Montag, 26. Oktober 2015

Mit mancherlei Beschwerden

HINWEIS: Der folgende Beitrag erschien zuerst - leicht bearbeitet und unter dem Titel "Was Heimat ist" - am 10.10.2015 in der Zeitung Die Tagespost, S. 9. 



Für die einen ist es Kitsch, für die anderen Ideologie, für wieder andere einfach ein Stück Lebensgeschichte und Lebensgefühl: Der Begriff „Heimat“ hat viele Facetten und eine wechselvolle und in Teilen durchaus nicht unproblematische Geschichte. Nun versuchte eine Themenwoche der ARD, sich dem Heimatbegriff im Zusammenhang mit der derzeitigen Flüchtlingswelle anzunähern. Zentral für diesen Ansatz ist es, dass der Begriff der Heimat stets komplementär zu dem der Fremde zu denken ist; zu diesem Diskurs hätte auch das christliche Welt- und Menschenbild einiges beizutragen.  

Der vielschichtige, oft umstrittene  Begriff „Heimat“ bildete den Anlass und Mittelpunkt einer ARD-Themenwoche vom 04.-10. Oktober 2015. In einer Pressemitteilung erklärte der Programmdirektor des Ersten Deutschen Fernsehens, Volker Herres, es sei notwendig, „über den Begriff der Heimat neu nachzudenken“ – gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingskrise, die deutlich mache, „wie wichtig Heimat im Angesicht des millionenfachen Verlusts derselben“ sei.

Zum Auftakt der Themenwoche stellte die ARD eine „O-Ton-Collage“ aus den Antworten von Schauspielern und anderen Prominenten auf die Frage „Was bedeutet Heimat für Sie?“ zusammen. Die Fragestellung impliziert bereits, dass der Begriff „Heimat“ nicht fixiert ist: Es handelt sich offenbar um eine weitgehend abstrakte Kategorie, die, um konkret zu werden, individuell unterschiedlich „gefüllt“ werden kann und muss – etwa auf der Grundlage eigener biographischer Erfahrungen. „Heimat“, so scheint es, ist in erster Linie emotional besetzt; so zieht sich durch die Statements der befragten Prominenten wie ein roter Faden die Auffassung, „Heimat“ sei vor allem ein „Gefühl“.

Das war allerdings nicht immer so. Wie der Volkskundler Hermann Bausinger herausgearbeitet hat, herrschte bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts „eine sehr enge und konkrete Vorstellung“ von Heimat vor, die an den Besitz von Haus und Hof gebunden war. Eng damit verknüpft war die Bedeutung von „Heimat“ als Rechtsbegriff: Heimatrecht bedeutete – so der Philosoph Rainer Piepmeier – die „rechtlich verbindliche Zugehörigkeit zu einer Gemeinde“ und war „bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes“, also bis 1867, „in den meisten deutschen Staaten Voraussetzung für die Ausübung wichtiger Rechtsbefugnisse“. Wie Bausinger betont, entsprach und entsprang dieses Heimatrecht „den Prinzipien einer stationären Gesellschaft“ und wurde „problematisch, als die wirtschaftliche Entwicklung eine immer größere Mobilität erforderte“. Gerade dieser Bedeutungsverlust von „Heimat“ als konkreter, objektiver rechtlicher Kategorie ging mit einer emotionalen Aufladung des Heimatbegriffs einher. „Der Heimatbegriff wird nun frei, Bedeutungen anzunehmen, die den Ersatz für das bezeichnen, was mit den alten Bindungen verlorenging“ (Piepmeier). Exemplarisch ist dieser Prozess anhand der seinerzeit enorm populären Dorfgeschichte „Barfüßele“ (1856) von Berthold Auerbach zu beobachten: In der Geschichte zweier Waisenkinder, die auf die Unterstützung der Dorfgemeinschaft an jenem Ort angewiesen sind, an dem sie „Heimatrecht“ haben, ist die alte Bedeutung des Heimatbegriffs noch präsent, gleichzeitig weist der Text bereits eine starke Tendenz zur Idealisierung und Emotionalisierung von „Heimat“ auf. In dem Maße, in dem infolge von gesteigerter Mobilität, Gewerbefreiheit und der Sogwirkung der Industrie, die die arme Landbevölkerung in die Städte zieht, die Bindung an den angestammten Boden als ökonomische Notwendigkeit ihre Selbstverständlichkeit verliert, wird sie umso stärker ideologisch aufgeladen und als „schicksalhaft“ apostrophiert. So entwickelt der Heimatdiskurs durch die Idealisierung anachronistischer Lebens- und Wirtschaftsformen im überschaubaren ländlichen Raum einen ausgeprägt regressiven, reaktionären Zug der Verweigerung gegenüber den Herausforderungen der Moderne.

