Dienstag, 27. Dezember 2016

Dies ist nicht Stars Hollow

(...schalalala.) 

Mein Heimatstädtchen Nordenham ist flächenmäßig ungefähr so groß wie der Berliner Bezirk Reinickendorf. Allerdings nur dank der diversen eingemeindeten Dörfer und Weiler. Zugegeben, das ist in Reinickendorf nicht so völlig anders - da gibt es ebenfalls abgelegene, eher kleinstädtisch-dörflich anmutende Ortsteile mit malerischen Namen wie Frohnau, Hermsdorf, Waidmannslust und Lübars. Trotzdem hat Reinickendorf auf ungefähr derselben Fläche wie Nordenham fast zehnmal so viele Einwohner. Allein der nur knapp 6 km² große Reinickendorfer Ortsteil Wittenau hat fast so viele Einwohner wie Nordenham. 

Würde man einen durchschnittlichen Nordenhamer fragen, wie viele Ortsteile seine Heimatstadt hat, würde der - wenn er nicht gerade ein Experte für Heimatkunde ist - wohl erst mal ein langes Gesicht machen. Laut Tante Wiki sind es 35 - und die heißen beispielsweise Abbehauserwisch, Butterburg, Enjebuhr, Grebswarden, Heering und Treuenfeld. Der eigentliche Stadtkern ist sehr überschaubar. Da meine Liebste und ich kein Auto haben und es in Nordenham kaum einen nennenswerten öffentlichen Nahverkehr gibt - und an Feiertagen schon gar nicht -, habe ich mal Google Maps konsultiert, um mir einen Überblick zu verschaffen, wie weit unsere temporäre Unterkunft denn zu Fuß von den wichtigen Anlaufpunkte des Städtchens - Kirche, Bücherei, Marktplatz, Fußgängerzone, Bahnhof, Eldorado Bar - entfernt ist. Ergebnis: Die Entfernung zu allen genannten Punkten beträgt zwischen einem und zwei Kilometern. Kein Scheiß. 

Als ich vor gut zwei Wochen im dunkelkatholischen Blogger-Netzwerk ankündigte, ich würde über die Weihnachtstage mit meiner Liebsten nach Nordenham fahren und selbstverständlich darüber bloggen, merkte Anna von Blog "Katholisch ohne Furcht und Tadel" an, ihr komme dieses Nordenham vor "wie Stars Hollow". Dieser Vergleich zwischen meinem Heimatstädtchen und dem Schauplatz der Serie "Gilmore Girls" erheiterte mich ohne Ende - wenngleich mir bei einigem Nachdenken über diesen Vergleich hauptsächlich die Unterschiede auffielen. Zum Beispiel: Im Unterschied zu Stars Hollow hat Nordenham nicht nur eine, sondern sogar zwei lokale Tageszeitungen - aber keine von diesen hat ein Gedicht auf der Titelseite! Auch was schrullig-nostalgische jahreszeitliche Feste angeht, kann Nordenham nicht mit Stars Hollow mithalten. Picknickkorbversteigerung? Heuballenlabyrinth? Nix da! -- Im Ernst: Ich sehe da durchaus Luft nach oben. Zum Beispiel gibt es in Nordenham - was jetzt im Winter nicht so auffällt, im späten Frühjahr bzw. Frühsommer aber umso mehr - bemerkenswert viele Magnolienbäume. Man könnte denken, das Klima wäre hier zu rau für diese Pflanzen, aber nö, die gedeihen prächtig. Wieso wird das nicht touristisch vermarktet? Wieso gibt es kein "Nordenhamer Magnolienblütenfest"? - "Das klingt nach einer Taylor-Idee", meinte meine Liebste, als ich ihr davon erzählte. Na schön. Ich versuche mal, das als Kompliment zu nehmen. 

