In einem Blogartikel aus dem Jahr 2015 machte der christliche Autor und Psychologieprofessor Richard Beck sich Gedanken über sogenannte "Dritte Räume" – worunter man Lokalitäten versteht, die dazu dienen, informelle, ungezwungene und zufällige soziale Kontakte zwischen Menschen zu ermöglichen, die ansonsten wenig miteinander zu tun haben. Beck beobachtete, dass Kirchengemeinden, wenn sie sich bemühen, solche "Dritten Räume" zu schaffen – etwa um einen "niederschwelligen" Erstkontakt zu religiös eher wenig interessierten Menschen zu ermöglichen –, zumeist auf die Idee verfallen, ein Café zu eröffnen. Der Haken an der Sache, so Beck, ist, dass ein Café nur eine ganz bestimmte Zielgruppe anlockt und somit zur Milieuverengung beiträgt. Ganz andere Ergebnisse würde man seiner Einschätzung nach erzielen, wenn man statt eines Cafés etwa einen Waschsalon eröffnete.
Symbolbild, Quelle: Pixabay |
Seit ich das gelesen habe, lässt mich diese Idee nicht mehr los; zum Teil auch deshalb, weil es in der Küche des Gemeindehauses meiner Wohnortpfarrei eine Waschmaschine gibt, von der ich bis heute nicht herausgefunden habe, wann, wozu und von wem die eigentlich jemals benutzt wird. Würde man zusätzlich noch einen Trockner anschaffen, dachte ich, dann könnten Gemeindemitglieder oder auch einfach Leute aus der Nachbarschaft dort ihre Wäsche waschen und sie trocken wieder mit nach Hause nehmen, und während der Wartezeit könnte man ihnen einen Kaffee anbieten und sich mit ihnen unterhalten. Schon hätte man mit minimalem Aufwand einen "Dritten Raum" geschaffen, der sowohl geeignet wäre, das Gemeinschaftsgefühl unter den Pfarreimitgliedern zu stärken, als auch dazu, die Gemeinde für Außenstehende zu öffnen. Ehrlich gesagt ist die Waschmaschine für dieses Konzept mehr oder weniger nebensächlich: Der Aufhänger, mit dem man Leute dazu bringt, überhaupt erst mal reinzukommen, könnte auch ein anderer sein. Nur der Kaffee wird es wohl eher nicht sein, denn den bekommen die Leute woanders besser.
Ganz allgemein macht das Konzept sogenannter "Dritter Räume" jedenfalls deutlich, dass zwischen dem Anliegen, ein intensives Gemeinschaftsleben zu kultivieren, und demjenigen, Außenstehenden einen niederschwelligen Zugang zu dieser Gemeinschaft zu ermöglichen, nicht notwendigerweise ein Widerspruch besteht, sondern dass beides sich sogar gegenseitig stärken und befruchten kann. Gerade im kirchlichen Bereich wird letzteres ja vielfach bestritten. In der innerkirchlichen Debatte wird gegen Konzepte, die darauf drängen, die Kirche müsse sich wieder stärker auf ihr Wesen als Glaubensgemeinschaft besinnen – mit Betonung auf beiden Wortbestandteilen, Glaube und Gemeinschaft; Gemeinschaft im Glauben, Gemeinschaft durch den Glauben –, geradezu reflexartig der Vorwurf erhoben, dies laufe auf eine "Wagenburgmentalität", einen Rückzug ins "Ghetto", ja auf eine sektenhafte Abschottung von der Welt hinaus. So attestierte etwa die katholische Sozialethikerin Ursula Nothelle-Wildfeuer den Initiatoren des "Mission Manifest" eine Tendenz zur "Versektung der Kirche".
Solche Vorwürfe wiegen umso schwerer, als heutzutage und hierzulande vermutlich die meisten Menschen mit dem Begriff "Sekte" spontan Vorstellungen von Psychoterror und Gehirnwäsche, von finanzieller Ausbeutung und emotionalem Missbrauch assoziieren. Befragt man hingegen beispielsweise die religionssoziologischen Schriften Max Webers oder auch Ernst Troeltschs, stellt man fest, dass der Begriff "Sekte" dort in einem durchaus nicht unbedingt abwertend gemeinten Sinne verwendet wird. Vielmehr beschreibt dieser Begriff dort eine bestimmte Sozialgestalt von Religionsgemeinschaften, die sich durch starke religiöse Überzeugung und starkes persönliches Engagement ihrer Mitglieder auszeichnet. Weber entwickelte seinen Sektenbegriff anhand bestimmter evangelikaler und/oder wiedertäuferischer Denominationen in den USA, für die im heutigen Sprachgebrauch eher die Bezeichnung "Freikirchen" üblich ist, in Abgrenzung zu der Volks- und Landeskirchenstruktur, wie Weber sie aus Deutschland kannte. Für die Volkskirche ist es nach Weber charakteristisch, dass die Mitgliedschaft in ihr gewissermaßen den gesellschaftlichen Normalfall darstellt und somit keine zwingenden Rückschlüsse auf die Glaubensüberzeugungen des einzelnen Mitglieds, geschweige denn auf das Maß seines Engagements in der Kirche und für die Kirche zulässt. Aus heutiger Sicht lässt sich feststellen, dass die gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen, von denen dieses Volkskirchenmodell gelebt hat, schlichtweg nicht mehr vorhanden sind, während die institutionellen Strukturen der Großkirchen aber weiterhin auf dieses Modell ausgerichtet sind. Einerseits sind sowohl die katholische Kirche als auch die in der EKD zusammengeschlossenen evangelischen Landeskirchen für den Erhalt ihrer institutionellen Stabilität auf die große Zahl mehr oder weniger distanzierter Mitglieder angewiesen, andererseits wird das Gemeindeleben vor Ort praktisch ausschließlich von kleinen Gruppen sogenannter "Hoch-Engagierter" getragen. Infolge dieses Missverhältnisses tendiert die ehemalige Volkskirche zu einem Selbstverständnis als Dienstleistungskirche. Im Gegensatz zu den Thesen eines Erik Flügge wird der Großteil der Ressourcen einer durchschnittlichen Ortsgemeinde nicht etwa für die Belange der von Flügge als "heiliger Rest" belächelten Minderheit der "Hoch-Engagierten" verwendet, sondern zur Befriedigung der Anspruchshaltung der distanzierten Mitglieder, die die Sakramente der Kirche lediglich anlassbezogen – seien diese Anlässe saisonal wie Ostern und Weihnachten oder lebensabschnittsbezogen wie Taufe, Erstkommunion, Firmung bzw. Konfirmation, Hochzeit und Beerdigung – als Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Ermöglicht wird dies nicht zuletzt durch das ehrenamtliche Engagement einiger weniger Gemeindemitglieder: Meiner persönlichen Erfahrung zufolge lassen sich maximal 10% der regelmäßigen Kirchgänger, und mithin weniger als 1% aller Gemeindemitglieder, für ehrenamtliche Dienste in ihrer Pfarrei gewinnen. Solange dies als Normalität akzeptiert wird, betreiben die lokalen Kirchengemeinden einen ruinösen Raubbau an einer für sie lebenswichtigen Ressource.