Diesen regressiven Aspekt ist der Begriff „Heimat“, trotz aller Wandlungen, die er seit dem 19. Jahrhundert durchgemacht hat, bis heute nicht gänzlich losgeworden. So reflektierten etwa die Heimatfilme der 1950er Jahre zwar – entgegen verbreiteter Annahmen – durchaus zeittypische Probleme der Nachkriegszeit (wie Generationenkonflikte, zerbrochene Ehen, soziale Folgen ökonomisch-technischer Modernisierung, Auseinandersetzungen um Berufstätigkeit von Frauen), aber durch die Ansiedlung der Handlung in einem anachronistischen dörflichen Milieu in idyllischer, vom Krieg verschont gebliebener Landschaft, durch die weitestgehende Ausblendung der von NS-Diktatur und Krieg geprägten jüngsten Vergangenheit und durch das unweigerliche „Happy End“ wurde dieses Problembewusstsein sogleich wieder beschwichtigt. Erst ab Mitte der 1970er Jahre machte sich eine Tendenz zu verstärkt sozialkritisch ausgerichteten „Neuen Heimatfilmen“ bemerkbar, die sich gezielt den Schattenseiten der vermeintlichen ländlichen Idylle zuwandten und „Heimat“ nicht mehr nur als Sehnsuchtsort, sondern auch als Ort der Bedrückung in Szene setzten.

Schon in der Heimatliteratur des 19. Jahrhunderts wie auch in Heimatfilmen sowohl der „klassischen“ als auch der neueren, sozialkritischen Schule war die Frage nach der Möglichkeit der Integration von Außenseitern ein wiederkehrendes Thema. Somit erscheint es keineswegs abwegig, dass die ARD mit ihrer Themenwoche „Heimat“ einen Beitrag zur Integrationsdebatte zu leisten beabsichtigte. Verschiedene Beiträge widmeten sich explizit dem „fremden Blick“ von Flüchtlingen und anderen Zuwanderern auf die deutsche Gesellschaft und Kultur.

In einer Pressemitteilung der DeutschenBischofskonferenz würdigte deren Vorsitzender Reinhard Kardinal Marx die ARD-Themenwoche „Heimat“ als „wichtige[n] Beitrag zur Integration in unserem Land“ und mahnte einen „Schritt von einer Willkommenskultur hin zu einer Integrationskultur“ an: „Vermitteln wir Menschen, die auf der Flucht sind, das Gefühl einer neuen Heimat? Sind wir tolerant genug, um anderen Heimat zu schenken?“ Der Begriff Heimat, so Kardinal Marx, vermittle „Hoffnung auf Zugehörigkeit und Gemeinschaft“.