Einen Weihnachtsmarkt gibt es in Nordenham natürlich, aber der hatte, als meine Liebste und ich in der Stadt eintrafen, bereits geschlossen. Was schade ist, denn der Nordenhamer Weihnachtsmarkt ist berühmt: Sogar Horst Evers hat schon mal darüber geschrieben. Ich hätte meiner Liebsten gern gezeigt, dass dieser Weihnachtsmarkt tatsächlich so ist, wie Horst Evers ihn schildert. Na ja: Hat nicht sollen sein. Noch ärgerlicher ist, dass sich dies womöglich auch in künftigen Jahren nicht wird nachholen lassen - da die Zukunft der Eisbahn, die in der Evers-Geschichte eine zentrale Rolle spielt, einem Bericht der Nordwest-Zeitung zufolge "auf der Kippe" steht. Dieses Jahr allerdings wäre meine Liebste wohl ohnehin nicht aufs Eis gegangen - "El Fußo" hätte da sicherlich Einwände gehabt. 

Pablo, unser kleiner Esel aus dem Zoo Eberswalde, war auch mit in Nordenham. Wie man sieht, hat's ihm gefallen. 

Immerhin war das Wetter ortstypisch: wolkig-trüb, nieselig, Temperaturen zwischen fünf und zehn Grad. Und es kamen regionale kulinarische Spezialitäten auf den Tisch - am 23.12. zum Beispiel Grünkohl mit Pinkel, auf ortsübliche Weise zubereitet von meiner Mutter. Sehr lecker. Eigentlich ein traditionelles Neujahrsessen, aber so lange hatten wir gar nicht vor zu bleiben. -- Eine weitere regionale Spezialität für die Jahresendfeierlichkeiten ist Heringssalat. Dieser traditionellen Speise widmete die NWZ eine Woche vor Weihnachten einen umfangreichen Artikel, aus dem man erfahren konnte, "der Fischsalat" biete "gleich mehrere Vorteile": "er ist regional, schmeckt und macht satt, vor allem aber lässt e[r] sich gut vorbereiten, auch in größeren Mengen - und das unter Einbeziehung der ganzen Familie". Stimmt, das wurde bei uns zu Hause auch so gemacht, als ich ein Kind war. Das Rezept, das die NWZ abdruckte, wich allerdings in einem bemerkenswerten Detail von dem mir bekannten ab: Auf je 500g Rote Bete und Matjeshering wurden hier 150-200g Mettwurst veranschlagt. -- Heringssalat mit Mettwurst? Wer macht denn sowas? "Na ja, so sind die Butjenter: Die tun überall Mett dran", sagte ich zu meiner Liebsten - das stimmt zwar nicht, ist aber eine schöne Behauptung und ergab einen feinen Running Gag für die Weihnachtstage. Zum  Beispiel beim Verzehr von Christstollen zum Kaffee. 
"Hier in der Gegend isst man Christstollen manchmal auch mit Butter." 
"Und Mett."
"NEIN!!" 

(Auch eine schöne, wenngleich fiktive, lokale Spezialität: Tante Christels Christ-Mett. Mit Lebkuchengewürz und Glitzerpuder. Oder so.) 

Am Heiligabend übernahm jedoch meine Liebste die Zubereitung des Essens. Es gab: 

"Weihnachtslachs auf Spinatbett im Blätterteig-Körbchen"! 

Klingt gut? Schmeckt noch besser! Ein Stück Fisch kam allerdings ohne Blätterteighülle in den Backofen. "Daran kann man dann am einfachsten erkennen, wann der Fisch gar ist", erklärte meine Liebste. 
"Ach so", warf ich ein, "das ist also so ähnlich wie mit dem Kanarienvogel im Kohlebergwerk." 
"Ja", bestätigte meine Liebste, "mit dem Unterschied, dass der Lachs schon tot ist." 





(Meine Mitwirkung an der Zubereitung dieses Festmahls beschränkte sich übrigens darauf, den Salat zu waschen und zu zupfen. Letzteres eine sehr langwierige Tätigkeit, aber meine Liebste beruhigte mich: "Das ist bei Feldsalat immer so. Das wird im Märchen Rapunzel durch die jahrelange Gefangenschaft im Turm symbolisiert.")

