In praktisch allen Diözesen der katholischen Kirche in Deutschland vollzieht sich derzeit ein tiefgreifender Wandel der Pfarreistruktur. Vorreiter ist dabei zweifellos das Bistum Trier, das die Zahl seiner Pfarreien bis zum Jahr 2022 von jetzt 887 auf 35 reduzieren will. Aber auch andernorts ist der Trend zur Auflösung eigenständiger Ortspfarreien zugunsten größerer Einheiten – ob man diese nun „Pastorale Räume“, „Pfarreien der Zukunft“ oder „Pfarreien neuen Typs“ nennt – in vollem Gange. Dabei geht es keineswegs – wie man annehmen könnte – bloß um eine administrative Reaktion auf eine Notwendigkeit, die durch die personelle Ausdünnung der einzelnen Standorte bedingt ist: In Debattenbeiträgen von Pastoraltheologen und Religionssoziologen ist immer wieder die Rede davon, dass man das Konzept der Pfarrei ganz neu denken müsse – dass die klassische Ortspfarrei nicht „zukunftsfähig“ sei, weil sie den Bedürfnissen der Menschen in der von Individualismus und Mobilität geprägten Gegenwart und Zukunft nicht mehr gerecht werde. Im Hintergrund der laufenden Strukturreformen steht also die Vision eines grundsätzlich anderen Konzepts von Seelsorge.
Aufschlussreich ist es in diesem Zusammenhang, einen Blick auf die in der EKD zusammengeschlossenen evangelischen Landeskirchen zu werfen. Dort gibt es vergleichbare Bestrebungen nämlich schon länger. Im Sommer 2006 publizierte der Rat der EKD ein „Impulspapier“ mit dem Titel „Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“, und zu den dort formulierten Reformvorschlägen gehörte es, die Zahl der Ortsgemeinden drastisch zu reduzieren und „im Gegenzug neue Gemeindeformen wie Profilgemeinden, Netzwerkgemeinden bis hin zu Internetgemeinden“ auszubauen, um einen „Wettbewerb verschiedener Gemeindeformen“ zu fördern. „Reformvorstellungen dieser Art wurden in ähnlicher Weise schon einmal in den 1970er Jahren propagiert“, erinnert die evangelische Theologin Isolde Karle[*].
Für die historisch gewachsene Organisationsstruktur der großen Volkskirchen hierzulande ist ein Modell charakteristisch, das Frau Karle wie folgt beschreibt: „Jede Kirchengemeinde ist so ähnlich wie eine andere, weil Kirche segmentär differenziert ist: ein Segment, eine Pfarrgemeinde existiert neben der anderen. Diese Struktur begrenzt die Möglichkeit von Arbeitsteilung und Spezialisierung“. Und genau darin liegt aus Sicht der derzeit dominierenden pastoraltheologischen Konzepte offenbar das Problem dieser Struktur. In der Theorie besteht eine Pfarrgemeinde aus allen Kirchenmitgliedern, die auf dem Territorium der jeweiligen Pfarrei ihren Wohnsitz haben – unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildungsgrad und sonstigen soziologischen Merkmalen. Indes muss man zugeben, dass diese Vielfalt sich im tatsächlichen Erscheinungsbild vieler Pfarrgemeinden nicht unbedingt widerspiegelt. Wir sind es mehr oder weniger gewohnt, dass am aktiven Gemeindeleben einer Pfarrei – selbst dann, wenn man als Kriterium für „Aktivität“ nichts weiter voraussetzt als eine einigermaßen regelmäßige Teilnahme am Gottesdienst – nur ein Bruchteil aller rechnerischen Gemeindemitglieder teilnimmt; und in aller Regel handelt es sich dabei durchaus nicht um einen repräsentativen Ausschnitt. Genau hier setzt vielfach die Kritik an: Das Modell „Pfarrei“ sei deshalb nicht zukunftsfähig, weil es einer „Milieuverengung“ Vorschub leiste. Typischerweise würden Pfarreien in einem solchen Maße von Vertretern einiger weniger Milieus dominiert, dass die Angehörigen anderer Milieus effektiv aus ihnen ferngehalten oder sogar aus ihnen vertrieben würden. Auch Papst Franziskus warnt in seinem 2013 veröffentlichten Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium, Pfarreien stünden in der Gefahr, „eine weitschweifige, von den Leuten getrennte Struktur oder eine Gruppe von Auserwählten“ zu werden, „die sich selbst betrachten“.
