Hand aufs Herz: Als ich diese kleine Serie eröffnete, kam mir die Möglichkeit, dass das Thema Rock'n'Roll plötzlich eine ganz neue Aktualität, ja Brisanz gewinnen könnte, gar nicht in den Sinn. Und schon gar nicht, dass ich das ausgerechnet dem Bündnis 90/Die Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir zu verdanken haben würde.
Aber doch: Er hat's getan. Er hat eine öffentliche Debatte darüber angestoßen, was für Menschen eigentlich moralisch das Recht haben, Rockmusik zu mögen, und welche nicht. So wie dereinst Edgar Wibeau kategorisch darüber urteilte, welche Menschen berechtigt seien, Jeans zu tragen. Nun gut: Jeans, echte Jeans, waren in der DDR Mangelware, da schmerzte es natürlich doppelt, sie am Hintern von jemandem zu sehen, von dem man fand, der habe so eine Hose charakterlich gar nicht verdient. Aber ich schweife ab.
Vermutlich hatte Cem Özdemir gar nicht vor, eine Grundsatzdebatte anzustoßen, als er am Donnerstag auf seiner Facebook-Seite einen BILD-Artikel über Christian und Bettina Wulffs Besuch eines Bruce-Springsteen-Konzerts verlinkte und wie folgt kommentierte:
"
Die Reaktionen auf diese Einlassung des Grünen-Vorsitzenden schwankten größtenteils zwischen Hohn und Spott. Die Einen argumentierten, Rock'n'Roll sei doch (mittlerweile) selbst stockkonservativ, da habe es schon seine Richtigkeit, wenn die spießigen Wulffs sich die larmoyanten Schmachtfetzen des ollen Springsteen anhören. Andere konnten sich mit der Forderung, verschnarchte Spießbürger, Häuslebauer und peinliche Ex-Bundespräsidenten samt ihren vom Escort-Service georderten Ehefrauendarstellerinnen sollten "den Rock'n'Roll in Ruhe lassen", durchaus anfreunden, empfanden es aber als eher tragikomisch, dass diese Forderung ausgerechnet von einem Cem Özdemir vertreten wird, der es in puncto Spießigkeit und nicht-Rock'n'Rolligkeit locker mit der halben CDU/CSU aufnehmen kann. Zumal, wie der mir ansonsten unbekannte Facebook-Nutzer Martin Hagen es in seinem Kommentar zu Özdemirs Beitrag souverän auf den Punkt brachte, die Grünen nun auch nicht gerade die ultimative Sex&Drugs&Rock'n'Roll-Partei sind:
"Rock'n Roll steht nicht für Rauchverbot, Glühbirnenverbot und Motorrollerverbot. Rock'n Roll steht nicht für das subventionierte Solardach auf dem Reihenhäuschen. Rock'n Roll steht nicht für Political Correctnes, Binnen-I und Gender-Gap. Rock'n Roll steht nicht für vegetarische Donnerstage in Beamtenkantinen. Rock'n Roll steht für viel, aber ganz bestimmt nicht für grüne Politik!"
Tja: Wer im Schlachthaus sitzt, soll nicht mit Schweinen werfen. Wer mich oder zumindest meinen Blog kennt, wird wenig überrascht sein, dass ich es tendenziell mehr mit der "Cem, du bist doch selber auch nur ein Wulff"-Fraktion halte als mit den Rock'n'Roll-Verächtern. Trotzdem würde ich - und auch das kennt man ja von mir - das Thema gern etwas grundsätzlicher angehen.
