...oder: Die Grenzen des aufgeklärten Absolutismus
Wie berichtet, war ich jüngst mit Frau und Kind eine Woche lang in der schönen Wesermarsch, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Wie ich wohl auch schon mal erwähnt habe, liegt die Wesermarsch zwar in der Nähe von Ostfriesland, gehört aber nicht im eigentlichen Sinne zu Ostfriesland. Es gibt gewisse kulturelle Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. So trinken die Bewohner der Wesermarsch zwar durchaus gern Ostfriesentee, machen aber nicht so ein Riesen-Trara darum.
Wie ich gelesen habe, wurde die "Ostfriesische Teekultur" im Jahr 2016 zum "immateriellen Kulturerbe" erklärt. Da frage ich mich: "Was heißt hier immateriell? Irgendwer wird den Tee schließlich bezahlen müssen!"
Und das ist, wenn man's genauer betrachtet, tatsächlich ein Problem. Schließlich wächst der Tee nicht in Ostfriesland, sondern muss importiert werden.
Laut Tante Wiki werden in Ostfriesland jährlich (Stand: 2016) 300 Liter Tee pro Kopf konsumiert, was in etwa dem Elffachen des Pro-Kopf-Teekonsums im übrigen Deutschland entspricht. Historisch gesehen verdanken die Ostfriesen ihre Bekanntschaft mit dem Tee ursprünglich der Nähe zu den Niederlanden, denen es Ende des 16. Jhs. erstmals gelungen war, mit eigenen Schiffen den Seeweg nach Indien (bzw. dem heutigen Indonesien) zurückzulegen. Ich besitze einen sehr spannenden Abenteuerroman über die erste erfolgreiche niederländische Ostindien-Expedition, aber das nur nebenbei. Um 1610 brachten die Niederländer erstmals Tee nach Europa, der bald darauf auch den Weg nach Ostfriesland fand; zunächst wurden Aufgüsse der exotischen Blätter aber lediglich als Medizin verwendet. Um 1720 existierte in Ostfriesland jedoch bereits ein umfangreicher Teehandel, und der Konsum von Tee als Genussmittel griff im Laufe des 18. Jhs. mehr und mehr um sich.
Und damit fingen, wie schon angedeutet, die Probleme an. Der damals vorherrschenden wirtschaftspolitischen Theorie des Merkantilismus zufolge war die Einfuhr von Konsumgütern aus dem Ausland in größerem Umfang nämlich eigentlich unerwünscht -- wegen des damit verbundenen Geldabflusses ins Ausland und der Schwächung der einheimischen Produktion. Und wer war es wohl, der aus diesem Grund den abenteuerlichen Versuch unternahm, den Ostfriesen das liebgewonnene Teetrinken wieder abzugewöhnen? Natürlich der Alte Fritz.
Ja, tatsächlich: der Alte Fritz, Friedrich II., König von Preußen, von der deutschnationalen Geschichtsschreibung auch "der Große" genannt. Der war nämlich seit 1744 auch Fürst von Ostfriesland. Wie es dazu gekommen war, ist eine Geschichte für sich: Die Ostfriesischen Landstände standen nämlich seit langem auf Kriegsfuß mit den einheimischen Fürsten aus dem Hause Cirksena, die das Land seit 1464 beherrschten, und da der seit 1734 amtierende Fürst Carl Edzard keine leiblichen Erben hatte, arbeiteten die Landstände unter Federführung des Magistrats der Stadt Emden einen Vertrag - die Emder Konvention - aus, die vorsah, dass, sollte der Fürst ohne Nachkommen sterben, der König von Preußen seine Nachfolge antreten sollte. Am 14. März 1744 wurde die Emder Konvention unterzeichnet; am 12. Mai desselben Jahres erlitt Fürstin Wilhelmine Sophie eine Fehlgeburt; vier Tage später erkrankte Fürst Carl Edzard nach dem Genuss eines Glases Buttermilch schwer und starb am 25. Mai im Alter von noch nicht 28 Jahren. Am 7. Juni marschierten die Preußen in Ostfriesland ein, am 23. Juni huldigten die Landstände Friedrich II. als neuem Landesherrn. Ob diese bemerkenswert rasche Abfolge der Ereignisse wirklich Zufall gewesen sein kann, ist in der Geschichtsforschung umstritten.
Jedenfalls verfügte Preußen nun erstmals über einen Nordseehafen, nämlich Emden; und dies weckte nun in Friedrich II. die Hoffnung, selbst groß in den Überseehandel einsteigen zu können. Zu diesem Zweck gründete er 1751 die "Königlich Preußische Asiatische Compagnie in Emden nach Canton und China", die Tee, Porzellan und Seide ins Land einführte. Unter diesen neuen Voraussetzungen war der Teekonsum der Ostfriesen plötzlich gut fürs Geschäft und wurde staatlicherseits gefördert; aber die Erfolgsgeschichte der Emder Handelskompanie war von kurzer Dauer. 1757 wurde Emden im Zuge des Siebenjährigen Krieges von französischen Truppen besetzt, was den Kompaniedirektor veranlasste, unter Mitnahme des flüssigen Kapitals und eines der vier Schiffe der Kompanie in die Niederlande zu flüchten; zwei weitere Schiffe wurden abgetakelt, das vierte, das sich gerade auf der Rückreise von China befand, kehrte unter diesen Umständen gar nicht mehr nach Emden zurück, sondern lief stattdessen Plymouth in England an. Im weiteren Verlauf des Krieges diente Ostfriesland noch mehrfach als Durchmarschgebiet verschiedener Armeen, 1761 wurde Emden erneut von den Franzosen eingenommen. Aber auch nach Kriegsende nahm die Kompanie ihre Tätigkeit nicht wieder auf und wurde schließlich 1765 aufgelöst.
