischen Synthesizer-Klängen und sonstigen elektronischen Soundeffekten. Auch wenn ich in meinem privaten Musikgeschmack tendenziell eher "Team Stromgitarre" bin, war ich spontan begeistert und dachte: Krass, genau so etwas habe ich gesucht seit dem "Diva Dance" aus dem Film "Das fünfte Element" und "Prince Igor" von The Rapsody feat. Warren G. & Sissel Kyrkjebø. Also seit 1997. 

Okay. Wo ist der Haken? Nun ja: Dieses interessante Fundstück veranlasste mich, mal nachzusehen, was die Urheber dieser "Maria durch ein Dornwald ging"-Version denn sonst noch so zu bieten hätten; und das Ergebnis dieser Recherche war eher... irritierend. Der Gesangspart stammt, wie schon gesagt, von einem klassischen Tenor, Daniel Sans; für das Arrangement zeichnet hingegen ein Ein-Mann-Projekt namens Apoptose verantwortlich. Das mag ein cleveres Wortspiel sein, da die Silbe "Pop" drin vorkommt, aber zunächst einmal ist Apoptose ein biologischer Fachterminus für ein Phänomen, das man als "programmierten Zelltod" beschreiben kann. Das klingt ja nun einigermaßen finster. Seinen Musikstil bezeichnet Apoptose als "Dark Ambient"; ich hätte TripHop dazu gesagt, aber das ist wohl, ähnlich wie seinerzeit "Neue Deutsche Welle", ein Label, das im Wesentlichen von Musikjournalisten geprägt bzw. in Umlauf gebracht wurde und von den so etikettierten Interpreten eher abgelehnt wird. Na, sei's drum. Zu den Veröffentlichungen von Apoptose zählen Alben mit Titeln wie "Blutopfer", "Schattenmädchen" und "Bannwald"; Letzteres ist offenbar ein Konzeptalbum, das auf einer angeblich wahren Geschichte basiert: Drei Mädchen verlaufen sich im Wald und bleiben unauffindbar; "Jahrzehnte später tauchen drei mysteriöse Frauen in der Gegend auf, und die Einheimischen erinnern sich an das Verschwinden der Mädchen vor langer Zeit". Rezensenten sahen Parallelen zum pseudo-dokumentarischen Horrorfilm "The Blair Witch Project". Zudem ist auf dem Album "Bannwald" mit "May the Circle be open" ein Lied enthalten, das "unter Wicca-Anhängern sehr bekannt" ist und "mittlerweile wohl weltweit auf Hexenzusammenkünften gesungen" wird. Ich sag mal: Hm. Auch sonst scheint es, dass Apoptose sein Nischenpublikum zu einem nicht unwesentlichen Teil in esoterisch-neopaganen Zirkeln findet. Wie passt da ein Marienlied ins Bild? Man ahnt es fast: Im Begleittext zur Apoptose-Version von "Maria durch ein Dornwald ging" auf YouTube und auf dem Musikportal Bandcamp heißt es, "the words and the solemn melody evoke images of a goddess who cares for the eternal cycle of growth and decay" ("die Worte und die feierliche Melodie evozieren Bilder einer Göttin, die über den ewigen Kreislauf von Wachstum und Zerfall wacht"). Na sicher. 😒



Und nun bin ich mir unsicher, ob ich diese Version von "Maria durch ein Dornwald ging", so gut sie mir auch gefällt, guten Gewissens für eine Andacht in einer Kirche verwenden kann. -- Okay: Ich kenne - unter anderem, weil ich jahrelang im Berliner Gruselkabinett gearbeitet habe - einige auf dem Kunst- und Unterhaltungssektor tätige Leute, die sich auf Horror-Ästhetik spezialisiert haben, und habe auch darüber hinaus Freunde und Bekannte, die ein ausgeprägtes Faible für Makabres, Morbides und Mysteriöses haben, ohne deswegen Satanisten oder etwas Ähnliches zu sein. Und wie manche Leser sich erinnern werden, habe ich keinerlei Scheu an den Tag gelegt, mich mit Hexe Minerva und ihren Fans anzulegen, da ich den von dieser Dame kommerziell betriebenen neuheidnisch-naturmagischen Schnickschnack eher albern finde, als dass ich ihn für irgendwie bedrohlich hielte. Aber das Eine wie das Andere bedeutet ganz entschieden nicht, dass es nicht dennoch echte dämonische Mächte gäbe, mit denen ganz entschieden nicht zu spaßen ist. (Wer "an sowas nicht glaubt", der darf mich gerne auslachen -- und wird bis zum Ende des Artikels noch reichlich Gelegenheit dazu bekommen.) 

Womit haben wir es also hier zu tun? Hat sich der Künstler, der sich hinter dem Projektnamen Apoptose verbirgt, lediglich aus ästhetischer Faszination und/oder aus kommerziellen Erwägungen ein Image zugelegt, das mit Anmutungen von Hexerei und Schwarzer Magie spielt, handelt es sich um einen vielleicht etwas versponnenen, im Grunde aber harmlosen Möchtegern-Okkultisten, oder womöglich doch um jemanden, der seine Seele dem Bösen verschrieben hat? 

Natürlich drängt sich hier die Frage auf, ob es einem ernstzunehmenden Okkultisten zuzutrauen wäre, ausgerechnet ein Marienlied zu veröffentlichen. Und ob die gewissermaßen nach Rechtfertigung klingende Behauptung, das Lied enthalte heidnische Untertöne, nicht eher Hexe-Minerva-Niveau hat. Ich meine, klar: Neuheiden glauben so etwas. Das moderne Neuheidentum baut praktisch zur Gänze auf der Vorstellung auf, christliches Brauchtum sei in Wirklichkeit uraltes heidnisches Brauchtum, das im Laufe des Mittelalters lediglich oberflächlich christlich übertüncht worden sei. Im vorliegenden Fall können sie da einer bestimmten Sorte evangelikaler Fundis die Hand reichen, die ebenfalls meinen, Marienverehrung sei in Wirklichkeit heidnischer Götzendienst. Aber muss man sich als Katholik von so etwas beeindrucken lassen? 

Ich würde sagen: Nee. Dass sich in irgendwelchen Kellerlöchern blass geschminkte Darkwave-Gothic-Neuheiden traditionelle Marienlieder anhören, weil sie meinen, es handle sich um Hymnen an die Große Mutter, sehe ich nicht als Problem -- das finde ich eher witzig. Weit mehr beschäftigt mich die Frage, ob Apoptose-Rüdiger (ja, er heißt wirklich Rüdiger) womöglich unterhalb der Hörgrenze irgendwelche satanistischen Beschwörungsformeln oder Ähnliches in sein Arrangement von "Maria durch ein Dornwald ging" hineingemixt hat. Ja, lach ruhig, Leser; ich mein's ernst

Aber andererseits: Ist Maria nicht der Schrecken der Dämonen? Ist sie es nicht, die der höllischen Schlange den Kopf zertritt? Nicht ohne Grund finden sich ja die Marianischen Antiphonen im neuen Gotteslob unter der ominösen Nummer 666. Sollte man da nicht annehmen, dass der Versuch, ausgerechnet ein Marienlied für dämonische Zwecke zu missbrauchen - wenn denn jemand einen solchen Versuch unternähme - von vornherein zum Scheitern verurteilt sein müsste? 

Ich weiß es wirklich nicht, Leser. Vielleicht hat ja jemand einen guten Rat für mich. Natürlich könnte ich einfach eine schön schlichte a-cappella-Version von "Maria durch ein Dornwald ging" verwenden, aber das wäre dann ja doch irgendwie langweilig. -- Bis zum Dienstag der zweiten Adventswoche will ich jedenfalls eine Entscheidung getroffen haben, denn da fällt unser wöchentlicher Lobpreis-Termin just auf das Hochfest Mariä Empfängnis. 

P.S.: Ich hatte diesen Artikel schon größtenteils zu Ende geschrieben, da stellte ich fest, dass es auf YouTube auch eine "Maria durch ein Dornwald ging"-Version von der Darkwave/Pop-Gruppe Chandeen gibt; im direkten Vergleich mit der Apoptose-Version klingt diese allerdings deutlich weniger spektakulär und ist davon abgesehen auch darum keine überzeugende Alternative, weil die Gruppe Chandeen offenbar ebenfalls einen esoterischen oder okkultistischen Hintergrund hat. -- Und die Version von Helene Fischer höre ich mir vorsichtshalber gar nicht erst an! 


