Sonntag, 31. Mai 2015

Der Fußballgott, der Gott der Ruhe und die Götter des Dschungels

„Unsere Hoffnung gründet sich auf das Sportpublikum. Unser Auge schielt, verbergen wir es nicht, nach diesen ungeheuren Zementtöpfen, gefüllt mit 15.000 Menschen aller Klassen und Gesichtsschnitte, dem klügsten und fairsten Publikum der Welt.“

Das schrieb Bertolt Brecht im Jahr 1926, und mit dem „Wir“, das den Sport um dessen Publikum beneidet, meinte er das Theater. Er hätte ebensogut auch die Kirche meinen können. Nun gut: damals, 1926, vielleicht noch nicht. Aber heute ganz bestimmt. Es ist ja wahr: Sportereignisse – in besonderem Maße Fußballereignisse – lösen bei zahllosen Menschen ein Ausmaß an Euphorie, Enthusiasmus, ja Ekstase aus, von dem Religionsgemeinschaften bei ihren Anhängern nur träumen können. Bei Welt- und Europameisterschaften wird dies regelmäßig zu einem Massenphänomen, das auch Menschen ergreift, die sich sonst kaum für Fußball interessieren; aber auch im Vereinsfußball gibt es Ereignisse, bei denen Tausende von Menschen – sei es im Stadion oder vor dem Fernseher – so ergriffen mitfiebern, als hinge ihr persönliches Wohl und Wehe davon ab, ob „ihr“ Verein den DFB-Pokal gewinnt, die Qualifikation für die Champions' League erreicht oder in die 2. Liga absteigt. Kein Wunder, dass dabei auch Gebete zum „Fußballgott“ nicht fehlen.

Ebenfalls kein Wunder ist es, dass sich „bei Kirchens“ Mancher fragt, was man tun könnte, um bei den Menschen eine ähnlich große Begeisterung für das eigene „Angebot“ hervorzurufen. Okay, wenn der Papst zu Besuch ist, dann schafft man es auch schon mal, ein Fußballstadion zu füllen. Aber sonst?

Im Sinne des (wie es scheint) obersten pastoralen Grundsatzes, „die Menschen da abzuholen, wo sie stehen“, wird in Hochphasen der Fußballbegeisterung gern darauf gesetzt, das Thema Fußball in die Kirche hineinzuholen. Da wimmelt es in den Predigten von Fußballmetaphern, Gemeindereferenten treten mit Bayern-München-Schals an den Ambo, und das Online-Portal katholisch.de befragt die „zuständigen“ Bischöfe von fünf abstiegsbedrohten Bundesligaklubs (beim sechsten, Hertha BSC, herrscht gerade Sedisvakanz) nach ihren Tipps für den letzten Spieltag – „und nach einem Bibelzitat für Club und Fans“. (Für das Erzbistum Hamburg bzw. den HSV äußerte sich übrigens der emeritierte Erzbischof Werner Thissen, da sein Nachfolger Stefan Heße sich – wie er jüngst in einem Interview mit der WELT gestand – nicht für Fußball interessiert.) Und dann war ja gerade Pokalfinale in Berlin, und zu diesem Anlass gab es in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche einen ökumenischen Gottesdienst unter dem Motto „Doppelpass“. In der Predigt ging es um „das Doppelgebot der Liebe als 'genialen Doppelpass Jesu'“:

„Das Liebesgebot finde sich im Kern auch wieder im 'Fairplay' als höchstem Gebot für Spieler, Fans und Funktionäre […]. 'Wo es nicht eingehalten wird, wird der Fußball zerstört' […]. Das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe ziele darauf, 'gut miteinander zu leben'. Gott sei ein 'Liebhaber des Lebens' und traue den Menschen zu, fair miteinander umzugehen. […] Jeder Gottesdienst biete [...] die Gelegenheit, den 'Doppelpass Gottes und sein unverdientes Fairplay an uns mit Freude und Dank zu feiern'.“

Wie finde ich das? Doof finde ich das. Der Fußballgott ist heute, um mal ein berüchtigtes Zitat von John Lennon abzuwandeln, „beliebter als Jesus“; und die Kirchen ziehen daraus die Konsequenz, dass sie, wenn sie sich popularitätsmäßig schon nicht mit dem Fußball messen können, wenigstens ein bisschen an dessen Massenwirkung partizipieren wollen, indem sie ein bisschen im Vorprogramm 'rumturnen. Oder – was man auch schon erlebt hat – als Pausenclowns, mit dem „Wort zum Sonntag“ in der Halbzeitpause. Ähnlich geht man auch beim Eurovision Song Contest vor, einem weiteren medialen Großereignis mit kultischem Charakter. Nun mal im Ernst, wie würdelos und ranschmeißerisch geht’s denn noch? Das ist in etwa so, als hätte der Prophet Elija am Fuße des Bergs Karmel einen Kiosk eröffnet, um denen, die zum Baalskult pilgern, Popcorn in Tüten mit dem Logo seines Gottes zu verkaufen.

