Samstag, 22. Dezember 2018

"Mir ist das Christliche ja sehr wichtig"


Ende November gab es in unserem Pastoralverbund (der noch nicht offiziell zum „Pastoralen Raum“ ernannt worden ist) eine sogenannte „Tauferinnerungsfeier“, eine Art Andacht für Familien, in denen im Laufe des zurückliegenden Jahres ein Kind getauft worden ist. Geleitet wurde die Feier von der Gemeindereferentin, der Pfarrer spielte Gitarre. Ich hatte den Eindruck, unter den anwesenden Eltern waren meine Liebste und ich die einzigen, die die Veranstaltung – bei aller Wertschätzung gegenüber der grundsätzlichen Idee – nicht so richtig gelungen fanden. Zum Beispiel kam mir die Gestaltung nicht wirklich altersgerecht vor. Sicher, auch in der katholischen Kirche werden nicht alle Kinder im selben Alter getauft, aber in der Praxis kann man doch wohl davon ausgehen, dass die meisten Kinder, deren Taufe weniger als ein volles Jahr zurückliegt, noch unter drei Jahren alt sind, und so war es bei dieser Veranstaltung auch tatsächlich. Trotzdem schien die Gestaltung eher auf Kinder im Vorschulalter ausgerichtet zu sein. Davon hatten die Kinder, meiner Einschätzung nach jedenfalls, herzlich wenig. Warum macht man das dann? Antwort: Wegen der Eltern. Man geht – in der Regel wohl zu Recht, wenn man von Ausnahmefällen wie meiner Liebsten absieht – davon aus, dass Eltern, die ihre Kinder taufen lassen, selbst relativ „kirchennah“ aufgewachsen sind und daher auf eine bestimmte Vorstellung davon geprägt sind, wie eine „kindgerechte Gestaltung“ im kirchlichen Rahmen auszusehen habe. Und diese Erwartungshaltung wird dann eben bedient. Was naturgemäß darauf hinausläuft, dass Kindergottesdienste oder andere Formen kirchlicher „Angebote“ für Familien mit jungen Kindern heute nicht wesentlich anders aussehen als vor dreißig Jahren. 

Die meisten anderen Eltern bei dieser Veranstaltung kannte ich übrigens nicht oder maximal vom Sehen, mit einer Ausnahme: Eine Mutter und ihren schätzungsweise noch nicht ganz zwei Jahre alten Sohn hatte ich schon zuvor mehrfach in offenen Krabbelgruppen getroffen, und ein paarmal auch beim Einkaufen. Neulich war ich dann mal wieder zusammen mit ihr in einer Krabbelgruppe und bekam beiläufig mit, wie sie sich im Gespräch mit einer offenbar befreundeten anderen Mutter darüber beklagte, dass sie für ihren Sohn keinen Platz in der KiTa ihrer Wohnortpfarrei bekommen habe, während diese KiTa andererseits offenbar keine Probleme damit habe, Kinder aufzunehmen, deren Eltern mit der Kirche überhaupt nichts am Hut haben. In diesem Zusammenhang äußerte sie den bemerkenswerten Satz „Mir ist das Christliche ja sehr wichtig“, und ich fragte mich unwillkürlich, was genau sie damit wohl meint.

Es geht mir hier wohlgemerkt nicht speziell um diese eine Person. Zumal ich sie so gut nun auch nicht kenne, dass ich mir ein Urteil über ihren Glauben zutrauen würde. (Falls Du mitliest: Hi! Ich weiß Deinen Namen gar nicht, nur den Deines Sohnes.) Meine Frage bezieht sich vielmehr ganz allgemein auf Eltern, die ihre Kinder an den handelsüblichen kirchlichen Kinderbetreuungs- und -bespaßungsangeboten teilnehmen lassen und mit dem, was da geboten wird, offenbar recht zufrieden sind. Oder die zum Beispiel selbst aktiv daran mitwirken. Da denke ich insbesondere an die zwei bis drei Familien, aus denen sich das Team zusammensetzt, das bei uns in der Pfarrei einmal im Monat einen „Familiengottesdienst“ gestaltet. An den anderen Sonntagen des Monats sieht man diese Familien praktisch nie in der Kirche, und die Gestaltungselemente, die sie in die „Familiengottesdienste“ einbringen, erwecken in aller Regel den Eindruck, dass sie von den Basics des christlichen (geschweige denn des spezifisch katholischen) Glaubens nicht sonderlich viel verstanden haben. Dennoch ist ihnen „das Christliche“, so wie sie es verstehen, ja anscheinend irgendwie „wichtig“, denn sonst würden sie das ja wohl nicht machen.