Sonntag, 15. November 2020

Morgen früh, wenn Gott will -- Reloaded

Der Drogeriemarkt-Discounter dm verkauft Kuscheltiere mit eingebauten Spieluhren, die, wenn man an einer Schnur zieht, traditionelle Schlaflieder spielen. Zu den Melodien, die dabei Verwendung finden, gehört auch das Lied "Guten Abend, gute Nacht" -- allerdings in einer gewissermaßen "zensierten" Version: Zwar bringen die Spieluhren natürlich nur die Melodie zu Gehör und nicht den Text, aber es fällt dennoch auf, dass diejenige Melodiepassage, auf die die Verse "Morgen früh, wenn Gott will / wirst du wieder geweckt" zu singen wären, schlichtweg fehlt. Ich halte das für keineswegs zufällig. Weit eher könnte ich mir vorstellen, dass damit auf die Befindlichkeit von Müttern Rücksicht genommen wurde, die an just diesen beiden Versen Anstoß nehmen. Im Ernst: Wer sich mal ein bisschen in den Mami-Foren des Web 2.0 umschaut, in einschlägigen Facebook-Gruppen oder Blogs, der kann sich selbst davon überzeugen, dass das Lied "Guten Abend, gute Nacht" dort ein ganz heißes Eisen ist, und zwar genau wegen dieser zwei Verse. Der typische Einwand lautet: Wie brutal, Kinder damit zu konfrontieren, dass sie am nächsten Morgen womöglich nicht wieder aufwachen -- und das auch noch mit Gott in Verbindung zu bringen! 

Darauf könnte man nun schlicht erwidern: Na ja, aber is' doch nun mal so. 

Man kann sich mit einer Erwiderung auf die Kritik an diesem traditionellen Kinderlied aber auch ein bisschen mehr Mühe geben. 



Tatsächlich habe ich mich mit diesem Thema schon einmal befasst, lange bevor ich selbst Kinder hatte -- nämlich in einem Blogartikel aus dem Jahr 2012, der allerdings ziemlich lange braucht, um auf den Punkt zu kommen (und wer meint, das sei bei meinen Blogartikeln bis heute oft so, darf gern mal vergleichen), und auch sonst, wie ich aus heutiger Sicht finde, ein paar Schwächen hat. Teile des damaligen Artikels finde ich jedoch - so viel Eigenlob muss sein - zu gut, um in Vergessenheit zu geraten. Und daher haben mich die eingangs erwähnten Kuschel-Spieluhren bei dm auf die Idee gebracht, ich könnte mich mal an einer Neufassung des Artikels versuchen und dabei Teile der ursprünglichen Fassung übernehmen. Zumal ja gerade November ist, der traditionelle Monat des Totengedenkens; und die COVID-19-Pandemie, in deren "zweiter Welle" wir uns befinden, hat ja ein Übriges getan, dem Thema Tod und Sterben eine ganz neue Aktualität zu verleihen, aber dazu später. 

-- In meinem Artikel von 2012 erwähnte ich, dass derselbe Gedanke, der die besagten zwei Verse aus "Guten Abend, gute Nacht" so heikel erscheinen lässt, sogar noch expliziter in einem ebenfalls recht bekannten angloamerikanischen Kinder-Nachtgebet zum Ausdruck kommt:

Now I lay me down to sleep,
I pray the Lord my soul to keep,
If I shall die before I wake,
I pray the Lord my soul to take.
Gewiss spielt es eine Rolle, dass dieses Gebet und dieses Lied aus einer Zeit stammen, als auch in unseren Breiten die Kindersterblichkeit sehr viel höher war als heute -- oder anders ausgedrückt: Die statistischen Aussichten dafür, dass ein Kind das Erwachsenenalter oder auch nur das Alter von fünf Jahren erreicht, standen erheblich schlechter als heute. Die Möglichkeit, dass ein Kind, das man zu Bett bringt, den nächsten Morgen vielleicht nicht erlebt, war im kollektiven Bewusstsein - und, so möchte man annehmen, besonders in dem der Eltern - einfach präsenter als heute. Gleichwohl gibt es auch heute noch Fälle von plötzlichem Kindstod (Sudden Infant Death Syndrome, SIDS), und auch heute noch sterben kleine Kinder an Infektionskrankheiten oder Krebs oder verunglücken tödlich. Und ich denke, genau das ist der Punkt: Würden dieses "Morgen früh, wenn Gott will", dieses "If I shall die before I wake" nicht eine reale Möglichkeit ansprechen - sei sie statistisch auch noch so unwahrscheinlich -, dann wären dieses Lied und dieses Gebet wohl eher ungebräuchlich geworden und vielleicht in Vergessenheit geraten, aber jedenfalls würden sie nicht eine solche Beunruhigung auslösen. Es heißt, als der Komponist Gustav Mahler die von Friedrich Rückert verfassten "Kindertotenlieder" vertonte, habe seine Frau Alma ihm Vorwürfe gemacht: So etwas beschwöre Unglück herauf. Zwei Jahre nach der Uraufführung des Liederzyklus starb die ältere der beiden Töchter Mahlers im Alter von vier Jahren an Diphtherie. 

Sagen wir, wie's ist: Das menschliche Leben ist etwas sehr Zerbrechliches, und dass das auch und nicht zuletzt für das Leben von Kindern gilt, ist mir heute, da ich selbst Vater bin, auf eine sehr viel eindringlichere Weise bewusst als noch vor einigen Jahren; daher kann ich es emotional auch deutlich besser nachvollziehen als früher, dass der Gedanke an den Tod der eigenen Kinder etwas ist, das man gern möglichst weit von sich wegschiebt. Nur gehen die Dinge, vor denen man Angst hat, in der Regel nicht dadurch weg, dass man sie ignoriert oder ihre Existenz schlichtweg leugnet. Kleine Kinder mögen glauben, sie müssten nur fest genug die Augen schließen, damit das, wovor sie sich fürchten, von allein verschwindet; Erwachsene sollten es besser wissen. Und mehr noch: Wenn Erwachsene versuchen, ihren Kindern gegenüber die Existenz des Todes zu verleugnen, dann liegt der Verdacht nahe, dass sie damit letztlich nur ihre eigene Angst vor dem Tod auf die Kinder projizieren, die diese Angst sonst womöglich gar nicht hätten

Einer Mutter, die davor zurückschreckt, ihrem Kind die Verse "Morgen früh, wenn Gott will / wirst du wieder geweckt" vorzusingen,  würde vermutlich vor Schreck der Mund offen stehen, wenn man sie fragte, was denn so falsch daran sei, Kindern frühzeitig ein Bewusstsein ihrer eigenen Sterblichkeit zu vermitteln. Dass man jeden Gedanken an den Tod, ja möglichst das Wissen um die bloße Existenz des Todes so weit und so lange wie möglich von Kindern fernhalten sollte, erscheint ihnen so evident, dass ihnen gar nicht einfiele, das irgendwie zu begründen. Wahrscheinlich kennen sie es aber auch nicht anders, weil sie selbst so erzogen wurden. Der Tod ist eine Art negativer Weihnachtsmann: Es gibt ihn zwar, aber das Kind soll das erst möglichst spät erfahren.

Wenn hierzulande ein Kind zum ersten Mal in seinem Leben mit dem Tod konfrontiert wird, dann dürfte es sich in den meisten Fällen entweder um den Tod älterer Familienangehöriger - etwa der Großeltern - oder aber um den Tod von Haustieren handeln. Aber wie viele Kinder - gerade in Großstädten - haben noch regelmäßigen Kontakt zu ihren Großeltern? Oder umgekehrt, wie viele Senioren sterben heute noch im Kreis ihrer Familie? Gestorben wird heute im Krankenhaus oder im Pflegeheim, und dahin müssen besorgte Eltern ihre Kinder ja nicht mitnehmen. Und was die Haustiere betrifft: Liegt der Hamster oder der Wellensittich eines Tages tot im Käfig, während das Kind im Kindergarten, in der Schule oder sonstwie außer Haus ist, dann kann ich mir gut vorstellen, dass viele Eltern den kleinen Kadaver stillschweigend entsorgen und dem Kind später weismachen, das Tier wäre davongelaufen oder -geflogen. Das ist für das Kind nicht unbedingt weniger traurig, aber es erspart den Eltern, das heikle Thema Tod ansprechen zu müssen.