Mit einer solchen Milieuverengung – einer Dominanz bestimmter sozialer Milieus im kirchlichen Raum bei weitgehender Abwesenheit aller anderen – kann sich eine Kirche, die von ihrem Gründer explizit den Auftrag erhalten hat „Macht ALLE Menschen zu meinen Jüngern“ (Mt 28,19), nicht einfach zufrieden geben. Daher, so der Papst, benötige eine Pfarrei die Fähigkeit, „sich ständig zu erneuern und anzupassen“. Einen wesentlichen Vorzug größerer Seelsorgeeinheiten sehen Pastoralstrategen offenkundig darin, dass diese mehr Raum für interne Ausdifferenzierung bieten: Mit einer sogenannten „milieusensiblen Pastoral“ versucht die Kirche – wie der Religionssoziologe Jens Schlamelcher[**] es beschreibt –, sich an „unterschiedlichen Lebensstilen zu orientieren und daraufhin zielgruppenspezifische Angebote zu entwickeln, die jeweilige Milieus in je bestimmter Weise ansprechen“. Es ist bezeichnend, dass dabei soziologische Modelle zum Einsatz kommen, die ursprünglich als Marktforschungs-Instrumente konzipiert sind: Es geht darum, die Zielgruppen und ihre „Lebenswelten“ besser zu verstehen, um für ihre Bedürfnisse maßgeschneiderte Produkte und Dienstleistungen auf den Markt bringen zu können. Die Anwendung solcher Modelle auf die Pastoraltheologie läuft also – abermals laut Jens Schlamelcher – darauf hinaus, dass die Kirche sich „zunehmend unternehmerischer Marketingmethoden“ bedient, um „für die jeweiligen Milieus eigene Kommunikationsmethoden und Angebote zu entwickeln.“
Befürworter dieses Ansatzes mögen darin eine zeitgemäße Version des paulinischen Grundsatzes sehen, „allen alles zu sein“ (vgl. 1 Kor 9,22); aber ob der Völkerapostel sich damit wirklich richtig verstanden fühlen würde? Geht es tatsächlich bloß darum, den Leuten das zu servieren, was nach ihrem persönlichen Geschmack ist? Wenn man jeder Zielgruppe ein passendes Angebot auf den Leib schneidert, wo bleibt dabei das Verbindende und Verbindliche? Eine Kirche, in der jeder glauben darf, was er will, wäre vielleicht die Idealvorstellung von Marketingstrategen, würde aber aufhören, die katholische Kirche zu sein.
Es mag wohl sein, dass die Angehörigen verschiedener soziologischer Milieus für unterschiedliche Aspekte der kirchlichen Glaubenslehre und -praxis in unterschiedlichem Maße empfänglich sind, und das Wissen darum mag hilfreich sein, bei unterschiedlichen Zielgruppen ein erstes Interesse am „Angebot“ der Kirche zu wecken. Die Gefahr besteht jedoch in der Versuchung, es dabei bewenden zu lassen und ihnen diejenigen Aspekte, für die sie weniger empfänglich sind oder die ihnen sogar widerstreben, gar nicht erst zuzumuten. Die Interessen und Neigungen keines Milieus sind so umfassend und unproblematisch mit den Anforderungen des christlichen Glaubens kompatibel, dass die Angehörigen dieser Milieus keiner Bekehrung mehr bedürften. Eine zielgruppenorientierte Pastoral ist somit stets der Versuchung ausgesetzt, den Menschen den christlichen Glauben bloß als eine Art Sahnehäubchen anzubieten, das sie ihrer jeweiligen Vorstellung vom guten Leben lediglich hinzuzufügen brauchen – und nicht als etwas, was diese Vorstellung fundamental verändert.
Nebenbei liegt es auf der Hand, dass die „milieusensible Pastoral“ in erster Linie die gemeinhin als eher „kirchenfern“ geltenden Milieus in den Blick nimmt und den zu den kirchlichen „Kernmilieus“ zählenden Gläubigen eher wenig anzubieten hat.