Das bringt mich jetzt wieder darauf, dass Kindergottesdienste und -katechesen in katholischen Pfarreien, meiner persönlichen Erfahrung zufolge, vor dreißig Jahren schon im Wesentlichen genauso aussahen wie heute. Mit anderen Worten, viele heutige Eltern, darunter auch solche, die als haupt- oder ehrenamtliche Katecheten tätig sind, sind in ihrer eigenen „kirchlichen Kindheit“ mit nichts anderem gefüttert worden als mit mehr oder weniger deutlich moralisierend angestrichenen „Gott hat uns alle lieb“-Plattitüden und denken daher, das müsste so sein. Worauf ich bis vor Kurzem aber nicht ernsthaft gekommen wäre, ist, dass sie das als etwas so Wertvolles empfinden könnten, dass es ihnen wichtig ist, es an ihre eigenen Kinder weiterzugeben.

Sehr erhellend fand ich in diesem Zusammenhang einen unlängst in der Zeit-Beilage „Antichrist & Unterwelt“ (#sorrynotsorry) erschienenen Artikel mit dem unverdächtigen Titel „Christliche Erziehung: Die Kinder, die Kirche und ich“; ein treffenderer Titel wäre vielleicht gewesen „Hilfe, meine Kinder sind frömmer als ich“. Der Verfasser des Beitrags ist ein junger Vater, der sich über die Begeisterung seiner Kinder für alles, was mit Kirche zu tun hat, nicht nur wundert, sondern sogar einigermaßen beunruhigt darüber ist. 
„Grundsätzlich entwickelte das ältere Kind während seines dritten Lebensjahrs eine klare Vorliebe für alles, was mit Kirche zu tun hatte. Vorher hatte es sich in kleinkindtypischer Indifferenz überall mit hinnehmen lassen, zum Turnen, ins Familienzentrum, in den Park. Jetzt aber begann es nach der Kita zu fragen: 'Kirsse? Ja? Ja?'“

Ich muss ja sagen, ich als Vater wäre froh, das von meinen Kindern zu hören. Präziser gesagt: Meine (bislang einzige) Tochter ist noch ein gutes Stück jünger als die Kinder von Christ & Welt-Autor Johannes Schneider; bisher spricht alles dafür, dass sie sich in der Kirche wohl und „zu Hause“ fühlt, und ich hoffe (und bin gewillt mein Möglichstes dafür zu tun), dass das so bleibt.

Nicht so Johannes Schneider (hier übrigens eine Kurzbio mit Foto. Müssen diese Leute eigentlich immer genau so aussehen, wie man sie sich vorstellt?). Er legt Wert darauf, seinen Kindern ein „zugleich linksliberales und traditionsprotestantisches Elternhaus“ zu bieten, in dem die Kinder „mit einem bunten und nicht immer widerspruchsfreien Strauß kultureller Angebote“ aufwachsen. Dass seine Kinder dennoch nichts von alledem – „abgesehen vielleicht vom Kölner Karneval“ – „derart nachhaltig“ begeistert „wie alles, was mit Kirche, Glauben und Bibelgeschichten zu tun hat“, erscheint ihm befremdlich: „Wie kann das sein?“ Natürlich hat er sich Gedanken darüber gemacht – und formuliert eine „kühne These“, die bei aller Unausgegorenheit wohl doch ein paar ganz bemerkenswerte Teil-Einsichten enthält: Die Sphäre von „Bibel, Jesus, Kinderkirche“ ist für die Kinder ein „Schutzraum“, ein „Ausgleich“ gegenüber derjenigen Normalität, die sie beispielsweise „an einer Integrationskita im Neuköllner Süden“ erleben. „In Zeiten, in denen kindliche Lebenswelten und Kulturangebote für Kinder weitgehend optimal auf die kognitiven und seelischen Fähigkeiten der jeweils adressierten Alterskohorte abgestimmt sind, repräsentieren Kirche und Bibel Wirklichkeiten, die das Archaische bei aller freundlichen Zugewandtheit doch nicht ganz loswerden“, theoretisiert Schneider munter drauflos. „Es bleibt eine Gegenwelt, die nicht nur grausamer, sondern auch größer, feierlicher und älter ist als alles, was sich die Kinder sonst vorstellen können“ – eine Gegenwelt zu „unserer eigenen, wie wir sie den Kindern gemeinhin darstellen: beruhigt und mittelmäßig“. 