Es steht zu vermuten, dass die Tendenz zur Ausblendung des Todes aus der Lebensrealität nicht allein durch eine stark gestiegene statistische Lebenserwartung bedingt ist, sondern mindestens ebensosehr durch das Schwinden des Glaubens an ein Leben nach dem Tod. Vom Mittelalter bis ins Barock war das memento mori - die permanente Erinnerung daran, dass dass der Tod gewiss, sein Zeitpunkt jedoch ungewiss ist - allgegenwärtig; so fanden sich Sinnsprüche, die den Gedanken an den Tod wach halten sollten, häufig auf Sonnenuhren, und so erklären sich auch häufige Abbildungen von Gerippen, Totenschädeln usw. in Kirchen, auf Gemälden, Reliefs und Siegeln. Aus der Unausweichliche und Unvorhersehbarkeit des Todes ergab sich nach damaligem Verständnis die Notwendigkeit, jederzeit auf den Tod vorbereitet zu sein. Das ist heute entschieden anders. Vielfach scheint die stillschweigende Überzeugung vorzuherrschen, der Mensch der westlichen Welt habe seine 70 oder 80 Jahre Lebenszeit gewissermaßen verbindlich gebucht, und stirbt jemand früher, dann wird das so aufgefasst, als sei er um etwas betrogen worden, das ihm zusteht. Zugleich  besagt aber eine alte Weisheit, dass die Welt betrogen werden will, und auch das spiegelt sich in der modernen Einstellung zum Tod wider. Fragt man Erwachsene, wie sie gern sterben möchten, dann erhält man häufig zur Antwort: Am liebsten möchten sie ganz plötzlich, von einem Moment auf den anderen, tot umfallen. Ohne Vorwarnung mitten aus dem Leben gerissen zu werden, das gilt als guter Tod. Mit anderen Worten: Die Angst vor dem Tod ist so groß, dass die Leute ihm auch dann noch nicht ins Auge sehen wollen, wenn er schon unmittelbar bevorsteht. Sie wollen leben, als ob es keinen Tod gäbe - und das bis zuletzt. Man muss gar nicht besonders religiös sein, um diese Haltung gegenüber dem Tod befremdlich und unreif zu finden. 

Und das bringt mich nun - irgendwie - auf die aktuelle Corona-Situation. Anlässlich der Weihe des Erzbistums Berlin an das Heiligste Herz Jesu und das Unbefleckte Herz Mariens im August dieses Jahres veröffentlichte die Pressestelle des Erzbistums eine Arbeitshilfe mit "Impulsen für den Gottesdienst"; insgesamt war ich, wie schon einmal angemerkt, eher mäßig beeindruckt, aber bemerkenswert fand ich ein in dieser Arbeitshilfe enthaltenes Gedicht von Andreas Knapp mit dem schlichten Titel "Corona-Virus"
ein winziges Stück RNA
erinnert die Krone der Schöpfung
an ihre Sterblichkeit
alle Welt gerät in Panik
man hatte das tatsächlich
vergessen 
Doch doch, sagte ich mir, das hat was. Und in gewissem Sinne ist es auch ziemlich mutig, das zu veröffentlichen. 

Inwiefern? -- Ich würde hier gern versuchen, zwischen Coronazis und Covidioten bedingungslosen Befürwortern und ebenso bedingungslosen Gegnern staatlich verordneter Corona-Schutzmaßnahmen eine mittlere Position einzunehmen -- was allerdings schwierig ist, da es scheint, dass beide Seiten wenig Interesse an Differenzierung haben und dazu neigen, jeden, der nicht zu 100% mit ihnen übereinstimmt, pauschal der jeweiligen Gegenseite zuzurechnen. Aber versuchen wir's dennoch. Vielleicht können wir uns ja erst einmal auf die Feststellung einigen, dass der als  SARS-CoV-2 bezeichnete Erreger, mit dem wir es zu tun haben, ein hoch ansteckendes Virus ist, auf das, da es eben ein neues Virus ist, das menschliche Immunsystem (noch) nicht eingestellt ist und das deshalb bei einem Teil der Infizierten schwere Krankheitsverläufe mit diversen Komplikationen hervorruft, die zum Teil tödlich verlaufen und zum Teil vielfältige bleibende Folgeschäden hinterlassen. Die Situation ist also ausgesprochen ernst zu nehmen, und es ist nur vernünftig, dass Maßnahmen ergriffen werden, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen oder wenigstens zu verlangsamen. Ich empfinde es auch nicht als unzumutbar, beim Einkaufen  oder im öffentlichen Personennahverkehr eine Stoffmaske über Mund und Nase zu tragen. Dennoch kann ich mich gleichzeitig nicht immer des Eindrucks erwehren, dass um die COVID-19-Pandemie - die als Geißel der Menschheit wohl doch nicht so ganz an den mittelalterlichen Schwarzen Tod, an die Cholera- und Typhus-Epidemien des 19. Jahrhunderts oder an die Spanische Grippe heranreicht - ein übertriebener Hype veranstaltet wird; gar nicht so sehr auf der Ebene konkreter Schutzmaßnahmen, aber in der Art und Weise, wie dieses Thema die Debatte in den Medien, in der Politik und sogar in der Kirche beherrscht. Man könnte den Eindruck bekommen, es herrsche die Auffassung vor, es wäre nicht nur möglich,  sondern geradezu die Pflicht von Politik und Zivilgesellschaft, Krankheit und Tod ein für allemal abzuschaffen, und solange dieses Ziel nicht erreicht sei, habe niemand das Recht, einfach ein normales Leben zu führen. Als könnte nicht auch jemand, der sich peinlichst genau an alle Corona-Vorschriften hält, trotzdem an einer Fischgräte ersticken, auf dem nassen Badezimmerfußboden ausrutschen und sich den Hals brechen oder von einem zufällig vom Himmel fallenden Klavier erschlagen werden. 

Gerade von kirchlicher Seite hätte ich mir daher in Sachen "Corona-Kommunikation" mehr und Anderes erhofft als fade "Passen Sie auf sich auf und bleiben Sie gesund"-Botschaften, wie man sie zu anderen Zeiten eher aus der Apothekenwerbung gewöhnt war. Um es mal ganz deutlich zu sagen: Wenn Priester und Bischöfe sich nicht einmal inmitten einer Pandemie dazu durchringen können, über die "letzten Dinge" zu predigen -- wann denn dann? Für den Christen ist der Tod schließlich nicht nur ein selbstverständlicher Bestandteil des Lebens, sondern sogar ein ganz zentraler - der Übergang zu einem anderen, einem ewigen Leben. Daraus folgt nicht automatisch, dass der Christ mehr oder weniger Angst vor dem Tod hat als der Nichtchrist - denn einerseits erwartet er, dass er nach dem Tod für sein Tun und Lassen auf Erden gerichtet wird, andererseits vertraut er auf die Liebe und Barmherzigkeit Gottes -; in jedem Fall aber ist der Tod für den Christen ein allzu bedeutendes Ereignis, als dass er sich nicht darauf sollte vorbereiten wollen. Und es ist eine gewichtige Aufgabe und Pflicht der Kirche, dem Menschen bei dieser Vorbereitung zu helfen

Aber ist das - um zum Ausgangspunkt dieses Artikels zurückzukehren - etwas, das man schon Kindern beibringen kann und sollte? -- Ich denke ja. Beispielsweise denke ich da an ein Buch, das meine Oma mir vor nunmehr über dreißig Jahren zu meiner Erstkommunion geschenkt hat und das noch heute einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal hat: "Fromme Geschichten für kleine Leute" von Josef Quadflieg (12. Auflage Düsseldorf 1977). Viele der 46 Geschichten in diesem Band sind als moralische Beispielerzählungen angelegt, in anderen geht es ganz konkret um die katholische Sakramentenlehre -- und in auffallend vielen geht es um den Tod. Gleich die erste Geschichte, "Gemeinschaft der Heiligen", die den Ausflug einer Schulklasse schildert, beginnt damit, dass die Schüler sich zum Beginn ihres Klassenausflugs am Grab eines ehemaligen Mitschülers versammeln. Der Lehrer erklärt:
"Wir sind seit seinem Tod schon oft an sein Grab gekommen, wenn wir dem Harald etwas sagen mußten, was wir auf dem Herzen hatten. Er gehört ja immer noch zu unserer Klasse, wenn er auch nicht mehr in unseren Bänken sitzt. Denn alle Christen, die Lebenden und die Toten, die im Fegefeuer und die im Himmel, sind eine große Familie, die man die Gemeinschaft der Heiligen nennt. Sie helfen einander und bitten füreinander. So hat Harald bei Gott für uns gebetet, als wir ihm vor drei Wochen erzählten, daß en Kind in unserer Klasse zum Dieb geworden war und ein Federmäppchen gestohlen hatte; und vorige Woche, als die Hannelore so schwer krank war. Alles, was wir dem Harald aus unserer Klasse erzählten, hat er dem lieben Gott weitererzählt." (S. 10)
Gegen Ende des Bandes folgt eine Geschichte, von der ich noch sehr wohl weiß, dass sie mich als Kind eher befremdet hat, die ich heute aber als eine der bewegendsten des Buches empfinde; sie trägt den Titel "Lebe täglich sterben". Darin geht es um einen Jungen, der während eines Familienurlaubs ertrinkt und in dessen Hosentasche man den Totengedenkzettel einer gewissen Frau Lindfart findet, der (auf Lateinisch) die Inschrift "Lerne täglich sterben; es ist die Kunst aller Künste!" trägt. Als die Eltern des verunglückten Knaben seinen Leichnam aus dem Leichenschauhaus abholen, sind sie verhältnismäßig gefasst. Angesichts des Totengedenkzettels erklärt der Vater:
"Die Frau Lindfart ist weder die Mutter noch die Großmutter des Kindes. Sie ist gar nicht mit uns verwandt. Der Junge hat den Zettel zufällig mal bekommen, als er in einer Totenmesse war. Es ging ihm nicht um den Zettel oder die tote Frau. Er hatte sich vielmehr den lateinischen Spruch von seinem Pastor übersetzen lassen. Seitdem hat er sich diesen Spruch als seinen Leitspruch überallhin mitgenommen. Er hat versucht, danach zu leben; so zu leben, daß Gott ihn täglich holen dürfte. Wir haben deshalb auch guten Mut und frohe Hoffnung, daß er wohl jetzt, wo wir diesen unglücklichen Ort verlassen, schon im Himmel ist." (S. 140f.) 