Letztendlich haben wir es hier mit einer speziellen Ausprägung des sogenannten Identität-Relevanz-Dilemmas zu tun: Im Konzept der „milieusensiblen Pastoral“ drückt sich die Grundannahme aus, es bleibe der Kirche gar nichts anderes übrig, als gesamtgesellschaftliche Megatrends – in diesem Fall die Individualisierung der postmodernen Welt – mit- bzw. nachzuvollziehen, wenn sie „gesellschaftlich relevant“ bleiben wolle. Diese Grundannahme setzt allerdings voraus, dass man der Kirche schlichtweg nicht zutraut, diesem und anderen gesellschaftlichen Trends etwas entgegenzusetzen. Ein weniger pessimistischer Blick auf die Kirche könnte zu dem Schluss kommen, dass gerade die Ortspfarrei das Potential hat, eine attraktive Alternative zur Zersplitterung der Gesellschaft in Interessengruppen zu verkörpern. Dagegen laufen die derzeitigen Bestrebungen zur Schaffung größerer Seelsorgeeinheiten Gefahr, gerade diejenigen Merkmale einer Pfarrei aufzugeben, die ihre Stärke ausmachen: ihre Ortsgebundenheit und überschaubare Größe. So betont Isolde Karle:
„Die Überschaubarkeit der Ortsgemeinde stellt in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft einen hohen Wert dar. Die lokale Kirchengemeinde vermittelt inmitten der Unübersichtlichkeit, Anonymität und Aufsplitterung modernen Lebens eine grundlegende Vertrautheit“.
Man mag der Meinung sein, die Pfarrei, wie wir sie kennen, sei „unzeitgemäß“, ein Relikt vormoderner Verhältnisse, ja geradezu ein „gallisches Dorf“ inmitten einer ansonsten von Unbeständigkeit geprägten Welt. Aber warum sollte sie das eigentlich nicht sein? Wäre nicht genau dies ein Modell, mit dem die Kirche ein Zeichen des Widerspruchs gegen die fortschreitende Fragmentierung der postmodernen Gesellschaft setzen könnte?
Die Kirche, die inmitten der Häuser ihrer Söhne und Töchter lebt. (Symbolbild: Keltische Siedlung, Archäologisches Freilichtmuseum Liptovska Mara, Havranok, Slowakei. Bildquelle und Lizenz hier.) |
Der Hl. Papst Johannes Paul II. betonte in seinem nachsynodalen Schreiben Christifideles laici von 1988, die „communio der Kirche“ finde „ihren unmittelbaren und greifbaren Ausdruck in der Pfarrei. Diese stellt die konkrete Form der örtlichen Realisierung der Kirche dar; in einem gewissen Sinn ist sie die Kirche, die inmitten der Häuser ihrer Söhne und Tochter lebt“. – Was der Historiker Alexis de Tocqueville im ersten Band seines Werks „Über die Demokratie in Amerika“ (1835) über die Gemeinde als politische Einheit sagte, lässt sich zu einem gewissen Grad wohl auch auf die Kirchen- bzw. Pfarrgemeinde anwenden:
„Die Gemeinde ist die einzige Vereinigung, die so durchweg naturhaft ist, daß überall, wo Menschen sich zusammenschließen, von selber eine Gemeinde entsteht. Die auf der Gemeinde aufgebaute Gesellschaft besteht also bei allen Völkern, welches auch immer ihre Gepflogenheiten und Gesetze seien; Königreiche und Republiken schafft der Mensch; die Gemeinde scheint unmittelbar aus Gottes Hand hervorzugehen.“
Vom politischen auf den religiösen Bereich übertragen, heißt das: Eine Gemeinde von Gläubigen entsteht überall da, wo Menschen sich zusammenfinden, um gemeinsam Gottesdienst zu feiern und ihren Glauben zu leben. Ganz ähnlich äußert sich Isolde Karle:
„Die Ortsgemeinde stellt nicht, wie weithin unterstellt, eine antiquierte Organisationsform der Kirche in der Moderne dar. Sie hat sich vielmehr trotz aller Strukturveränderungen als ein unverzichtbarer Rahmen für die Gemeindepraxis erwiesen. Die Kirche lebt als Leib Christi zentral von den vielen, überschaubaren personalen Gemeinschaften vor Ort und von der Vertrautheit von Gesichtern und Räumen, die nachgewiesenermaßen die Bindung an die Kirche am nachhaltigsten stärken. [...] Kirche realisiert sich primär und zuerst in und als Gemeinde und hat nur als Gemeindekirche eine Zukunft.“
[* Isolde Karle: „Religion – Interaktion – Organisation“. In: Jan Hermelink / Gerhard Wegner (Hg.): Paradoxien kirchlicher Organisation. Niklas Luhmanns frühe Kirchensoziologie und die aktuelle Reform der evangelischen Kirche. Würzburg: ERGON 2008, S. 237-257.
** Jens Schlamelcher: „Ökonomisierung der Kirchen?“ In: Hermelink/Wegner (Hg)., Paradoxien, a.a.O., S. 145-177.]
Sehr, sehr kluger Beitrag.
AntwortenLöschenWas das Herz schon immer wusste, weiß nun auch der Kopf.
Danke!!!