Erst einmal: Ist Rock'n'Roll politisch? - erst einmnal nicht. Im frühen Rock'n'Roll dreht es sich textlich nahezu ausschließlich um Mädchen und Autos. Oft in einem Vokabular, bei dem es unklar ist, ob gerade von einem Mädchen oder einem Auto die Rede ist. Der klassische Früh-Rock'n'Roller braucht nicht viel zum Glücklichsein, er will vor allem faaahrn (was nicht umsonst so klingt wie ein in breitem, nachlässigem american english ausgesprochenes "fun") und nach Möglichkeit ein flottes Girl auf dem Beifahrersitz. Fehlt ihm letzteres, dann stimmt er auch schon mal herzzerreißende Klagelieder an. Aber Politik? - Politisch wird der Rock'n'Roller erst und nur, wenn er bemerkt, dass nicht nur Einzelne, wie etwa Eltern, Lehrer und schwer verführbare Mädchen - seinem Traum vom einfachen Glück im Wege stehen, sondern auch gesellschaftliche Strukturen. Das bemerkt er allerdings schon recht früh. 1958 besang Eddie Cochran in "Summertime Blues" das Hadern mit der Notwendigkeit, in den Sommerferien zu jobben, um Geld zu verdienen. In der dritten und letzten Strophe des Songs heißt es:
"I called my congressman and he said - quote! -:'I'd like to help you, son, but you're too young to vote.'"[Ich rief meinen Abgeordneten an, und er sagte wörtlich:"Ich würde dir ja gern helfen, mein Sohn, aber du bist ja noch gar nicht wahlberechtigt."]
Im Kontext dieses Songs ist das wohl eher scherzhaft gemeint, aber die darin zum Ausdruck kommende Haltung der Politik gegenüber zieht sich durch die ganze Geschichte der Rockmusik. Sie lautet: Die Politik interessiert sich nicht für unsere Probleme, weil sie sich nicht für uns interessiert. They Don't Care 'Bout Us. (Der so betitelte Song von Michael Jackson aus dem Jahr 1996 ist zwar von seinen musikalischen Charakteristika her nicht dem Rock-Genre zuzurechnen, von seiner Haltung her aber doch.)
Nun ist es vom Misstrauen und/oder Unbehagen gegenüber den bestehenden politischen Verhältnissen hin zum eigenen politischen Engagement natürlich ein durchaus nahe liegender Schritt, und auf diesem Wege kommt dann eben doch die Politik in den Rock hinein. Klar ist, dass diese grundsätzlich oppositionell ist, und zwar gern radikal oppositionell: extrem links, extrem rechts oder manchmal auch einfach extrem wirr. Positionen der politischen "Mitte" sind hingegen nicht rock-tauglich: Die gehören schließlich der "Erwachsenenwelt" an, gegen die man rebelliert (oder die einen zumindest, wie die Bewohner von Atlantis sagen, "abtörnt"). So ist es auch kaum überraschend, dass eingefleischte Rock'n'Roller ein allzu ausgeprägtes politisches oder auch nur soziales Engagement von Musikern (man denke etwa an Bob Geldof oder Bono) im Allgemeinen eher skeptisch beäugen oder sogar Verrat darin wittern. Vor allem ist dem echten Rock'n'Roller die political correctness ein Dorn im Auge.
Was das alles mit den Grünen zu tun hat, dürfte auf der Hand liegen. Die haben ja immerhin mal als Fundamentalopposition angefangen, aber inzwischen sind sie doch gründlich in der bürgerlichen Mitte angekommen. Und kaum jemand repräsentiert diese Verbürgerlichung der einstigen Bürgerschreckpartei so idealtypisch wie eben Cem Özdemir - während die Co-Vorsitzende Claudia Roth immerhin mal Managerin von Ton Steine Scherben war. Aus Rock'n'Roll-Sicht sind die Grünen heutzutage einfach too old to die young. Diesem Schicksal zumindest scheint die nächste Generation der spätpubertären Antipolitiker - die Piratenpartei - nach derzeitigem Stand der Dinge wohl durch rechtzeitige Selbstzerstörung zu entgehen. Aber die Piraten hören wahrscheinlich keinen Rock'n'Roll. Sondern eher so Elektro-Kram.
(An dieser Stelle mache ich erst mal einen Punkt. Spätere Fortsetzung nicht ausgeschlossen...)
;) mir würde dazu Jethro Tull mit "Too Old to Rock 'n' Roll Too Young to Die" einfallen ;)
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