-- Sicherlich ist anzunehmen, dass Geschichten wie diese heutzutage eher nicht mehr in der Erstkommunion-Vorbereitung Verwendung finden. Aber was ich von den heutzutage gängigen Methoden der Kinderkatechese halte, dazu habe ich mich ja schon verschiedentlich geäußert. Und da ich folglich damit rechne, dass meine Liebste und ich die Erstkommunion-Katechese für unsere Kinder im Wesentlichen selbst werden übernehmen müssen, gedenke ich dabei sehr wohl auch Quadfliegs "Fromme Geschichten für kleine Leute" zum Einsatz zu bringen. 


Schließen möchte ich diesen Artikel mit dem Hinweis, dass der Vatikan anlässlich der Corona-Pandemie die Möglichkeiten zur Erlangung eines Allerseelen-Ablasses zugunsten Verstorbener erweitert hat: Einen solchen Ablass ist in diesem Jahr während des gesamten Monats November möglich, und wer aufgrund von Alter, Krankheit oder Ausgangsbeschränkungen infolge der Corona-Pandemie nicht in der Lage ist, einen Friedhof zu besuchen, kann die vorgeschriebenen Gebete für die Verstorbenen auch zu Hause verrichten. Näheres dazu siehe hier



Montag, 12. Oktober 2020

Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie diese Hausbesetzer

Bis vor einigen Jahren habe ich ganz in der Nähe der unlängst geräumten #Liebig34 gewohnt. An der gegenüberliegenden Straßenecke war (und ist wahrscheinlich immer noch) ein Bäcker, bei dem ich mir oft Frühstück für unterwegs gekauft habe. 

-- Unterwegs wohin? Eigentlich egal, Hauptsache raus aus meiner vollgemüllten Wohnung. 

Sic.

Daran musste ich denken, als die Bilder und Filmaufnahmen aus der geräumten Liebig34 in den Sozialen Netzwerken zirkulierten und zahlreiche Mediennutzer aus dem "wertkonservativ-wirtschaftsliberalen" Spektrum und angrenzenden Lagern kübelweise Häme und Verachtung über die auf die Straße gesetzten Hausbesetzer ausschütteten, die meinten, die Welt verbessern zu können und zu müssen, aber dem Anschein nach nicht mal in der Lage waren, ihr Bett zu machen und ihr Geschirr zu spülen. Ich mag da gar nicht näher ins Detail gehen, denn das Ausmaß an Bosheit, das sich da Bahn brach, ging mir wirklich an die Nieren. Nicht zuletzt auch deshalb, weil derartige Äußerungen zum Teil auch von Leuten kamen, die ich ansonsten schätze und mag -- darunter auch und gerade solche, die in ihrem Social-Media-Auftritt dezidiert Wert darauf legen, als gläubige Christen wahrgenommen zu werden. 

Okay, okay, ich weiß: Ich bin selbst jemand, der auf kaum etwas empfindlicher reagiert als auf Ermahnungen à la "Das ist jetzt aber nicht sehr christlich von dir". Zumal ich dabei oft den Eindruck habe, dahinter stehe eine Einstellung, die das Christsein auf eine banale, harmlose "Seid nett zueinander"-Moral reduziert. Ich sollte also besser sehr vorsichtig damit sein, selbst solche Töne anzuschlagen. Dennoch: Häme - verstanden als die Neigung, sich über etwas Schlechtes zu freuen, weil und insofern es Leute in ein schlechtes Licht rückt, die man ohnehin nicht leiden kann - ist für mein Empfinden einer der hässlichsten menschlichen Charakterzüge überhaupt, unabhängig davon, gegen wen diese Häme sich richtet. Und wenn Christen sich öffentlich und mit erkennbarer Lust in einer solchen Haltung suhlen, dann darf man, denke ich, schon der Meinung sein, dass das christliche Zeugnis dadurch verdunkelt wird. Und dass die betreffenden Christen vielleicht mal in Erwägung ziehen sollten, dass es in ihrer eigenen Seele womöglich noch viel unaufgeräumter aussieht als im Treppenhaus der Liebig34.

Soweit hat das nun erst einmal gar nichts mit dem Thema Hausbesetzung zu tun. Ich hätte im Wesentlichen dasselbe über Leute schreiben können, die sich darüber freuen, dass Donald Trump an COVID-19 erkrankt ist. Aber wer mich kennt, der weiß (auch wenn er sich vielleicht darüber wundert), dass Hausbesetzer mir dann doch um einige Grade näher am Herzen liegen als Donald Trump.  

Rigaer Ecke Liebigstraße (Foto von Juli 2016)

Aus diesem Grund habe ich anlässlich des großen öffentlichen Interesses an der Räumung der Liebig34 ein bisschen in meinem Blog-Archiv gekramt und dabei neben diesem, diesem und diesem Artikel auch ein unveröffentlichtes Fragment wiedergefunden, das ich vor über vier Jahren, im Sommer 2016, geschrieben bzw. zu schreiben begonnen hatte. Es ist wirklich sehr fragmentarisch, es bricht praktisch schon ab, bevor ersichtlich wird, worauf ich eigentlich hinaus will. (Kritische Leser mögen an dieser Stelle anmerken, es komme bei mir öfter vor, dass das bis zum Schluss nicht ersichtlich werde. Danke für die konstruktive Kritik, gerngeschehen, Ihr mich auch.) Der Punkt ist, kurze Zeit später ging ich auf den Jakobsweg und hatte folglich erst mal eine Menge andere Dinge im Kopf, und irgendwie bin ich danach nie mehr dazu gekommen, den Entwurf weiterzubearbeiten. 

Bis jetzt. 

Ich schrieb seinerzeit: 

Letzten Montag habe ich gegen Mittag einen kleinen Spaziergangs durchs Gefahrengebiet unternommen - durch die Rigaer Straße in Berlin-Friedrichshain, wo seit einigen Monaten der Konflikt zwischen Hausbesetzern und der Staatsgewalt eskaliert. Vorläufiger Höhepunkt dieser Eskalation war eine Demonstration am Abend des 9. Juli, aus der heraus bzw. in deren Umfeld es zu schweren Ausschreitungen kam - der offizielle Polizeibericht spricht davon, "dass es sich um die aggressivste und gewalttätigste Demonstration der zurückliegenden fünf Jahre in Berlin handelte". 

Solidaritätsparolen an der Rigaer 78: "Regierung schafft keine Ordnung, nur Unterordnung" (Foto von Juli 2016)  

Und weiter: 
Diese Ausschreitungen lagen erst eineinhalb Tage zurück, als ich dort entlangspazierte, aber ich war zu Recht davon ausgegangen, dass es am helllichten Mittag ungefährlich genug sein würde im "Gefahrengebiet". Eine große Expedition war es für mich auch nicht, denn ich wohne - bislang noch - nicht allzu weit von dort, wenn auch nicht in unmittelbarer Nachbarschaft. In dem einen oder anderen der besetzten oder ehemals besetzten Häuser der Rigaer Straße bin ich auch gelegentlich mal zu Gast gewesen - bei der veganen VoKü im Fischladen (Rigaer 83), im Filmrisz-Kino (Rigaer 103) und auch mal bei einem oder zwei Punkkonzerten in einem Keller; in welchem Haus genau das war, habe ich vergessen. Das ist alles schon ein paar Jahre her, aber ich denke durchaus mit Sympathie daran zurück. 
Bildet Banden! 