Dass Schneiders Kinder überhaupt mit dieser „Gegenwelt“ in Kontakt gekommen sind, hat auch mit seiner eigenen Kindheit und Jugend zu tun. Er stammt nämlich selbst aus einem in gewisser Weise ausgeprägt „kirchennahen“ Milieu:
„Mein Großvater war Presbyter, Kirchenvorstand heißt das in einigen Gegenden, mein Vater Religionslehrer, meine Schwester studierte auf Pfarramt. Ich war der Hedonist an der Basis – kirchliche Freizeiten, Rumhängen in Jugendtreffs, Bandproben im Gemeindekeller.
[…]
Als wir eigene Kinder bekamen, war das ein guter Anlass, in die Welt der evangelischen Gemeindehäuser zurückzukehren. Vorher war ich ihr über ein Jahrzehnt eher lose verbunden gewesen [...], Kirchenaustritt kein Thema [...]. Wie andere Leute Mitglied eines Vereins sind, hatte ich eine unhinterfragbare soziale Heimat [...]. Mit den Kindern hatte ich plötzlich einen Anlass, wieder mehr Zeit in einem altvertrauten Milieu zu verbringen.“ 

Nur dass es den Kindern dort offenbar ein bisschen zu gut gefällt, das bringt den jungen Vater ins Grübeln. „Ist es […] nicht unverantwortlich oder zumindest komplett gegen unser aller Interesse, meine Kinder in meiner Kirche und der Bibel zu beheimaten?“, fragt er sich. „Muss ich sie nicht vor sich selber schützen?“ Geradezu mit Erleichterung nimmt er zur Kenntnis, dass seine Kinder auf einem ihrem Alter entsprechenden Niveau durchaus auch Glaubenszweifel formulieren: „Da heißt es dann: 'Wieso muss denn Gott auf uns aufpassen? Die Eltern passen doch auf die Kinder auf und die Erwachsenen können selber auf sich aufpassen. Wozu brauchen wir denn dann Gott? Wann stirbt Gott?' Oder auch: 'Gott hat die Milchzähne nicht gemacht, oder? Die sind doch von allein gewachsen!'“ Solche Zweifel, meint er, gilt es zu unterstützen: „Auf diese Fragen und Anmerkungen nicht mit mir selbst unverständlichen Verweisen auf Gottes Allmacht und Rätselhaftigkeit zu antworten, das ist das Mindeste, was ich tun kann.“ 

Da könnte man sich nun natürlich fragen: Was hat der gute Mann für ein Problem? „Ich bin kein Vorbild im Glauben“, sagt er – und er will es auch nicht sein. Die „tieferen Mysterien des Glaubens“ sind für ihn nie ein Thema gewesen, Pfingsten – die Aussendung des Heiligen Geistes – ist für ihn „ein überaus merkwürdiges Fest“. Bei „Berliner Partys“ erlebt er es durchaus mal, dass sein Verhältnis zum Glauben „kurioses Gesprächsthema im Sinne einer seltenen kulinarischen Vorliebe ist“; dann sagt er, dass dieser Glaube „einfach da ist – und dass es schon einer krassen Selbstaufgabe und Selbstzerlegung bedürfte, um ihn aus mir herauszukriegen“. Und schließlich:
[D]er Glaube hindert mich an nichts, weder daran, wissenschaftliche Befunde anzuerkennen, noch daran, im Alltag ein anständiger und rücksichtsvoller Mensch zu sein, Letzteres sogar im Gegenteil. Ob er nun eine rein kulturelle Schimäre ist oder es doch eine im weitesten Sinn mystische Substanz gibt, ob die Gottesnähe, die ich nur in Kirchen fühle, eine kindliche Selbsttäuschung ist oder doch mit irgendwas zu tun hat, das außerhalb meiner selbst liegt: Ehrlich, wen interessiert das?“

