Sonntag, 20. August 2017

Heul doch nicht, Pissgesicht

Ich bin nur ein Arbeiterkind - gleichzeitig aber auch Doktor der Philosophie, und das ist ein Problem. Also, die Kombination aus beidem ist ein Problem, nämlich eines, das einem einen bunten Strauß aus unterschiedlichen Akzeptanzschwierigkeiten beschert. Denn das Milieu, in dem man aufgewachsen ist, das wird man nicht los, was auch immer man später im Leben lernt; aber das, was man später im Leben lernt, das wird man auch nicht los, das kommt einfach zu dem Anderen dazu. (Weder das Eine noch das Andere will ich wirklich loswerden, aber das macht die Gesamtsituation nicht unbedingt einfacher.) 

Es gibt einen Song von Peter Fox, in dem Beispiele für Dinge aufgezählt werden, die ein anständiger Mensch nicht tun würde - die aber, da kein Mensch immer anständig ist, so ziemlich jedem mal passieren. Dazu gehört: "Einem Dummen zeigen, dass du schlauer bist". Und was immer man sonst von Peter Fox halten mag: Da hat er Recht. Das ist fies. Aber es unterläuft einem leicht, wenn man's kann. Und man kann das, wenn man aus einer Arbeiterfamilie kommt, aber einen Doktortitel in Philosophie hat. Das ist also, nur mal als Beispiel, etwas, wo ich immer sehr aufpassen muss, mich im Zaum zu halten. Es drohen einem aber auch noch ganz andere Fallen. 

Symbolbild, Quelle: Pixabay 
Ich habe mich zu dem, worauf ich hier eigentlich hinaus will, schon einmal geäußert, und zwar ironischerweise im Zusammenhang mit dem Projekt "Valerie und der Priester". Warum ironischerweise? Weil der konkrete Anlass, hier und jetzt darauf zurückzukommen, aus einer Debatte über das "V&P"-Nachfolgeprojekt "Gott im Abseits" hervorgegangen ist. Aber im Grunde ist der Anlass nebensächlich. Der wäre es normalerweise gar nicht wert, dass vernunftbegabte Menschen sich deswegen streiten. 

Worum also geht's eigentlich? Um erlerntes Kommunikationsverhalten. Im Allgemeinen neigt das Arbeiterkind dazu, wenn es Scheiße riecht, laut und deutlich zu sagen: "Hier reicht's nach Scheiße". Möglicherweise lernt das Arbeiterkind im Laufe seines Bildungswegs, dass es unter Umständen besser ankommt, diese Beobachtung in etwas zurückhaltendere Worte zu kleiden. Wenn die Scheiße es aber zu arg in die Nase sticht, wird es instinktiv zur alten Direktheit zurückkehren. Als Arbeiterkind findet man es völlig normal, jemandem, den man als einigermaßen gleichrangig betrachtet oder dafür hält, zu sagen: "Ich finde, das und das, was du gemacht hast, war totale Scheiße." (Das "Ich finde" wird da gegebenenfalls auch mal weggelassen.) Wenn der so Angesprochene darauf antwortet "Ich kann deine Scheiß-Fresse auch nicht leiden", ist das vielleicht keine ganz sachgemäße Reaktion, aber das Arbeiterkind kann damit umgehen. Nötigenfalls setzt es gegenseitig zwei, drei zünftige Schläge aufs Maul, und dann kann man sich bei einem großen Bier vom Fass seiner grundsätzlichen gegenseitigen Wertschätzung versichern (was den einen oder anderen "Deine Mudder"-Witz nicht ausschließt, unter Umständen sogar erfordert).  Man geht auseinander, und keiner hat an seiner Würde Schaden genommen. 

Was das Arbeiterkind hingegen überhaupt nicht beherrscht, ist subtile Bosheit. Auch hier gilt: Im Laufe seines Bildungswegs erlernt das Arbeiterkind unter Umständen durchaus, wie so etwas theoretisch geht. Es liegt ihm aber nicht. Was nicht bedeutet, dass es nicht in der Lage wäre, subtile Bosheit als solche zu erkennen. Es kann aber nicht adäquat darauf reagieren. Wie gesagt: Mit direkten Beleidigungen umzugehen, dafür gibt es in seiner Welt sozusagen ein kulturell eingeübtes Protokoll. Teilt man ihm aber eher durch die Blume mit "Du bist wertlos und hast überhaupt keine Meinung zu haben", ist das - sonst keinem verbalen oder zur Not auch körperlichen Schlagabtausch abgeneigte - Arbeiterkind unversehens entwaffnet, rennt nach Hause und kauert sich schluchzend in einen Winkel. 

So ging es mir vor ein paar Tagen. Nicht wortwörtlich so, aber es war schon nah dran. 

Nun, mit etwas Abstand, denke ich mir - sicher wissen kann ich es natürlich nicht -: Bei Leuten, die in einem anderen Milieu aufgewachsen sind, ist es womöglich genau umgekehrt. Da lernt man vielleicht von klein auf, in Form subtiler Bosheiten zu kommunizieren, und kann diese genauso souverän austeilen wie einstecken. Aber wenn in diesen Kreisen mal jemand "Arschloch!" sagt, sind alle schockiert und hüsteln in ihre Stoffservietten. 

