Hallo.
Ich dachte mir, ich versuch's mal mit 'nem induktiven Einstieg.
Nehmen wir mal an, jemand springt aus Protest gegen die Schwerkraft aus dem zehnten Stock. Da kann er auf dem Weg nach unten noch so sehr gegen die Schwerkraft protestieren, am Ende schlägt er doch am Boden auf.
Was sagt uns das? - Zunächst einmal, dass es gewisse Realitäten gibt, die man - ob man sie nun gut findet oder nicht - einfach mal als Realitäten anerkennen und sich entsprechend verhalten sollte. Die Frage ist, was für Realitäten es im Einzelnen sind, für die dies ebenso unbedingt gilt wie etwa für die Schwerkraft.
Ein zuweilen dem Hl. Franz von Assisi oder auch dem Hl. Ignatius von Loyola zugeschriebenes, tatsächlich aber wohl von dem US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr stammendes Gebet, das mich von jeher stark berührt hat, lautet: "Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden". Man kann heute vielfach den Eindruck gewinnen, dass es mit der Weisheit der Unterscheidung in unserer Gesellschaft nicht sehr weit her ist. Die Einen wollen ständig Dinge ändern, die schlechthin unveränderlich sind; die Anderen erklären beharrlich Dinge für unveränderlich, die man durchaus ändern könnte, wenn man denn wollte.
Dass die Ersteren im Wesentlichen dem linken Spektrum angehören, überrascht nicht sonderlich; eher schon, dass die Letzteren vielfach dem liberalen Spektrum zuzuordnen sind. Man könnte sich fragen, was es denn bitte mit Freiheit zu tun haben soll, wenn einem immerzu gepredigt wird, die Welt-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sei nun mal, wie sie ist, und als solche "alternativlos". Wenn man ein Weilchen darüber nachdenkt, kann man zu dem Schluss kommen, dass die Liberalen - zumindest jene, für die die Freiheit, die sie meinen in erster Linie die des Marktes (und nicht etwa die des Menschen) ist - tatsächlich die größten Deterministen sind, die es gibt. Fortschritt lässt sich nicht aufhalten; der Eigendynamik der wirtschaftlichen Entwicklung darf man nicht in die Speichen greifen; die Marktwirtschaft in ihrem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf. Man könnte die Liberalen nun fragen: Wenn sowieso alles nach inneren Gesetzmäßigkeiten abläuft, die als solche unveränderlich sind - wofür braucht man euch dann noch? - Aber ich schweife ab.
Zu den Dingen, die nach Auffassung vieler im beschriebenen Sinne liberal gesinnten Menschen ebenso wenig auszurichten ist wie gegen die Schwerkraft, gehört zum Beispiel die Gentrifizierung. Schon mehrfach, sowohl in persönlichen Gesprächen als auch in online-Diskussionen, sind mir Äußerungen des Inhalts begegnet, dieses ganze Gerede über Gentrifizierung sei völliger Quatsch, es sei schließlich ganz normal, dass die Mieten in Innenstadtbezirken steigen und dadurch einkommensschwache Mieter früher oder später durch Besserverdienende verdrängt werden. Dazu ist zunächst dreierlei anzumerken:
- Das durch den Begriff Gentrifizierung beschriebene Phänomen ist durchaus komplexer als ein bloßes Steigen von Mieten.
- Dass es sich bei der Gentrifizierung um einen Prozess handelt, der sich gemäß einer inneren Gesetzmäßigkeit durchaus folgerichtig vollzieht, bestreitet ja gar niemand - abgesehen vielleicht von einigen Ureinwohnern von Berlin-Prenzlauer Berg, die die Gentrifizierung für eine Verschwörung halten, für die sie pauschal "die Schwaben" verantwortlich machen.
- Dass dieses Phänomen unter bestimmten gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen quasi "naturgemäß" auftritt, heißt nicht zwangsläufig, dass man es gut und richtig finden muss.