Interessant, dass er diese Haltung überhaupt als „Glauben“ klassifiziert – aber ich will mich hier nicht lange damit aufhalten, diese halbherzige Einstellung zu kritisieren; was ich davon halte, mag sich jeder selbst ausmalen. (In der angloamerikanischen Umgangssprache gibt es als Synonym für „halbherzig“ übrigens auch den Ausdruck „halbärschig“, und dass der mir persönlich besser gefällt, wird wohl niemanden überraschen, der mich ein bisschen kennt.)

Zu der illustrierten Kinderbibel, für die seine Kinder sich begeistern, merkt Johannes Schneider an: „Mich nervte vor allem das Gleichnis der Arbeiter im Weinberg, in dem die Weinleser alle den gleichen Lohn bekommen, obwohl einige viel mehr gearbeitet haben als andere.“ Also bitte, das ist jetzt schon ein bisschen dämlich. Genau darum geht’s in dem Gleichnis doch. Dass es nach weltlichen Maßstäben zu erwarten gewesen wäre, dass die Entlohnung der Arbeiter im Verhältnis zur geleisteten Arbeit steht, dass solche Maßstäbe im Reich Gottes aber nicht gelten. 



Dem laut Selbsteinschätzung „linksliberale[n]“ Schneider passt das nicht: „Die hätten den Weinbergbesitzer lieber mal enteignen sollen“, murmelt er, in der erklärten Absicht, seine Kinder zu irritieren. Ähm. Für wen der Weinbergbesitzer im Gleichnis steht, ist ihm aber schon klar, oder? Und dass es noch ein anderes Gleichnis gibt, in dem die Pächter die Boten, die der Besitzer des Weinbergs zu ihnen schickt, verprügeln und fortjagen und schließlich sogar seinen Sohn ermorden, um den Weinberg für sich zu behalten? Fast hätte ich Lust, an dieser Stelle über eine gutbürgerlich-mittelmäßige Amts- und Volkskirche zu sinnieren, die Gott enteignet hat, um aus Seiner Kirche einen gemütlichen Geselligkeitsverein zu machen, aber ich will mir nicht vorgreifen. 

Klar ist: Wäre die Sorge, die eigenen Kinder könnten, wenn man sie in die Kirche mitnimmt, religiöser werden, als einem lieb ist, bloß Johannes Schneiders Privatschrulle, würde es sich kaum lohnen, darüber viele Worte zu verlieren, und ich gehe davon aus, dass das auch die Christ & Welt-Redaktion so gesehen haben würde. Wir müssen also davon ausgehen, dass es sich um ein durchaus verbreitetes Phänomen handelt. Und tatsächlich bin ich kürzlich in einem Blogartikel meines Freundes Rod über eine Passage gestolpert, die bemerkenswert gut zu Johannes Schneiders Erfahrungsbericht passt (Übersetzung von mir):
„Es ist offensichtlich, dass allzu viele Eltern den Glauben gar nicht wirklich ernst nehmen wollen. Sie möchten zwar, dass ihren Kindern ein bisschen Glauben vermittelt wird, aber nicht in einem solchen Maße, dass sie sich wirklich darauf einlassen.“ 