Okay, worauf wollte ich damals wohl hinaus? Ich weiß es nicht mehr ganz genau, kann es mir aber noch so ungefähr vorstellen. Nämlich dass es zwar ohne Frage eine Reihe von Dingen gibt, die man an der militanten linksautonomen Besetzer-Szene kritisieren kann und sogar muss (Einschub: Geärgert habe ich mich im Zusammenhang mit der Liebig34-Räumung über einen Artikel von Marie Frank im Neuen Deutschland, in dem so allerlei stand, was ich zustimmungsfähig fand, bis zu dem Satz "Nun lässt sich wahrlich darüber streiten, ob Brandanschläge auf Signalkabel der S-Bahn oder auf Autos sinnvolle Akte politischer Gegenwehr sind". Sorry, aber da bin ich raus. Genau das - nämlich dass sie das nicht sind - sollte nämlich gerade nicht strittig sein); aber was immer man diesen Leuten vorwerfen kann, enthebt "uns" - als Christen, meine ich - nicht von der Pflicht, sie als Menschen wahrzunehmen, und das heißt:  als geliebte Kinder Gottes, als unsere Nächsten, die wir lieben sollen wie uns selbst. Auch und gerade dann, wenn sie diese Liebe nicht erwidern und über ihre Gegner, wie zum Beispiel Polizeibeamte, in dehumanisierenden Ausdrücken ("Bullen", "Schweine") sprechen und denken. Sorry, liebe Mitchristen: "Wie du mir, so ich dir" und "Die haben's doch nicht besser verdient" gilt bei uns nicht. Keiner hat behauptet, dass das einfach wäre. 

Aber auch das ist noch nicht alles. Wie sich gegen Ende des zitierten Artikelfragments schon andeutet, hatte ich im Laufe meiner Studentenzeit und, in geringerem Maße, auch noch später – vermittelt durch Kommilitonen oder auch durch Gelegenheits-Bekanntschaften - vielfältige Kontakte zu Kreisen, in denen das Erbe der Hausbesetzerbewegung lebendig erhalten wurde: Ich war zu Gast in selbstverwalteten Häusern und in "Volxküchen", besuchte Partys und Konzerte in Bauruinen, auf innerstädtischen Brachflächen und auf Hinterhöfen abbruchreif wirkender Häuser. Ich fühlte mich unter Punks und Autonomen zumeist wohl und auch willkommen, wenngleich es zu einem gewissen Grad stets spürbar blieb, dass ich in dieser Szene letztlich doch nicht zu Hause, sondern eben nur zu Gast war. Diese Erfahrungen sind sicherlich ein Grund dafür, dass Äußerungen über die Besetzerszene für mich in einem anderen Maße und auf andere Weise emotional besetzt ist als für jemanden, für den das nur ein Thema "aus den Medien" ist. Noch deutlicher: Ich habe - nicht, soweit ich weiß, direkt unter den Liebig34-Besetzerinnen, aber in deren weiterem Umfeld - Freunde in dieser Szene; einige davon waren schon meine Freunde, bevor meine "Wiederbekehrung" zum katholischen Glauben manifest wurde; einige sind inzwischen infolge "weltanschaulicher Differenzen" nicht mehr meine Freunde, aber das war nicht meine Entscheidung und ändert nichts an dem, was ich an ihnen gemocht und geschätzt habe. Daher, liebe Freunde und Geschwister im Glauben: Wenn Ihr diese Leute beleidigt, beleidigt Ihr auch mich. Ich verlange nicht, dass Euch das großartig kümmert, aber Ihr sollt es zumindest wissen.

Darauf, was grundsätzlich von Hausbesetzungen zu halten ist und wie sich dies zu dem klaren Bekenntnis der katholischen Soziallehre zum Recht auf Privateigentum verhält, will ich hier nicht groß eingehen; ein paar Andeutungen dazu finden sich schon in einem oder zwei meiner weiter oben verlinkten älteren Blogartikel, aber gleichzeitig denke ich, das Thema verdient es, erheblich weiter  vertieft zu werden, als ich es hier und jetzt so ad hoc leisten kann. Ich denke, dieser Aufgabe werde ich mich widmen, wenn ich Fratelli Tutti - und dann nach Möglichkeit, von da aus sozusagen "rückwärts" vorgehend, auch die wichtigsten Sozialenzykliken früherer Päpste - gelesen haben werde. 

Vorausschicken will ich an dieser Stelle nur eines (womit ich auch nur wiederhole, was ich an anderer Stelle schon geschrieben habe): Im Grundsatz dürfte der Anspruch, sich einem Recht verpflichtet zu wissen, das höher steht als irdische Gesetze, einem Christen eigentlich nicht ganz fremd sein, bei allen unterschiedlichen Auffassungen darüber, worin dieses höhere Recht besteht und was es vom Einzelnen fordert. Auf Facebook attestierte eine befreundete Bloggerin der Hausbesetzerbewegung eine "Selbstgerechtigkeit, mit der man sich über das Gesetz stellt im Dienste inakzeptabler Ideologien". Dies allerdings könnte man, je nach eigenem Standpunkt, gläubigen Christen genausogut vorwerfen (und tut das zuweilen ja auch). Ein augenfälliger Unterschied ist, dass die Hausbesetzer konsequenter für das eintreten, woran sie glauben, und mehr Opfer dafür bringen, als "wir" das in aller Regel tun. Und das halte ich für einen Umstand, den "wir" mit Demut betrachten sollten. 



Sonntag, 13. September 2020

Auf dem Suppenspreader-Event

Es ist wahr, liebe Leser, ich bin immer noch nicht so ganz zurück aus der Blogpause und schulde Euch immer noch eine bereits mehrfach angekündigte Erklärung für mein langes Schweigen; aber an diesem Wochenende war Suppe & Mucke, und wie schon 2016, 2018 und 2019 möchte ich es auch in diesem krisengeschüttelten Jahr nicht versäumen, dieses Event mit einem Blogartikel zu würdigen, auch wenn dieser Artikel sich weitgehend in einer Bildergalerie erschöpfen wird.  

Das Festival "Suppe & Mucke" gibt es in Berlin seit 2009, und wie ich kürzlich erst nachrecherchiert habe, war ich nicht nur bereits bei der ersten Ausgabe dieses Events dabei, sondern bin seinerzeit sogar dort aufgetreten (auf der Kleinkunstbühne). Seither hat das Veranstaltungsformat mancherlei Veränderungen durchgemacht, aber die wesentlichen Bestandteile sind nach wie vor dieselben, nämlich zum Einen SUPPE und zum Anderen MUCKE. Heuer fand das Festival auf dem Gelände des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks Berlin (kurz RAW-Gelände) unweit des S-Bahnhofs Warschauer Straße statt - laut Tante Wiki "das größte zusammenhängende, permanent kulturell bespielte Gelände Deutschlands und die letzte noch nicht modernisierte Industriebrache innerhalb des S-Bahn-Rings in Berlin".






Unsere Anfahrt gestaltete sich indes nicht ganz unkompliziert. Da der S-Bahnhof Warschauer Straße nicht barrierefrei ist, wollten wir mit der Tram dorthin fahren, aber die Tramlinie war wegen Bauarbeiten unterbrochen; so gingen wir ein Stück zu Fuß, und das erwies sich insofern als Glücksfall, als wir dadurch an einer Baum-Demo vorbeikamen. 

Tatsächlich: Wenn man genau hinschaute, konnte man feststellen, dass die Bäume allesamt Namen hatten und persönlich gegen ihre drohende Abholzung protestierten. 




Schließlich kamen wir aber doch wohlbehalten am RAW-Gelände an; das Wetter war herrlich, die Stimmung gut, und: Es war noch Suppe da! 



Unsere Tochter war übrigens auch schon das dritte Mal dabei, allerdings zum ersten Mal fast die ganze Zeit auf ihren eigenen Beinen unterwegs. 


Was den Mucke-Aspekt des Festivals angeht, fand Suppe & Mucke bereits zum zweiten Mal in Folge in Kooperation mit dem Festival für selbstgebaute Musik statt. 




Und meine Liebste, die auf dem Gymnasium ungefähr ein halbes Jahr lang in einer Trommelgruppe mitgespielt hatte, bekam Gelegenheit, zu zeigen, was sie (noch) kann. 