Aus der Distanz betrachtet hat es ja durchaus etwas Faszinierendes, wie schlechte und darum billige Wohngegenden sich über einen Zeitraum von ein paar Jahren oder Jahrzehnten erst in subkulturell-alternative Szenebezirke und dann in ebenso teure wie öde Spießbürgersiedlungen verwandeln. Schaut man etwas näher hin, dann sind die dahinter stehenden Mechanismen gar nicht so schwer zu verstehen, und man kann feststellen, dass ganz ähnliche Prozesse auch in allerlei anderen Bereichen unserer Gesellschaft ablaufen. So zum Beispiel nicht nur auf dem Immobilien-, sondern auch auf dem Getränkemarkt.
(Das erinnert mich übrigens daran, wie ich mal in Karlsruhe in einem völlig überfüllten Supermarkt war und eine Durchsage hörte, in der es in schönstem Badisch hieß: "Frau Soundso bitte zum Gedrängemarkt!" Ach so, dachte ich, deshalb ist es hier so voll.)
Zur Sache: Die Gentrifizierung von Getränken lässt sich geradezu idealtypisch an der Geschichte der Marke Bionade darstellen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wann und wo ich meiner erste Bionade trank. Diese Limo galt damals in den Kreisen, in denen ich mich bevorzugt bewegte, als das "alternative" Getränk schlechthin. Nicht zuletzt auch als alkoholfreie Alternative zu Bier. Denn was tut der passionierte Biertrinker, wenn er mal einen Abend nüchtern bleiben will oder muss? Alkoholfreies Bier ist ja für Viele ein unbefriedigender Kompromiss, außerdem schmeckt es meistens nicht; Wasser macht auf die Dauer einfach keinen Spaß; und die meisten Softdrinks sind der an Herbes gewöhnten Zunge des Biertrinkers schlicht zu süß. Nicht so Bionade. Was aber vermutlich noch wichtiger war als der Geschmack, war der Umstand, dass Bionade das Produkt einer kleinen, ländlichen Brauerei war, ausschließlich aus natürlichen Zutaten bestand und durch biologische Fermentierung hergestellt wurde. Ein moralisch sauberes Produkt, wo gab's sowas schon? Dass das auf dem Kronkorken abgebildete Logo - das eigentlich ein weißes O auf blauem Grund mit rot ausgefülltem Loch in der Mitte darstellen sollte - aussah wie die Kokarde der Royal Air Force, entzückte zudem die Mods und Indie-Popper. Kurz, Bionade war das perfekte Getränk für den urbanen Rebellen der späten 90er und frühen 2000er. Auch die Werbung war darauf ausgerichtet, das Produkt als nonkonformistisch, jung und "alternativ" zu positionieren. Irgendwann gab es dann eine Plakatkampagne, in der Bionade sich als "das offizielle Getränk einer besseren Welt" bezeichnete. Das war allerdings leider auch schon der Anfang vom Ende.
Bionade war einfach zu bekannt und zu populär geworden, um noch "Underground" sein zu können. Plötzlich sah man auch Leute, die man doof fand, Bionade trinken. Zugleich wurde sie teurer. Ab 2005 übernahm Coca Cola den Vertrieb von Bionade. Damit war die Marke für die subkulturellen Kreise, denen sie ihren Aufsteig verdankt, moralisch so gut wie tot: Sie hatte einen Pakt mit dem Satan geschlossen. (Wie tief der Schock über diesen Verrat sitzt, ist auch daran abzulesen, dass sich bis heute das falsche Gerücht hält, die Marke selbst sei an Coca Cola verkauft worden. Tatsächlich gab es zwar wiederholt Übernahmeangebote, diese wurden jedoch abgelehnt. Seit 2012 gehört Bionade allerdings zu Dr. Oetker, was auch nicht unbedingt besser ist.)