Und das war es dann - aus meiner Sicht -, was im vorliegenden Fall zu dem führte, was eine persönlich unbeteiligte Freundin als "Fiasko aus Beschimpfungen, Entfreundungen und gegenseitige[m] Blockieren[]" beschrieben hat. Mit dem ursprünglichen Thema der Auseinandersetzung hatte das längst nichts mehr zu tun. Sondern nur noch mit der Frage, wer eigentlich wen zuerst beleidigt habe. Das bereits heulend in der Ecke liegende Arbeiterkind empfindet es schlicht und einfach als Mobbing, wenn nun noch unbeteiligte Dritte auf der Bildfläche erscheinen und Haltungsnoten verteilen. Wie früher meine Grundschulklassenlehrerin, nur dass die vermutlich auch noch meine Mutter angerufen hätte. 

Was können wir nun aus alledem lernen? Ehrlich gesagt warte ich diesbezüglich noch auf eine Erleuchtung, aber meine kluge Frau hat mir schon mal ein paar Fingerzeige gegeben. Sie meint, lernen könne man daraus zum Beispiel, dass und warum solche Kommunikationsfallen, die ja schon im "Real Life" nicht selten dräuen, durch die Mechanismen Sozialer Netzwerke noch erheblich verschärft werden. Weil man sich da nicht in die Augen sehen kann, vor allem aber, weil persönliche Auseinandersetzungen dort mehr oder weniger zwangsläufig vor den Augen Dritter ablaufen, die ihrerseits immer nur einen beschränkten Blickwinkel darauf haben, was eigentlich gerade abgeht. Das Hauptproblem ist womöglich aber, dass es - im Unterschied zum Prinzip "Kneipenschlägerei mit Versöhnungsbier" - keinen kulturell eingeübten Weg gibt, aus solchen Auseinandersetzungen ohne Gesichtsverlust wieder herauszukommen. Da müsste wohl mal jemand was erfinden. 

All dies in Rechnung gestellt, finde ich, dass das "Fiasko aus Entfreundungen und gegenseitigem Blockieren" im Endergebnis einen noch verhältnismäßig überschaubaren Umfang gehabt hat. Dafür bin ich meinen verbleibenden Freunden sehr dankbar. Und mit dem Heulen habe ich inzwischen auch wieder aufgehört. 


[Schlussanmerkung: Wer mit der Überschrift nichts anmerken kann, dem sei gesagt, dass das in meiner Grundschulzeit ein beliebter Spottgesang war, gern in betont leierndem Tonfall vorgetragen.] 



5 Kommentare:

  1. Lieber Tobias,
    ich als Professorenkind kenne das gar nicht so anders. Im Moment habe ich große Lust, einige Dutzend Leute zünftig zu vermöbeln, weil sie die logische Darlegung von Sachverhalten nicht verstehen und daraufhin extrem beleidigend wurden. Nächster Akt: Ich zeige, daß ich das mit dem Ausfallend werden auch kann, was mich angreifbar macht. Dann sitz ich heulend in der Kirche und sage So ungefähr: Herr, ich weiß, das ich diesen Mistkerl lieben soll, aber das kann ich nicht. Mach Du es stattdessen, und wenn Du ihm in Deiner großen Liebe zeigst, wie ekelhaft weh ein Knie tun kann, wäre es auch in Ordnung. Amen.

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  2. Ich lese gerade Dumas - "Die Drei Musketiere".
    Dort ist es interessant (aber auch verwirrend) zu sehen, daß sich die Vier erst mit Vier Engländern Duellieren (wobei ein Engländer ins Graß beißen muß) und direkt nach dem Kampf wird D'Artangnan der Schwägerin seines Gegners vorgestellt. Mit höflichstem Zuvorkommen. Quasi das Gegenteil von dem, was du oben schreibst.....

    Aber als Sauerländer haben wir uns auch immer einen zünftig auf die Fresse gegeben und das ganze nacher höflich mit einem gemeinsamen Bier ad acta gelegt.... Nur die nette Schwester wurde mir nie vorgestellt....

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  3. Ohne einen Papierkorb in Extragröße
    kann man als katholischer Blogger nicht
    überleben.
    Wenn ich daran denke, wie oft und in welchen
    Tonarten ich in den letzten Jahren verbal
    "angerotzt" worden bin - und mehrfach mit
    Ermordung bedroht, weil ich blogge -,
    dann kann ich solche Kritik eigentlich nur
    noch augenzwinkernd als eine Sonderform
    des Komplimentes ansehen...
    Mit herzlich-kollegialen Grüßen

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  4. Monika Metternich21. August 2017 um 12:13

    Als wahrscheinlicher Auslöser für diesen Beitrag möchte ich - mit versöhnlicher Intention - noch einen Aspekt beitragen: Normalerweise wäge ich meine Worte sehr bewusst, weil ich niemanden kränken will, nicht mal "aus Versehen". Richtig offen und brutal kritisiere ich nur, wenn ich jemanden als komplett "auf Augenhöhe" empfinde. Also das Gegenteil dessen, als was es hier ankam. Meine Freunde wissen das und machen das umgekehrt genauso. Mein Fehler war, dass ich da etwas unbewusst vorausgesetzt habe, was ich gar nicht voraussetzen konnte, weil wir uns nur schriftlich kennen und nicht persönlich. Darum bitte ich für die Kränkung um Verzeihung. Sie war nie intendiert. Aber ist doch geschehen. Das tut mir wirklich leid.

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    1. Liebe Monika, herzlichen Dank! Und ich bitte meinerseits um Entschuldigung für die Heftigkeit meiner Reaktion.

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