So. Und die Folge daraus, dass dies ein so verbreitetes Phänomen ist, besteht darin, dass sich die im weitesten Sinne katechetischen Angebote für Kinder in einer durchschnittlichen Kirchengemeinde an dieser Erwartungshaltung der Eltern ausrichten. Man will schließlich niemanden verprellen. In einer Leserzuschrift, die Rod als „Update“ an seinen Blogartikel angehängt hat, wird berichtet, wie die Frau des Leserbriefschreibers zusammen mit dem Diakon ihrer Pfarrei ein Konzept entwickelte, das die Verantwortung für Kinderkatechese und Sakramentenvorbereitung prinzipiell in die Hände der Eltern legen wollte – und zu diesem Zweck vorsah, in der Gemeinde regelmäßige Kurse für die Eltern anzubieten statt für die Kinder. Das Projekt scheiterte daran, dass der Pfarrer der Gemeinde voraussagte, die Eltern würden nicht mitziehen. Was vermutlich eine realistische Einschätzung war – aber was glaubt man auf längere Sicht mit dem vorherrschenden Modell einer als kostenlose Dienstleistung angebotenen Minimalkatechese, die darauf ausgerichtet ist, niemanden zu überfordern, niemandem auf die Füße zu treten und auf keinen Fall irgendwie „fundamentalistisch“ zu wirken, zu erreichen? Nach allem, was ich in katholischen Pfarreien in verschiedenen deutschen Diözesen an Kindergottesdiensten und -katechesen miterlebt habe, muss ich sagen, es ist kein Wunder, wenn man den Großteil der Kinder, die zur Erstkommunion gehen, erst wiedersieht, wenn die Firmvorbereitung ansteht, und nach der Firmung dann überhaupt nicht mehr. Ich muss es noch schärfer formulieren: Ein Wunder wäre es, wenn es anders wäre. Fast könnte man auf die Idee kommen, genau dieses Ergebnis wäre beabsichtigt.

Beziehen wir diese Feststellungen nun wiederum auf Johannes Schneiders Beitrag in der Christ & Welt, dann könnte man sich natürlich fragen: Macht er sich womöglich unnötige Sorgen? Wenn er selbst, wie er es ja beschreibt, gerade durch sein kirchennahes Aufwachsen ja offenbar erfolgreich gegen ein allzu großes Ernstnehmen des Glaubens immunisiert wurde, wieso vertraut er dann nicht darauf, dass die Kirche das bei seinen Kindern genauso hinkriegt? Hier wird es nun richtig interessant. Der Autor zeigt sich nämlich überzeugt, dass die Art von harmloser Mittelklasse-Religiosität, in der er sich zu Hause fühlt – die „leicht verstaubte und sehr verweltlichte Amtskirche, die ich kenne und liebe“ –, keine Zukunft hat. Mit anderen Worten, er sieht auf längere Sicht (er spricht von „ 20 Jahren“) keinen gangbaren Mittelweg zwischen einem – wie er es formuliert – „glaubensstarken“ Atheismus und einem radikalen Entscheidungschristentum, das er mit „frömmelnden Freikirchlern“ assoziiert. „[U]nd mit dem frömmelnden Charisma, das die meisten Freikirchen durchweht, kann man mich einmal zum Nordpol und zurück jagen.“ Wenn es hierbei nur um einen bestimmten Stil der religiösen Praxis und des Redens über den Glauben ginge, wäre ich vielleicht sogar geneigt, ihm tendenziell zuzustimmen. Entscheidend ist für ihn aber offenbar etwas anderes: Nämlich, dass er „gar nicht will“, dass seine Kinder den christlichen Glauben „wortgetreu Buchstabe für Buchstabe nachbeten oder sogar anderen damit missionarisch auf die Nerven gehen“. Ihnen aber eine so mittelmäßige, halbherzige religiöse Sozialisation angedeihen zu lassen, wie er selbst sie erfahren hat, würde sie, so meint er, nur mit „einer unstillbaren Sehnsucht“ zurücklassen.

Nun, Johannes Schneiders persönliche Einstellungen will ich nicht weiter kommentieren, auch wenn seine Kinder mir ein bisschen leid tun (aber das wäre umgekehrt vermutlich genauso). Seine Prognosen hinsichtlich der Zukunftsfähigkeit einer sozial unauffälligen, angepassten, in jeder Hinsicht „harmlosen“ Kirchlichkeit halte ich jedenfalls für alles andere als weit hergeholt – und wundere mich daher nur umso mehr über diejenigen Akteure im institutionellen Apparat der deutschen Großkirchen, die ihre Zukunft gerade in einer noch größeren Vagheit und Unverbindlichkeit der Lehre, einer noch entschlosseneren Angleichung an den gesellschaftlichen Mainstream sehen. Denn das liefe – selbst wenn wir das Fass der Frage nach überzeitlich gültigen Wahrheiten an dieser Stelle gar nicht erst aufmachen wollen – schließlich darauf hinaus, gerade jene Chance zur Differenzerfahrung niederzuwalzen, von der Johannes Schneider glaubwürdig beschreibt, wie sehr sie seine Kinder fasziniert.