Meiner persönlichen Erinnerung zufolge schlug in dem Moment, in dem Bionade sich ans Establishment verkaufte, die große Stunde von Club Mate - bis dahin eher ein Nischenprodukt vor allem für Informatiker und andere Nerds, die es vermutlich vor allem tranken, um die ganze Nacht wach bleiben und an ihren Computern 'rumfrickeln zu können: Club Mate enthält erheblich mehr Koffein als Kaffee, und obendrein verbrennt man sich nicht den Mund daran. Den urbanen Rebellen war der Koffein-Kick der Mate natürlich ebenfalls recht, wenngleich aus anderen Gründen; nach der Enttäuschung über den Verrat der Bionade wurde der Club-Mate sogar ihr uncooles Design - grobschlächtige 0,5l-Glasflaschen mit beim Öffnen knirschendem Schraubverschluss; viel zu viel Text auf dem Etikett und ein Logo, das vielleicht vor 30, 40 Jahren trendy gewesen wäre - zum Vorteil angerechnet, und dass das Zeug schmeckte wie abgestandene kalorienarme Fassbrause, störte irgendwie auch niemanden.
Als dann aber neben der althergebrachten Halbliterflasche die schlankere, elegantere 0,33l-Variante mit Kronkorken auf den Markt kam (vorzugsweise für den Verkauf in Kneipen und Clubs zu erheblich höheren Preisen als im Einzelhandel), als 2007 erstmals eine Winter-Edition mit Gewürzen herausgebracht wurde, 2009 dann eine Eisteevariante mit dem prolligen Namen " ICE-Tea-Kraftstoff" und schließlich auch noch eine Club-Mate-Cola, da war das schon wieder der Anfang vom Ende. Club Mate war zum Trendgetränk geworden - das hatten wir nicht gewollt!
-- Ein todsicheres Signal dafür, dass ein Getränk aufhört, alternativ zu sein, ist es, wenn Alternativen zu ihm auftauchen. Das erschließt sich ohne nähere Erläuterung. Auf dem Höhepunkt des Bionade-Erfolgs schossen plötzlich ähnliche Getränke mit Markennamen wie Bios, Beo und Aloha wie Pilze aus dem Boden und wurden einem gerade in subkulturellen Kneipen gern angeboten "("Probier' mal. Ist so ähnlich wie Bionade, aber authentischer."). Dasselbe Phänomen ist nun auch bei Club Mate zu beobachten: Einige Treffpunkte der urbanen Rebellenszene haben das ehemalige Kultgetränk bereits aus dem Sortiment verbannt und durch Mio Mio Mate ersetzt. Die ist noch weitgehend unbekannt, im Einkauf billiger, im Design noch unbeholfener als der Marktführer - und, nicht der unbedeutendste Vorteil: sie schmeckt sogar. Mal sehen, wie lange es dauert, bis auch diese Marke gentrifiziert wird. --
Die Beobachtung, dass Erzeugnisse von Subkulturen nahezu zwangsläufig irgendwann Mainstream werden, deutet übrigens auf ein grundlegendes Paradoxon der bürgerlichen Gesellschaft hin: Der Outsider, der Nonkonformist, der Künstler und Rebell ist für den Normalbürger ein Idol. Das hat vermutlich damit zu tun, dass viele "Besserverdiener" es nur zu Wohlstand und gesellschaftlichem Renommé gebracht haben, weil sie damit zu kompensieren versuchten, dass die coolen Kids in ihrer Schule sie früher nie haben mitspielen lassen. Das Dilemma: So sehr der Spießer versucht, verächtlich auf jene herabzulächeln, die früher cooler waren als er, es im Gegensatz zu ihm aber nicht zu einer Eigentumswohnung, einem Auto, einer Frau, einem Zweitwagen, einer Privatschule für ihre Kinder und vier Urlaubsreisen im Jahr gebracht haben -: im Grunde wäre er immer noch gern so cool wie sie. Aber natürlich ohne auf die Annehmlichkeiten seiner bürgerlichen Existenz zu verzichten. Darum trägt auch der Spießer in seiner Freizeit gern Chucks oder Sneakers und karierte Hosen, hört - je nach Temperament und Sozialisation - Heavy Metal, Punk, HipHop oder Dubstep, wählt die Grünen oder neuerdings die Piraten, kauft im Bio-Supermarkt ein -- und trinkt Bionade.