Davon abgesehen habe ich an den diversen Infoständen allerlei interessante Flyer abgegriffen -- wobei es, nebenbei bemerkt, einen lustigen "Did you just assume my gender"-Moment gab, als ich nach einem Flyer griff, der für Tischlerei-Workshops für Frauen warb. "Das ist wohl eher nichts für dich", meinte die Frau am Infostand -- fügte aber sogleich (etwas kleinlaut, wie mir schien) hinzu: "Es sei denn natürlich, du definierst dich als Frau." (Ich erklärte daraufhin, ich wolle den Flyer nicht für mich mitnehmen, "aber vielleicht zum Weitergeben", und damit war dann alles gut.) 

Und sonst so? 


Heaven 17? Die gibt's noch? (Oder wieder?) 

Ähm -- DA wollten wir eigentlich NICHT hin. Aber vielleicht dieser Herr hier? 


Wie jetzt, kein Bier? Dann aber ohne mich! 

Zurück fuhren wir übrigens vom Ostkreuz aus; hier noch einige Impressionen vom Fußweg dorthin: 





Im Hintergrund übrigens die Zwinglikirche. Wenn ich mich nicht irre. 

Nach der ganzen Suppe machte sich übrigens durchaus ein gewisser Appetit auf feste Nahrung bemerkbar, aber es war vielleicht doch ganz gut, dass die Ketwurst-Bude schon zu hatte. Zu Hause gab's im Ofen überbackene Käsesandwiches. 


So, und nun signalisieren die drei mäßig freundlichen Herren links im Bild: Schluss mit lustig! 

Aber schön war's. Wieder mal. Bleibt zu hoffen, dass der Corona-Ausnahmezustand bald vorbei ist und dass es dann wieder mehr von solchen schönen Events geben wird; mehr noch: dass man dann auch mal wieder selbst etwas Schönes veranstalten kann. Und nicht zuletzt: dass es in Berlin auch in Zukunft noch solche (sub-)kulturellen Freiräume wie das RAW-Gelände geben wird...! 



Samstag, 5. September 2020

Das böse H-Wort

Freunde und aufmerksame Beobachter der im weitesten Sinne kirchlichen Medienlandschaft haben mich darauf hingewiesen, dass ich namentlich in einem aktuellen Beitrag der Eule, des Fachmagazins für postchristliche Zivilreligion, erwähnt werde; und zwar in der ersten Folge einer Reihe mit dem Titel "Die rechte Ecke", verfasst von Philipp Greifenstein. -- "Die rechte Ecke"? Nanu, wie komme ich denn da rein? Die Frage stellt sich umso mehr, als es in dem Beitrag primär um die von Klaus Kelle initiierte "5. Vollversammlung der wahren Schwarmintelligenz" geht; und wer mich ein bisschen kennt, wird wissen, dass mich von der nationalkonservativ-wirtschaftsliberalen Agenda des Kelle-Kreises Welten trennen (Näheres dazu z.B. hier und hier). Wie also kommt die Verbindung zustande? Schlichtweg dadurch, dass ich gelegentlich in der Tagespost publiziere und die Tagespost als einer von mehreren "Medienpartnern" der Schwarmintelligenz-Vollversammlung auftritt. Das ist auch schon alles. Dass der Greifenstein eine derart wacklige assoziative Brücke baut, nur um meinen Namen ins Spiel bringen zu können, kann man als Indiz dafür werten, dass ich - wie die Angloamerikaner sagen - mietfrei in seinem Kopf wohne, aber das passt insgesamt ganz gut zum verschwörungstheoretisierenden Duktus des Texts. Framing ist, wenn man aus den Brettern, die man vorm Kopf hat, einen Bilderrahmen baut; das ist ein Satz, der mir beim Lesen des Eule-Artikels in den Sinn kam, den man aber auch bei anderen Anlässen sicherlich noch wird gebrauchen können, und dafür sollte ich dem Greifenstein wahrscheinlich dankbar sein. 

Jetzt aber mal zur Sache: Was schreibt er denn nun über mich? Dies:
"Da passt es, dass Tagespost-Autor Tobias Klein das Internet-Magazin der Bischofskonferenz auf seinem Blog durchgängig als 'häretisch.de' diffamiert." 
Nun gut, dagegen ist nicht viel zu sagen, außer dass das Online-Portal, das hier gemeint ist, nicht "das Internet-Magazin der Bischofskonferenz" ist, auch wenn es gern so tut; zudem finde ich den Begriff diffamieren an dieser Stelle ein bisschen hart, aber jemandem, der selbst so gerne diffamiert, muss man es wohl durchgehen lassen, wenn er freigebig mit diesem Begriff umgeht. -- Übrigens ist es ein bemerkenswertes Phänomen des Internetzeitalters, dass man eine Formulierung nur oft und konsequent genug verwenden muss, um früher oder später als ihr Urheber zu gelten. So war es mit der Aussage "Jedesmal, wenn beim Vaterunser in der Messe der Embolismus weggelassen wird, stirbt irgendwo ein knopfäugiges Robbenbaby", und so ist es auch bei der Bezeichnung häretisch.de. In beiden Fällen glaube ich eigentlich nicht, dass ich das erfunden habe, aber alle Welt behauptet es; daher: Who am I to disagree. Wer mit "häretisch.de" gemeint ist, weiß inzwischen übrigens sogar schon Google

(Screenshot.) 

So. Jetzt haben wir alle mal kurz geschmunzelt, jetzt werden wir bitte wieder ernst. Ich weigere mich, "das umstrittene Portal der Firma APG" (P. Winnemöller) bei dem Namen zu nennen, den es sich anmaßt. Weil ich es empörend und in sträflichem Maße irreführend finde, dass eine Internetpräsenz, deren redaktionelle Linie darauf ausgerichtet ist, die Glaubens- und Sittenlehre der katholischen Kirche aktiv zu bekämpfen, sich "katholisch" nennt, ja sich sogar als das Sprachrohr der katholischen Kirche in Deutschland ausgibt.  

Wer sich auf Diskussionen über Glaubensfragen einlässt, sei es in den Sozialen Medien, bei Veranstaltungen kirchlicher Bildungsträger oder kirchennaher Verbände oder auch bei der von der Kolpingsfamilie ausgerichteten Kaffeetafel nach der Sonntagsmesse, der wird feststellen, dass es innerhalb der Kirche eine nicht geringe Zahl von Leuten gibt, die keinen Widerspruch darin sehen, sich selbst als gute Katholiken zu betrachten und gleichzeitig Ansichten über Gott, Jesus Christus, die Sakramente und allgemein über Gut und Böse zu vertreten, die der Lehre der Kirche dezidiert widersprechen. Im Allgemeinen wird man gut daran tun, diesen Leuten keine bösen Absichten zu unterstellen: Sie halten sich einfach nur an das, was sie in vermeintlich vertrauenswürdigen, weil amtskirchlich anerkannten Quellen lesen oder was sie in Veranstaltungen von Vereinen und Verbänden hören, die sich katholisch nennen; ja womöglich sogar an das, woran sie sich vom schulischen Religionsunterricht her erinnern; und es sagt ihnen schlichtweg keiner, was daran falsch ist. Wenn das doch mal einer wagt, werden seine Einwände mit Verweis auf das kleine Einmaleins des Relativismus abgeschmettert, demzufolge "wahr" und "falsch" subjektiv seien und jeder das Recht auf seine eigene Wahrheit habe; und wer dann immer noch darauf beharrt, das kirchliche Lehramt lege verbindlich fest, was Katholiken zu glauben haben, der wird ganz schnell als "ewiggestrig", als "vorkonziliar" oder "fundamentalistisch" abgestempelt, und in neuerer Zeit besonders gern als irgendwie "rechts". Kurz, im Kirchenvolk herrscht eine heillose Verwirrung darüber, was katholischer Glaube sei und was nicht; und häretisch.de ist ganz vorne mit dabei, diese Verwirrung zu fördern. Und dies dann eben doch mit voller Absicht, denn ohne diese Verwirrung wären solche fluchwürdigen Veranstaltungen wie der "Schismatische Weg", mit dem der aufgeblähte institutionelle Apparat der Kirche seine "gesellschaftliche Relevanz" zu retten versucht, gar nicht durchführbar. 