Nun muss man der Fußballpredigt zum DFB-Pokalfinale allerdings noch zugute halten, dass darin, bei aller himmelschreienden Banalisierung, ansatzweise noch auf christliche Inhalte rekurriert wurde. Das ist, wo „Kirche“ (ohne bestimmten Artikel) heutzutage „nah an den Menschen“ zu sein versucht, durchaus nicht selbstverständlich. Greift man hier gewissermaßen zur Mimikry, indem man sich metaphorisch in Fußballtrikot oder Vereinsschal kleidet, praktiziert man anderswo den bewährten Opossum-Trick: Man stellt sich tot, um nicht gefressen zu werden.

Erst unlängst hatte ich das Social-Media-Team des Bistums Münster wegen eines Facebook-Postings am Wickel, das mir exemplarisch für die in der kirchlichen Öffentlichkeitsarbeit grassierende Tendenz erschien, statt Bekenntnissen zum christlichen Glauben lieber unverbindlich-schwammige „Wir sollten alle etwas netter zueinander sein“-Botschaften zu verbreiten, um nur ja niemandem auf die Füße zu treten. Nun habe ich, und zwar als unmittelbare Folge des betreffenden Blogbeitrags, beim Bistum Münster gerade eine Bewerbung als Social-Media-Redakteur am Laufen, sodass es taktisch ungeschickt sein mag, schon wieder ausgerechnet an diese Adresse einen Tadel zu erteilen – aber da kann ich nun (wie der Norddeutsche sagt) auch nichts für: Oops, they did it again. Darauf hingewiesen wurde ich ausgerechnet von jenem Bloggerkollen, der meine Kritik am Münsteraner Himmelfahrts-Posting noch als überzogen zurückgewiesen hatte. Nun, am Dreifaltigkeitssonntag, hatte er aber ebenfalls die Faxen dick.



Was gab's? Abermals ein Blumenbild, und dazu einen Text von Peter Handke. Zum Thema Ruhe.
„Ich glaube an die Ruhe. Für mich ist die Ruhe das Höchste, das Intensivste am Menschen. Aus der Ruhe kommt alles. Die Ruhe ist dramatisch. Die Ruhe will aktiv werden. Die Ruhe strahlt. Das sagt man ja: Er strahlt Ruhe aus. Die schönste Strahlung ist die Ruhe. Ruhe ist Freude, ist Teilnahme, ist Erbarmen, ist Gott. Ich spreche von einem Ideal. Die Ruhe ist auch Lust.“

So so, hm hm. Dass die Ruhe ein hohes Gut ist: Wer wollte das bestreiten? Insofern ist Manches von dem, was Handke hier in seiner Handke-typisch verschwurbelten Handke-Prosa sagt, ja gar nicht mal so verkehrt. Was aber will das Bistum Münster seinen Gläubigen ausgerechnet am Hochfest der Allerheiligsten Dreifaltigkeit mit diesem – pikanterweise als Glaubensbekenntnis („Ich glaube an...“) formulierten – Text mitteilen? Wo liegt da der typologische, der tropologische, ja gar der anagogische Sinn? Verschiedenen Kommentatoren auf Facebook und Twitter fiel durchaus Mancherlei dazu ein. Etwa, dass Gott laut Genesis 2,2f. am siebten Schöpfungstag geruht habe und die Ruhe somit gewissermaßen das letzte, das abschließende Schöpfungswerk sei. Man zitierte Goethe („Über allen Gipfeln ist Ruh... Warte nur, balde / ruhest du auch“) und Georg Thurmair („Wir sind nur Gast auf Erden / und wandern ohne Ruh / mit mancherlei Beschwerden / der ew'gen Heimat zu“), verwies auf den Hesychasmus, eine Spiritualitätsform des byzantinisch-slawischen Christentums, die das Erlangen von hesychia, Seelenruhe, erstrebte und für die besonders der Asket und Kirchenschriftsteller Johannes Climacus richtungsweisend war. Mir selbst fiel Augustinus ein: „Ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in Dir, o Herr“.