Inzwischen waren auch meine beiden Schwiegermütter (ja, ich habe zwei, obwohl ich nur eine Frau habe) angereist, um mit uns Weihnachten zu feiern. Zur Kirche gingen meine Liebste und ich allerdings allein, sowohl in der Heiligen Nacht als auch am darauffolgenden Vormittag. Dazu folgt in Kürze noch ein eigener Artikel. Hier erwähne ich das nur deshalb, weil wir auf dem Weg zur Kirche einen unerwarteten Umweg in Kauf nehmen mussten - denn ein Teilstück der Walther-Rathenau-Straße war gesperrt, und zwar einschließlich des Gehwegs. Grund dafür waren Sicherungsbauarbeiten am baufälligen Rathausturm. Über dieses ungeliebte Wahrzeichen der Stadt habe ich ja schon vor über einem Jahr etwas geschrieben. Damals, im Wahlkampf zur Bürgermeisterwahl, hatten sich alle zur Wahl stehenden Kandidaten dafür ausgesprochen, den Turm abzureißen. Nur ich war dagegen gewesen, aber ich habe ja nicht kandidiert. (Was irgendwie immer noch schade ist, schon allein wegen des Magnolienblütenfests.) Nun, 14 Monate später, steht der Turm immer noch - allerdings abzüglich einiger unbotmäßiger Fassadenteile, die sich eigenmächtig verabschiedet haben. Ende Juli beschloss die Stadt Nordenham, als Sofortmaßnahme zum Schutz von Passanten gegen diese herabfallenden Betonbrocken Sperrgitter aufzustellen; zwischenzeitlich war geplant, die Walther-Rathenau-Straße mit einem 37,5 m langen Tunnel zu sichern - was Ende September aber wieder verworfen wurde, und zwar aus Kostengründen. Stattdessen wurde eine provisorische Fassadensanierung beschlossen, für schlappe 300.000 Euro. Merken wir uns diese Zahlen für künftige Diskussionen darüber, dass die Stadt Nordenham notorisch knapp bei Kasse sei. Abgerissen werden soll der Turm nämlich letzten Endes wohl doch - nur nicht jetzt, sondern erst in vier Jahren oder so. Die komplette Rathausturm-Saga kann man nachlesen, wenn man in die Archivsuche von NWZ online den Suchbegriff "Rathausturm" eingibt. Ich kann nur sagen: Die Schildbürgerstreiche sind nichts dagegen.

Meine Schwiegermütter waren übrigens, anders als meine Liebste und ich, mit dem Auto gekommen, und das nutzten wir, um am Nachmittag des 25. Dezembers alle zusammen eine Rundfahrt durch Butjadingen zu machen. Für mich lauerten da Kindheitserinnerungen an jeder Ecke. Leider war das Wetter garstig - so garstig, dass die Bauern sogar die Kühe reingeholt hatten. Am "Preußeneck" in Eckwarderhörne stiegen wir trotzdem aus und spazierten ein wenig am Wasser entlang. Und nebenbei konnte ich mit meinen heimatkundlichen Kenntnissen Eindruck schinden - nicht umsonst bin ich schon mehr als mein halbes Leben lang Mitglied im Rüstringer Heimatbund... (Wozu mir einfällt: Müsste es nicht nach 25jähriger Mitgliedschaft eine Ehrennadel oder sowas geben? Da muss ich wohl mal nachhaken, denn die wäre bei mir allmählich überfällig.)





Und am Abend stand dann für meine Liebste und mich eine Kneipentour auf dem Programm - nachdem wir den Freitagabend gepflegt im Bistro am Markt und den Heiligabend teils im Kreise der Familie und teils in der Kirche verbracht hatten. Schon als ich das erste Mal zusammen mit meiner Liebsten in Nordenham gewesen war, hatte ich ihr die Kultkneipe Eldorado zeigen wollen, aber da hatte die zu gehabt. Dieses (sub-)kulturelle Highlight galt es nun also nachzuholen; aber zuvor wollte ich mir mit ihr noch zwei andere Kneipen ansehen, die es bei unserem vorigen Nordenham-Aufenthalt entweder noch nicht gegeben hatte oder deren Existenz uns seinerzeit irgendwie entgangen war. Das betraf an erster Stelle das "Jenseits". Im Vorfeld meines diesjährigen Weihnachts-Trips nach Nordenham hatte mit ein früherer Mitschüler via Facebook mitgeteilt:
"Ich war gerade vor ein paar Tagen dort. Theologisch am interessantesten fand ich allerdings die Tatsache, dass es dort (länger schon? erst jetzt?) eine Kneipe gibt, die den schönen Namen 'Jenseits' trägt. Man kann sich also in Nordenham jetzt im Jenseits verabreden oder sich dadurch entschuldigen, dass man gerade im Jenseits war..."
Angeregt durch diese Mitteilung hatte ich ein bisschen im Netz recherchiert und war auf ein Foto gestoßen, das ich später bemerkenswerterweise nicht mehr wiederfand, das aber den (wie sich zeigte, irrigen) Eindruck erweckte, das "Jenseits" befinde sich in einem ganz normalen Wohnhaus. "Als hätte da jemand kurzerhand sein Wohnzimmer zu einer Kneipe deklariert", sagte ich zu meiner Liebsten und meiner Mutter.
"Wer weiß, vielleicht ist ja genau das wirklich der Fall."
"Wäre aber wohl gar nicht so leicht, dafür eine Konzession zu kriegen", gab ich zu bedenken.
"Na ja, vielleicht ist es ja auch umgekehrt, und der Wirt hat seine Kneipe mit großem Aufwand so gestaltet, dass sie wie ein Wohnzimmer aussieht."