In diesem Sinne lässt sich auf häretisch.de das anwenden, was Max Goldt vor 20 Jahren über die BILD schrieb -- mit der Einschränkung, dass es sich bei diesem Online-Portal eben nicht um eine Zeitung handelt: 
"Diese Zeitung ist ein Organ der Niedertracht. Es ist falsch, sie zu lesen. Jemand, der zu dieser Zeitung beiträgt, ist gesellschaftlich absolut inakzeptabel. Es wäre verfehlt, zu einem ihrer Redakteure freundlich oder auch nur höflich zu sein. Man muß so unfreundlich zu ihnen sein, wie es das Gesetz gerade noch zuläßt. Es sind schlechte Menschen, die Falsches tun."
Übrigens kann ich wirklich nicht verstehen, warum die Bezeichnung "häretisch.de" solche Empörung auslöst. Tatsächlich habe ich mich schon manches Mal gefragt, ob dieser Spitzname nicht eigentlich viel zu schmeichelhaft für diese Internetpräsenz ist. Richtige Häretiker glauben zwar an etwas Falsches, aber daran glauben sie immerhin wirklich, und das verdient einen gewissen Respekt. Dagegen ist häretisch.de ein Organ des Relativismus, und der ist kein Irrglaube, sondern die Negation von Glauben schlechthin

Nebenbei bemerkt hat sich irgendwer, ich weiß nicht wer, tatsächlich den Domainnamen häretisch.de gesichert, trotz des für den internationalen Gebrauch eher unpraktischen Umlauts. Es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn sich herausstellte, dass das die Betreiber eben jenes Portals waren, das sich offiziell nicht so nennt -- um zu verhindern, dass jemand anders mit der Domain Schabernack treibt... 

Freitag, 4. September 2020

Der zivilreligiöse Optimismus des Herrn P. (Gastbeitrag)

Gestern früh sah ich auf Twitter, dass ein ungenannter deutscher Erzbischof einen Beitrag aus der berüchtigten Standpunkt-Rubrik von häretisch.de geteilt und zustimmend kommentiert hatte; das ist ja an sich schon beklagenswert genug, aber der betreffende Beitrag trug die Überschrift "Wir können optimistisch auf den Glauben in Deutschland blicken". Nanu, dachte ich, wer stellt denn derart bizarre Behauptungen auf? Dann öffnete ich den Link und stellte fest: Ach so. Andreas Püttmann. Na dann. Dessen Buch "Gesellschaft ohne Gott" steht bei mir im Regal, aber da meine "100-Bücher-Challenge" aus Gründen, auf die ich an anderer Stelle noch eingehen werde, derzeit ruht, wird dieses Buch wohl noch eine Weile darauf warten müssen, von mir gelesen zu werden. Ich hoffe nur, die hier angesprochene "Standpunkt"-Kolumne ist kein Indikator für die Qualität des Buches. Damit meine ich wohlgemerkt nicht nur, dass ich inhaltlich nicht mit Püttmanns Aussagen einverstanden bin - das trifft zwar zu, aber das allein wäre wohl kaum der Rede wert -, sondern vielmehr, dass ich beim Lesen dieses Beitrags den Eindruck hatte, es handle sich um völlig inkohärentes Gebrabbel, das zu veröffentlichen eigentlich einer Bloßstellung des Autors gleichkomme. 

Nun hat sich allerdings mein treuer Leser Imrahil die Mühe gemacht, Püttmanns Text einer gründlichen Analyse und Kritik zu unterziehen, und ich bin der Meinung, diese Replik verdient Aufmerksamkeit. Andere regelmäßige Leser dieses Blogs werden Imrahil als unermüdlichen, durchaus nicht immer mit mir einverstandenen Kommentarverfasser kennen, außerdem hat er hier schon einmal einen Gastbeitrag beigesteuert, was allerdings schon ein paar Jahre her ist. Also dann: Erteilen wir Imrahil das Wort! (Ach nein, eins noch: Die Überschrift stammt von mir -- falls sich jemand darüber beschweren möchte. Ebenso auch der folgende Bildtext:) 

Wer von diesen beiden hat wohl die besseren moralischen Werte?
Wer von diesen beiden hat wohl die besseren moralischen Werte? 
(Julius Schnorr von Carolsfeld, "Pharisäer und Zöllner", 1860; gemeinfrei

Und sodann noch der Hinweis, dass häretisch.de den Titel des Püttmann-Beitrags inzwischen zu "Warum man noch selbstbewusst Christ in Deutschland sein kann" geändert hat. Nicht dass das einen entscheidenden Unterschied macht, aber bezeichnend ist die Änderung irgendwie schon. -- So, nun aber genug der Vorrede; hier nun Imrahils Replik!


* * *


"Wir können optimistisch auf den Glauben in Deutschland blicken", lautet die Überschrift bei einem katholisch.de-Standpunkt von Andreas Püttmann. Wenn man sie so liest, langt man sich ja sicher ans Hirn, aber ist es mehr so die Art: "Was raucht der? Ich will das auch haben."

Tatsächlich bleibt aber von einem derartig erfreulichen Wahnsinn nichts übrig, wenn man ihn nur einmal durchgelesen hat. Warum also können wir optimistisch auf den Glauben in Deutschland blicken? Handelt es sich um die Zuversicht, daß Gott schon alles gut hinausführen wird? Handelt es sich um den geradezu tollkühnen Glaubensmut, mit dem etwa ein Kardinal Lustiger (von Kardinal Marx häufig zitiert) sagt, die Zukunft des Christentums in Europa stecke noch in den Kinderschuhen? Oder ist Püttmann nochmal wieder einer von denen, der zum hundertfünfundfünfzigstenmal prophezeit, es werde jetzt endlich ein Revival kommen und die Menschen werden wieder das Glauben und das religiöse Praktizieren lernen?

Nichts dergleichen. Der Grund für seine derart hoffnungsfrohe Überschrift ist der folgende: "In keinem anderen der acht beteiligten westeuropäischen Länder waren so viele Menschen überzeugt vom Zusammenhang zwischen religiösem Glauben und moralischen Werten wie in Deutschland: 37 Prozent, [...] sogar knapp vor Polen (36%)".

Das also ist es, was zu derart hoffnungsfrohem Optimismus Anlaß gibt: Bei der Frage – bitte genau lesen! - ob zwischen dem religiösen Glauben und moralischen Werten ein Zusammenhang bestehe (!), bei der ziehen wir an den Polen noch um einen Prozentpunkt vorbei. Wow.

Das impliziert zweierlei. Erstens, daß diese Frage nun die ultimativ wichtige wäre, an der sich die Geister schieden. Damit impliziert es aber auch zweitens einen gepflegten Selbstwiderspruch, denn wenn sie so wichtig wäre, dann wurden doch zunächst die 63 % (Polen 64 %) ins Auge fallen, die das nicht so sehen.

Vor allem aber: Es ist schon sehr bezeichnend. Was also ist laut Püttmann die alles entscheidende Frage? Ob der Antwortende der Meinung ist, insgesamt bestehe zwischen dem, daß einer glaubt, und dem, welche "moralische Werte" (entschuldigt den Ausdruck, aber er steht so da – ich hätte fast "wie einer handelt" verbessert) einer hat, ein Zusammenhang. (Ich wiederhole mich, aber ich kann es einfach nicht fassen.) Es geht also nicht darum, ob einer selber glaubt oder ob er findet, die anderen sollten es auch tun (wobei für mich ja das letztere aus dem ersteren folgt, aber das sind wohl die unhinterfragten Vorurteile des Logikers und/oder Fundamentalisten). Es geht nicht einmal darum, ob einer selber gut handeln will. Es geht darum, ob einer meint, daß Leute, wenn sie glauben, eher gut handeln wollen. (Formell steht nicht einmal das da, denn auch wenn die Gläubigen signifikant weniger moralische Werte hätten, wäre das technisch ein "Zusammenhang", aber das lasse sogar ich ihm durchgehen.) Es ist damit nicht einmal gesagt, ob er überhaupt das moralische Wertehaben so toll findet. (Bei Licht betrachtet könnte er ja auch von einer nietzscheanischen "Moral ist was für die vom Gamma-plus abwärts, ich stelle mich der Welt, wie sie, grausam und groß, wirklich ist"-Haltung sein.) Selbst wenn wir das annähmen, sagt er nicht, daß er selber auch nur irgendwie glaubt (er könnte ja auch von einer - Camus'schen? - Haltung à la "ja, ich sehe, daß die dumpfe Masse ihr Gutsein, soweit vorhanden, hauptsächlich aus dem Glauben zieht, soweit vorhanden, ich selber als aufgeklärter Atheist habe diesen Trost leider nicht, sondern muß mich moralisch ohne das durchschlagen und muß trotzdem gut sein" sein). Nö, nichts dergleichen.

Und weil die Minderheit in dieser Frage bei uns etwas größer ist als die Minderheit in anderen Ländern, sogar Polen, deshalb ist also alles super.