Eine Problematisierung des Heimatbegriffs findet in dieser Stellungnahme des DBK-Vorsitzenden offenkundig nicht statt – und, was noch auffälliger ist, ebensowenig der Versuch einer genuin christlichen Bestimmung dieses Begriffs, wie er etwa in dem populären Kirchenlied „Wir sind nur Gast auf Erden“  von Georg Thurmair zu finden ist: „Wir sind nur Gast auf Erden, / Und wandern ohne Ruh' / Mit mancherlei Beschwerden / Der ewigen Heimat zu“. Die Aussage, für Christen sei die wahre, die eigentliche Heimat nicht in dieser Welt zu finden, bildet ein starkes Korrektiv zu der Vorstellung, Heimat sei etwas, das die Einen „haben“ und die Anderen nicht – was letztlich auf die Vorstellung hinausliefe, Integration sei gewissermaßen ein Gnadenakt der „Besitzer“ von Heimat gegenüber den Heimatlosen. – Bereits im August dieses Jahres erschien auf der Facebook-Seite des Passauer Bischofs Stefan Oster ein Beitrag, in dem dieser – ohne direkt auf Thurmairs Verse Bezug zu nehmen – die Aussage, Christen seien letztlich „nur Gast auf Erden“, bekräftigte; und bemerkenswerterweise stand dieser Beitrag ebenfalls im Zusammenhang mit den Herausforderungen der aktuellen Flüchtlingswelle: In einem engagierten Appell gegen Fremdenfeindlichkeit erinnerte Bischof Oster daran, dass „gläubige Christen […] in gewisser Weise selbst Fremde“ seien, „überall, weil ihre eigentliche Heimat eine andere ist als die, in der wir hier leben“, und untermauerte dies mit Verweisen auf Hebräer 11,16 („nun aber streben sie nach einer besseren Heimat, nämlich der himmlischen“) und Philipper 3,20 („Unsere Heimat aber ist im Himmel“). Jesus Christus selbst erscheint in den Evangelien geradezu als Prototyp des Menschen, der auf Erden keine Heimat hat. Als Er im Alter von zwölf Jahren mit seinen irdischen Eltern den Tempel besucht, will Er dort am liebsten gar nicht mehr weg – weil dies das Haus Seines Vaters sei (vgl. Lukas 2,41-49). Später macht Er die Erfahrung, dass gerade in Seiner Heimatstadt Nazaret, wo man Ihn als „den Zimmermann, den Sohn der Maria und Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon“ zu kennen meint, am wenigsten an Seine göttliche Sendung geglaubt wird: „Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat, bei seinen Verwandten und in seiner Familie" (Markus 6,3-4). Folgerichtig distanziert Er sich beinahe schroff von herkömmlichen familiären Bindungen: „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? [...] Wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter“ (Matthäus 12,48.50).

Hier zeigt sich: Während die Bindung an irdische Instanzen der Identitätsstiftung wie Heimat und Familie sowohl ausgrenzenden als auch eingrenzenden (und damit tendenziell einengenden) Charakter hat, weitet der Hinweis auf den himmlischen Vater den Blick für die gemeinsame Gotteskindschaft aller Menschen. „Der Glaube vereint Menschen und überschreitet Grenzen“, betont Bischof Oster in seinem oben bereits zitierten Facebook-Beitrag: „[W]eil unser Gott der Schöpfer aller Menschen ist und weil Christus für alle Menschen gestorben ist, sind in dieser Hinsicht auch alle Menschen Geschwister der einen Menschheitsfamilie – und eben nicht einfach Fremde.“ Nicht zuletzt ruft die Botschaft des Evangeliums die Christen dazu auf, gerade in den Fremden, den Heimatlosen und Unbehausten das Ebenbild Christi zu erkennen – jenes Christus, der von sich selbst sagt: „Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Matthäus 8,20).

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Literaturhinweise:

Hermann Bausinger: Heimat in einer offenen Gesellschaft. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte. In: Will Cremer/Ansgar Klein (Hg.): Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven. Bd. I. Bielefeld 1990, S. 76-90



Rainer Piepmeier: Philosophische Aspekte des Heimatbegriffs. In: Cremer/Klein (Hg.): Heimat. A.a.O., S. 91-108. 


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