Ärgerlich ist allerdings, dass der Spießer die Eigenschaft eines negativen König Midas besitzt: Alles, was er in die Hand nimmt, wird spießig. Die Avantgarde wendet sich daher mit Schaudern von dem ab, was der Mainstream sich zu eigen gemacht hat, und sucht sich etwas Neues. Was auch nur so lange gut geht, wie es vom Mainstream unbemerkt bleibt. Indem der Mainstream stets mehr oder weniger dicht auf den Fersen der urban-rebellischen Subkultur bleibt, werden die Nonkonformisten ironischerweise zu den Pionieren der bürgerlichen Gesellschaft, von der sie sich eigentlich abgrenzen wollen. Das ist so ähnlich wie im Wilden Westen, wo die Pioniere ja vielfach auch auf der Flucht vor der Zivilisation waren, gerade durch diese Fluchtbewegung jedoch die ihnen selbst anhaftende Zivilisation in die Wildnis hineintrugen und damit der nachdrängenden bürgerlichen Gesellschaft nolens volens den Weg ebneten. Lederstrumpf könnte ein Lied davon singen.
Bevor ich zum Schluss komme, noch eine ironiefreie Differenzierung. Die Getränke-Gentrifizierung unterscheidet sich natürlich in einigen Punkten wesentlich von derjenigen des Wohnraums. Vor allem wohl darin, dass den urbanen Rebellen im Grunde nichts daran hindern würde, weiterhin Bionade oder Club Mate zu trinken, nur weil es jetzt auch die Spießer tun: er will es bloß nicht mehr. Verdrängt wird er aus dem Kundenkreis dieser Getränkemarken nicht, er zieht sich freiwillig zurück. Eine solche Verdrängung wäre wohl auch nur über den Preis möglich, und ich werde es wohl nicht mehr erleben, dass eine Flasche Bionade oder Club Mate so teuer wird, dass nur noch Besserverdienende sie sich leisten können. Bei den Mieten sieht das erheblich anders aus. Und erst dann, wenn tatsächlich eine Verdrängung stattfindet, offenbart sich die ganze Ironie der Gentrifizierung. Erst haben Studenten, freischaffende Künstler und andere bunte Vögel darniederliegende ehemalige Arbeitersiedlungen in blühende Subkulturlandschaften verwandelt - und dadurch den oben beschriebenen Typus des auch ein bisschen cool sein wollenden Spießers angelockt, der dorthin zieht, weil da "so viel los ist". Weil's da so super viele Konzerte und Galerien gibt. Mit wachsender Spießerquote im Kiez werden die Pioniere dann aber von dort vertrieben, und die Spießer stellen, sobald sie wieder größtenteils unter sich sind, bald fest, dass sie von den ganzen Konzerten und Galerien die Schnauze voll haben und lieber ihre Ruhe haben möchten. Und irgendwann darf dann, wegen Anwohnerbeschwerden, bei der Fête de la Musique nicht mehr auf offener Straße musiziert und bei Vernissagen kein Bier mehr ausgeschenkt werden.
Die Vertreter des "That's Just The Way It Is, Baby"-Liberalismus können hier natürlich mühelos einwenden, man sei doch selber schuld: Man hätte sich ja nur rechtzeitig selbst gentrifizieren, sprich: selbst zum Spießer werden müssen, dann könnte man von ebenjenen Prozessen profitieren, über die man sich jetzt beklagt. Stimmt natürlich. Aber will man das? - Nee. Dann lieber weiterziehen, den nächsten Kiez kultivieren, und den übernächsten, immer auf der Flucht vor der bürgerlichen Gesellschaft, die einem immer hart auf den Fersen bleibt - wie Lederstrumpf. Und wenn man irgendwann nicht mehr weiterziehen kann, sucht man sich eine Nische, in der man als Relikt vergangener Zeiten überdauern kann, als "Original", halb belächelt, halb angestaunt, und geht langsam an Alkohol und Depressionen zu Grunde - wie Chingachgook. Auch eine Art Heldentod.
Oder man ist katholisch, findet die Frau seines Lebens, hat mit ihr ein Kind, später mehr, bleibt unspießig und arrangiert sich. Mit oder ohne Bionade.
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