Eine Kultur, in der es als Normalität gilt, dass jedes Gemeindemitglied – entsprechend seiner jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten, versteht sich – einen Dienst in der Gemeinde und für die Gemeinde übernimmt, findet sich dagegen eher in den Freikirchen, die ein Max Weber oder ein Ernst Troeltsch als "Sekten" bezeichnet haben würden. Im Grunde ist das auch nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass es – wie wir bereits gehört haben – geradezu ein definitorisches Merkmal dieser Gemeindeform ist, dass sie (zumindest dem theoretischen Anspruch nach) nahezu gänzlich aus hoch-engagierten Mitgliedern besteht. Man könnte auf die Idee kommen, in dieser Hinsicht würde ein gewisses Maß an "Versektung" der Kirche nicht nur gut tun, sondern sei für die Gemeinden vor Ort unter den gewandelten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geradezu überlebensnotwendig. Aber wie erreicht man einen solchen Mentalitätswechsel?
Klar ist: Eine Kirche, die sich als Anbieterin von Dienstleistungen versteht und verhält, wird es naturgemäß schwer haben, ihre Mitglieder dazu zu motivieren, etwas anderes sein zu wollen als Konsumenten, also Kunden. Seine Freizeit, seine Kraft, Kreativität und womöglich sogar (über den automatischen Kirchensteuereinzug und das Kollektenkörbchen hinaus) sein Geld für die örtliche Kirchengemeinde einzusetzen, erfordert ein hohes Maß an Motivation; und diese Motivation kann letztlich und auf Dauer nicht allein in dem Bewusstsein ruhen, eine altehrwürdige Institution am Leben zu erhalten. Vielmehr muss sie sich aus dem Glauben speisen, den zu leben und zu verkünden der Kirche aufgetragen ist. Weiter oben war schon die Rede davon: Der Auftrag der lokalen Kirchengemeinden ist es, Glauben in Gemeinschaft und Gemeinschaft durch den Glauben zu ermöglichen. Letztlich hat die Kirche überhaupt nur eine Existenzberechtigung, wenn sie sich in diesem Sinne als Glaubensgemeinschaft begreift.
Was hat all dies nun aber mit den eingangs angesprochenen "Dritten Räumen" zu tun? Nun, es dürfte auf der Hand liegen, dass ein von einer Kirchengemeinde betriebener "Dritter Raum" – sei es nun ein Café, ein Waschsalon, eine Tauschbibliothek, eine Krabbelgruppe oder eine Fahrradwerkstatt – sich ideal als Schnittstelle zwischen Gemeinde und Nachbarschaft eignet. Strittig scheint es hingegen zu sein, in welchem Maße die Gemeinde sich in solchen Räumen auch gegenüber Nichtmitgliedern als Glaubensgemeinschaft präsentieren sollte. Mir persönlich drängt sich da allerdings die Frage auf: Ja, was denn sonst? Wenn man das nicht will, wozu macht man das Ganze dann? Gewiss, eine mögliche Antwort darauf könnte lauten: Wir zeigen den Leuten, dass die Institution Kirche einen Beitrag zum sozialen Leben im Viertel leistet und es deshalb wert ist, unterstützt zu werden. Sicherlich kann das ein erster Schritt sein, um Berührungsängste und Vorurteile gegenüber der Kirche abzubauen. Wenn man es dabei aber bewenden lässt und nicht auch den nächsten Schritt tut, ein Zeugnis für den Glauben abzulegen, der im Zentrum allen kirchlichen Engagements steht oder jedenfalls stehen sollte, dann enthält man den Leuten das Wertvollste vor, was die Kirche zu bieten hat: Jesus Christus selbst. Die erstaunlich verbreitete Annahme, mit einem allzu entschiedenen Glaubensbekenntnis würde man die "Suchenden" bloß verschrecken, wird übrigens durch den Zulauf, den gerade die von Weber und Troeltsch als "Sekten" klassifizierten Glaubensgemeinschaften haben, tagtäglich Lügen gestraft. Wie der Hl. Augustinus es ausgedrückt hat: "In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst."
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