Schon sehr bezeichnend das alles, und so deutsch. "Die Reformation kam, weil die Deutschen nicht anders können als fromm sein", soll der hl. Klemens Maria Hofbauer gesagt haben. Die Moral ist den Deutschen eben ziemlich wichtig; nur so kann ich es mir jedenfalls erklären, daß Püttmann meint, wenn nur alle meinen wollten, zum "Werte haben" brauche man Religion, dann würden sie schon auch religiös werden. Wobei: es meinen ja gar nicht alle. 

Zumal er ja selber sagt – wobei: haken wir erstmal das ab:

Die Werte könnten höher sein, wäre die Frage vorsichtiger formuliert.

Wenn er mir jetzt noch verraten könnte, wie man bitte um alles in der Welt noch vorsichtiger als "besteht ein [der kundige Leser ergänzt: irgendwie gearteter] Zusammenhang?" formulieren kann, bekäme er einen Keks. Das ist technisch nicht möglich. Aber dann sagt er (Ende des Einschubs):

Dass Glaube an Gott "notwendig" für Moralität und "gute Werte" ist, kann man auch als Skeptiker gegenüber einer "Gesellschaft ohne Gott" bestreiten. Denn es gibt offenkundig moralisch hoch sensible Nichtgläubige und – Gott sei's geklagt – Fromme mit schlechtem Charakter oder menschenfeindlichen Ideen.

Völlig richtig, auch wenn auch schon wieder bezeichnend ist, erstens, daß er besonders gegen die Letzteren etwas hat und (das soll wohl besonders perfide sein) übrigens nur in diesem Zusammenhang auch das Wort "Fromme" gebraucht. Und obwohl schon sehr aufstößt, daß er unter den bösen Frommen offenkundig die dem anderen politischen Lager Angehörenden versteht, auch dann, wenn die sich z. B. den Kulturkampf, in dem sie sich befinden oder guten Gewissens zu befinden meinen und in dem man halt den Kandidaten des eigenen Lagers wählt und nicht den des gegnerischen, durchaus nicht unbedingt gewünscht haben. Aber ordnen wir diese Püttmannsche Themenabweichung mal richtig ein, d. h. übergehen wir sie bzw. gehen wir auch nur im Rahmen einer Themenabweichung auf sie ein. – Also: ja. Es gibt moralische Ungläubige (gerade dann übrigens, wenn wir nach dem Inhalt der Moral, den konkret zu haltenden Geboten, noch nicht gefragt haben), und zwar übrigens nicht nur "hoch sensible" (die mir zunächst einmal leid tun, vor allem wenn dann genau die ohne Beichte auskommen müssen), sondern auch ganz normale (die wohl die große Masse der Leute ausmachen, denen wir auf der Straße begegnen). Und auch wenn es nicht unbedingt zweckmäßig und ermunternd ist, die Gläubigen immerzu vor dem bösen Gläubigen zu warnen, der bisweilen sogar praktiziereifrig sein kann: geben kann es das und tut es das wohl auch.

Also: eben. Um moralisch zu sein, braucht es den Glauben nicht – das zumindest wäre die Schlußfolgerung des gerne simplifizierenden Lesers. Wenn er übrigens mal einen Gläubigen gefragt hätte, dann hätte der ihm auch gesagt, daß wir die Religion zunächst brauchen, um unsere Sünden loszuwerden, nicht um sie nicht zu begehen. Gerade ein Protestant übrigens, d. h. einer, der noch weiß, was sein Protestantismus heißt, hätte das gesagt. Und erst dann hätte der Katholik (wenn er korrekt und vollständig sein will nicht allzu genervt von seiner eigenen moralischen Aufgabe ist, deswegen nicht an sie erinnert werden will und deshalb hier ungenau ist) angefügt, daß, naja, der Glaube, die Hoffnung aufs Jenseits, die Angst vor Hölle und Fegefeuer, die dankbare Liebe zu Gott dem Vater und Jesus Christus und vor allem die helfende Gnade schon dabei behilflich sind, auch gut zu handeln. D. h. ihm geht es ja ums "Werte haben", d. h. die richtige moralische Einstellung haben, und die, wenn auch noch nicht das Handeln danach, bringt das katholische Dogma ja tatsächlich mehr oder weniger frei Haus mit. Ob Püttmann diese Werte dann für Werte oder nicht doch vielmehr in politisch umstrittenen Einzelfällen für Un-Werte hält, sei einmal dahingestellt.

Aber jedenfalls ist das sekundär: und ich könnte mir vorstellen, daß der Unterschied hier ebenso wie die, denke ich, statistische Erkenntnis, daß im großen und ganzen die Gläubigen tatsächlich in Summe besser auch handeln, im Eifer des Gefechts auch vom Interview-Antwortgeber unterschlagen werden könnte. Daß also ein Pole sagt: "Natürlich kann man auch als Ungläubiger moralisch sein" (was stimmt – daß es keinen Zusammenhang gäbe, stimmt nicht, aber wie genau beantworten Leute ihre Interviews?), "aber ich glaube trotzdem, weil es halt wahr ist". Der fiele dann in das Nein hinein.

Und deswegen, weil das Ja bei uns deutschen Moralisierern größer ist als bei anderen, sogar einen Prozentpunkt mehr als bei Polen – daß eine sekundäre Aussage des katholischen Glaubens, der auch ein Ungläubiger aus allerlei Gründen beistimmen kann, ein Protestant aber nicht und die ein Katholik gerne auch einmal vergißt, bei uns etwas mehr Zustimmung hat als anderswo, aber immer noch nicht die Mehrheit hat – deswegen steht bei uns alles zum besten? Wow.,

– Haken wir der Vollständigkeit halber noch kurz den Rest des Artikels ab.

Korrekter hätte man gefragt: "Unterstützt Glaube an Gott moralisches Denken und Handeln?"

Korrekter, ja, das stimmt sogar. Aber die Frage wäre nicht vorsichtiger, sondern noch einschränkender als die, die tatsächlich gestellt wurde.

Hierfür gibt es empirische Anhaltspunkte aus Umfragen zu Rechtsbewusstsein, Lebensschutz, Leistungs- und Hilfsbereitschaft, politischer Mäßigung und anderen sozialen Tugenden.

Lebensschutz und politische Mäßigung in einem Satz. Wow. Wobei ich mich ja frage, was er denn nun genau mit Lebensschutz meint und wie das mit seiner Kritik an den Hetzern in Washington und Warschau zusammenpaßt.

Die Aussage, dass Gott wichtig im eigenen Leben sei, bejaht in Deutschland gegenüber 1991 stabil (+3%) etwa die Hälfte der Bevölkerung – gegen den Trend (Spanien: -26%, Italien -21%, Polen -14%, Frankreich -12%).

Und hier kommt nun das, was, wenn überhaupt, tatsächlich zu einem sehr gemäßigten Optimismus Anlaß gäbe – aber das ist ihm nur einen Satz wert, den Artikel hingegen baut er auf der (übrigens noch geringeren) Zustimmung zu der Aussage auf, daß es zwischen Glauben und moralischen Werten einen Zusammenhang gebe. Ich wiederhole mich. Ich kann es immer noch nicht fassen.

Es kann also nicht alles an unseren Kirchen und am deutschen Religionsverfassungsrecht so verkehrt sein, wie es von interessierter Seite gern gezeichnet wird. Unter ähnlichen kulturellen Bedingungen sieht es woanders teils erheblich düsterer aus. Die in konservativen Kirchenkreisen lange als vorbildlich gepriesene stärkere Religiosität manch anderen Landes zeigt sich angesichts des Säkularisierungsdrucks und der Anbrandung von Ideologien und Idiotien weniger fundiert und orientierungsstark als gedacht. 

Es erscheint zunächst recht unvermittelt, wie er hier ganz ohne Anlaß auf das Religionsverfassungsrecht zu sprechen kommt. Aber es gibt dafür wohl einen ganz bestimmten, bezeichnenden Grund; die Erwähnung der "Ideologien" zwei Sätze weiter läßt darauf schließen (unter "Ideologie" verstehen manche nämlich einfach, daß Leute von ihrer Meinung tatsächlich auch überzeugt sind; und tatsächlich würde ich, aber das würde zu weit führen, sagen, daß man den Begriff "Ideologie" auch tatsächlich nicht nur im despektierlich-amerikanischen Sinne gebrauchen sollte). Da ergibt sich dann nämlich auf einmal ein Sinn; auch wenn er mir nicht gefällt. "Die deutschen Kirchen und ihr System haben sich doch besser als erwartet darin bewährt, das radioaktive Gefahrengut Religiosität einzudämmen, aber ein bißchen moralische Energie daraus zu gewinnen für das, worum es uns eigentlich geht: das Funktionieren von Staat und Gesellschaft." 

Wow.

Es ist schon sehr bezeichnend.