Die Folge war, dass die Ostfriesen ihren Tee wieder von anderen europäischen Mächten beziehen mussten. Und das schmeckte dem Alten Fritz natürlich nicht.
Nicht in Emden, aber ungefähr zur selben Zeit: Eine Tea Party der besonderen Art. (gemeinfrei) |
Die bald nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges einsetzenden Versuche des Monarchen bzw. der preußischen Verwaltung, die Einfuhr von Tee nach Ostfriesland zu reglementieren, zu beschränken oder ganz zu unterbinden und den Einheimischen gleichzeitig den Genuss von aus heimischen Pflanzen hergestellten Getränken schmackhaft zu machen, mündeten in den sogenannten "Teekrieg", über den ein weiter oben schon einmal verlinkter Wikipedia-Artikel zu berichten weiß:
"So gab während dieser Zeit, 1778, die Königlich Preußische Polizeidirektion in Aurich beispielsweise einen Erlass heraus, in dem es hieß, durch das Teetrinken würden Gelder und Steuereinnahmen verschwendet, dem Staat Schaden zugefügt. Es wurde vorgeschlagen, besser Zitronenmelisse oder eine Petersilienart zu trinken, anstelle des 'Krautes' aus China. Gefordert wurde auch, mehr Bier zu brauen, da die Zutaten doch im eigenen Land in ausreichender Menge angebaut würden. Auf das Gesetz reagierte man in Ostfriesland mit verstärktem Schmuggel, zivilem Ungehorsam und heimlichem Teetrinken."Heimliches Teetrinken. Das muss man sich mal vorstellen. Und weiter:
"Die ostfriesischen Landstände verfassten am 11. Mai 1779 einen Brief, in dem sie erklärten: 'Der Gebrauch des Thee und Caffe ist hierzulande so allgemein und so tief eingewurtzelt, dass die Natur des Menschen schon durch eine schöpferische Kraft müßte umgekehrt werden, wenn sie diesen Getränken auf einmal gute Nacht sagen sollte.' Nach weiteren zwei Jahren gab der König von Preußen frustriert sein Vorhaben auf und erlaubte seinen ostfriesischen Untertanen wieder den Genuss des 'chinesischen Drachengiftes'."
Okay, zugegeben, das klingt alles hübsch skurril, und das ist auch der Hauptgrund dafür, dass ich dieses Thema hier aufgegriffen habe. Aber gleichzeitig ist es doch auch sehr bezeichnend. Nicht nur für die Hartnäckigkeit und Teeversessenheit der Ostfriesen, sondern auch und vor allem für die Neigung des sogenannten "aufgeklärten Absolutismus", den Leuten in alle Lebensbereiche hineinzuregieren -- in diesem Fall vor dem Hintergrund handfester wirtschaftspolitischer Interessen, aber doch auch, wie stets, mit der Attitüde, besser zu wissen, was gut für die Leute ist, als diese selbst. Der "Alte Fritz" gilt ja weithin als das Paradebeispiel eines aufgeklärten und aufklärerisch gesonnenen Monarchen, und das wohl nicht zu Unrecht; zu hinterfragen wäre aber, ob das tatsächlich eine positive Auszeichnung ist bzw. sein sollte. Ob es nicht vielleicht gerade Fritzens ungebremste Skrupellosigkeit war, die ihn zu einem prototypischen Monarchen der Aufklärung machte. Es heißt, im aufgeklärten Absolutismus sei das Selbstverständnis des Herrschers das des "ersten Dieners des Staates" gewesen; das klingt gut, aber verschwiegen wird dabei zumeist, dass der übrigen Bevölkerung in diesem Modell auch nur die Rolle weiterer "Diener des Staates" zugedacht ist. Der Staat ist nicht für die Menschen da, sondern die Menschen für den Staat: Der aufgeklärte Absolutismus ist eine frühe Erscheinungsform totalitärer Herrschaft, die die späteren Ausprägungen des Totalitarismus vorbereitet und in vielen Punkten bereits vorwegnimmt.
Aber an den ostfriesischen Dickschädeln mit ihrer unbesiegbaren Leidenschaft für Tee hat sich der Alte Fritz dann doch die Zähne ausgebissen, ebenso wie später Napoleon und noch später die Nazis. Hat ja auch was Beruhigendes.
Sehr interessant!
AntwortenLöschenAber immerhin hat der Alte Fritz in derselben absolutistischen Manier auch die Kartoffel eingeführt. Will sagen: Der aufgeklärte Absolutismus in all seiner Grässlichkeit hatte auch *eine* sehr gute Folge. (Ich liebe Kartoffeln.)
- Crescentia.
Ich trinke deutlich über 300 Liter Tee im Jahr, aber bevor es dieses modrige Ostfriesenzeugs wäre, würde ich (als rheinischer Katholik)das erste Mal den Preußen folgen und Zitronenmelisse aufgießen.
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