7 Kommentare:

  1. Er sieht tatsächlich genau so aus wie man sich solche Leute vorstellt! 😁

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  2. Es braucht nur konsequent coolere Freizeitangebote sonn- und feiertags für die Kids anstelle Kirchgang.
    Dann erledigt sich die Sorge um frommere Kinder als es die Eltern sind, ganz wie von selbst.
    Das ist unsere leidvolle Erfahrung mit den Enkeln.

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  3. Die Haltung erinnert mich ein bißchen an meine atheistischen Eltern, obwohl ich meine Eltern über den Tod hinaus liebe und sie für hochgescheite Menschen halte.

    Ich wurde in der ersten Klasse zum evangelischen Religionsunterricht angemeldet, weil in der Bibel so schöne Geschichten stehen, auch wenn man die nicht glauben muss, und weil das überhaupt mit Kultur zu tun hat. (Vor einiger Zeit fand ich mein Religionsheft von damals und hatte den klaren Beweis, daß ich dort nichts gelernt habe.)

    Nun ist ja einigen Leuten bekannt, daß ich katholisch bin und mir das sehr wichtig ist. Daher läßt mich dieser seltsame Mensch das Beste für seine Kinder hoffen. Ich kann ihm nur voraussagen: Wenn DAS eintrifft (Kind wird als junger Erwachsener urplötzlich katholisch und dann mit der Zeit immer katholischer), wird es ein Schock für ihn. Und da ich ihn nicht für halb so gescheit halte wie meine Eltern, glaube ich, es wird extrem schwer für ihn, das zu überwinden.

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  4. Ich bin enttäuscht, dass nur die Freikirchler in seinem Frömmigkeitsfeindbild auftauchen ;)

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  5. Den Fall finde ich gar nicht so untypisch. Diese Einstellungen und Handlungsweisen sind Symptome eines amtskirchlichen Systems, das sich längst überlebt hat. Die Kirche wird als eine Art alte Tante wahrgenommen, die schon etwas gaga ist, sich aber nett um die Kinder kümmert.

    So richtig zufrieden mit dieser Kirche sind weder die traditionell Frommen noch diejenigen, die einen ernsthaften zeitgemäßen Zugang zum Glauben suchen, noch diejenigen, für die die Kirche vor einem eine soziale Rolle spielt.

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  6. Sehr seltsam auch, daß der Glaube ihn nicht daran hindert, ein anständiger und rücksichtsvoller Mensch zu sein, und daß er das im Ton des Erstaunens schreibt.
    Ich war ja in meiner agnostischen Zeit der Ansicht, der Unglaube hindere mich nicht daran, anständig und rücksichtsvoll zu sein (wie falsch ich damit lag, merkte ich sehr viel später).

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  7. Etwas verspätet, aber das Thema interessiert mich sehr. Ich habe auch kleine Kinder und die Analyse ist vollkommen klar: Die meisten Kindergottesdienste sind Mist. Völlige Unklarheit über die Zielgruppe, vollständige Beliebigkeit oder zu wortlastig für die Kleinsten, es gibt nichts, was es nicht gibt. Aber haben Sie einen guten Gegenvorschlag? Was ist die Konsequenz? Ich finde es einfach wahnsinnig schwer für Kinder zwischen 3 und 6 Jahren etwas gutes zu machen. (Davor steht m.M.n. das rein sinnliche Erleben im Vordergrund.) Sollte Katechese nach Art der alten Kinderkatechismen versucht werden? Sollte man versuchen, eine kindliche Gebetssprache zu entwickeln, unterstützt durch viel Sinnenfälliges? Würde mich über Anregungen freuen.

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