Hm... An sich gar kein doofes Konzept.

"There's a world outside your Wohnzimmer 
Und da willst du gar nicht hin 
Bleib doch mal zu Hause und trink hier!" 

(Alternative Textvariante: "und trink Bier"...) 

In Wirklichkeit sah das "Jenseits" aber ganz anders aus als erwartet:


Das Whisky-Sortiment in diesem Lokal erwies sich als sehr überschaubar - der einzige Scotch, den man hier kriegen konnte, war Johnny Walker -, aber dafür wurde das güldene Nass nach Augenmaß eingeschenkt, und zwar sehr reichlich. Dazu gab es König Pilsener aus Weizenbier-Gläsern. Die Portionsgrößen der Getränke in Verbindung mit den wirklich äußerst günstigen Preisen veranlassten uns, länger im "Jenseits" zu bleiben, als wir ursprünglich vorgehabt hatten. Schließlich zogen wir aber doch weiter ins "Millenium", denn da gab es Live-Musik. Wenn mich jetzt jemand darüber belehren will, dass "Millennium" mit ZWEI N geschrieben wird, kann ich nur erwidern: Sagt das nicht MIR.


Eine ehemalige Mitschülerin, die wir schon am Freitagvormittag in der Stadt getroffen hatte, hatte uns ausdrücklich vor der Band, die im "Millenium" auftrat, gewarnt, aber natürlich mussten wir trotzdem hin, oder gerade deswegen. Allerdings wurden wir von den Schallwellen, die aus den Boxen drangen, praktisch direkt wieder aus dem Laden 'rausgespült. Nee, im Ernst: Es war viel zu laut für einen so kleinen Raum. Also auf dem Absatz kehrtgemacht und ab ins Eldo.

Das Bild steht NICHT auf dem Kopf. 
Besagtes Kult-Lokal hatte gerade erst aufgemacht, aber der einzige Gast, der sich schon vor uns dort eingefunden hatte, war tatsächlich ein alter Bekannter von mir, zudem einer, den ich seit mindestens zehn Jahren (können auch schon 15 gewesen sein) nicht gesehen hatte. Wir hatten uns also viel zu erzählen, auch meine Liebste beteiligte sich lebhaft an dem Gespräch, und bald füllte sich das Eldo dann auch beträchtlich. Unter den Gästen waren weitere alte Bekannte, das Bier war billig, die Bedienung prompt, und die Musik -- kam, was zu den interessantesten Besonderheiten des Eldo gehört, aus einer Jukebox. Das ist vor allem deshalb so klasse, weil sich auf diese Weise die Zusammensetzung des Publikums ziemlich gut in der Musikauswahl abbildet. So kam an diesem Abend ein buntes Potpourri aus Punk, R'n'B, Beatles, Guns 'N Roses, Nirvana und Schlagern zu Gehör, und ich war endlich mal nicht der einzige Kneipengast, der den einen oder anderen Song lauthals mitsang.

Zwischendurch erfuhr ich über Facebook, dass George Michael verstorben war - und fast unmittelbar darauf ertönte aus der Jukebox -- nein, NICHT "Last Christmas", sondern sein 1987er Solo-Hit "Faith". Allerdings nicht im Original, sondern in einer krass krachigen Punk-Coverversion. Zufall oder Absicht? Beides wäre dem Eldo, beziehungsweise seinem Publikum, durchaus zuzutrauen.


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