Man sieht, Ruhe ist ein durchaus ergiebiges Thema. Eines aber ist die Ruhe, im Gegensatz zu den Worten Peter Handkes, ganz entschieden nicht: Gott. Ein guter Freund, seines Zeichens evangelisch-freikirchlicher Christ, brachte es auf Facebook wie folgt auf den Punkt:

„Ruhe ist göttlich, Liebe ist göttlich – so viele schöne Dinge können 'göttlich' sein – weil sie von Gott kommen und ihm entsprechen, aber sie SIND nicht Gott...“

Eigentlich ist es ja traurig, dass man die Social-Media-Abteilung eines katholischen Bistums auf so etwas eigens hinweisen muss. Derweil schlug Bloggerkollege Peter von Echo Romeo vor, den Text „meditativ und langsam“ zu sprechen und dabei den Begriff „Ruhe“ durch „Rübe“ zu ersetzen. – Die unkritische Übernahme eines Schriftstellerzitats, in dem ein Satz wie „Ruhe […] ist Gott“ vorkommt, auf der Facebook-Seite eines katholischen Bistums verweist eindringlich auf die Versuchung des Pantheismus – eines Pantheismus der plattesten und fadenscheinigsten Art noch dazu. Wie ich z.T. auch aus meinem persönlichen Umfeld weiß, erfreut sich dieser einer erheblichen Beliebtheit bei Menschen, die zwar irgendeine spirituelle Dimension in ihrem Alltag suchen, sich aber nicht auf ein konkretes religiöses Bekenntnis festlegen möchten. Gott ist irgendwie in Allem, und Alles ist irgendwie Gott – das ist total modern und auch total tolerant, denn auf diese Weise kann man natürlich auch in jeder Religion ein Stückchen Wahrheit finden und meinen, letztlich seien ja alle Religionen nur verschiedene Wege zum selben Ziel. Mit einem Jesus Christus, der von sich sagt „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ - und nicht etwa „ich bin ein Weg und eine Wahrheit unter vielen“ - , bekommt man da natürlich Probleme. Aber ich habe noch keinen Hobbypantheisten getroffen, der es nicht geschafft hätte, sich da irgendwie rauszuwinden.

Von diesem modischen, auf die Befindlichkeiten der Generation Maybe zugeschnittenen „Pantheismus light“ ist es gedanklich nur noch ein kleiner Schritt zum Polytheismus. Wenn Gott irgendwie in Allem und Alles irgendwie Gott ist, und wenn darüber hinaus auch alle Religionen irgendwie wahr sind, dann liegt es nahe, dass man auch die Existenz mehrerer Götter annehmen kann – die letztlich natürlich wieder nur verschiedene Emanationen der Einen Kosmischen Ursuppe sind (man kennt das). Polytheismus hat den großen Vorteil, dass er anschaulicher, bunter und irgendwie pittoresker ist als die eher abstrakten Gottesvorstellungen eines „reinen“ Pantheismus. Das wurde mir unlängst am Getränkeregal des Supermarkts deutlich.

Ich wollte mir nur schnell ein Erfrischungsgetränk für unterwegs in einer handlichen Halbliterflasche kaufen, und ehe ich's mich versah, stand ich vor einer neuen Limonade mit dem Namen Original Lapacho. Na klar. Erfrischungsgetränke auf Mate-Basis sind ja mittlerweile nichts Neues mehr, da wurde es ja langsam Zeit, dass die Softdrink-Industrie sich auf die nächste Andenpflanze stürzt. Wenn man aus Baumrinde Tee machen kann, warum dann nicht auch Limo? - Ein paar Minuten lang rangen Neugier und Skepsis um meine Kaufentscheidung. Schließlich studierte ich gründlich das hintere Etikett der Flasche – und da stand: „das belebende Getränk der Götter des Dschungels“. Ich stellte die Flasche zurück ins Regal. Wer weiß, am Ende dient das Gebräu dazu, potentielle Menschenopfer gefügig zu machen. Davon abgesehen: Zieht man sich womöglich die Exkommunikation zu, wenn man Erfrischungsgetränke konsumiert, die dem Götzendienst geweiht sind? Musste sich nicht schon der Apostel Paulus mit solchen Fragen herumschlagen

Ein alter Schulfreund, mit dem ich via Facebook und Twitter in Kontakt stehe, merkte an, er halte den Spruch mit den „Göttern des Dschungels“ zwar für „Marketing-Gesabbel mit schlechten Kolonial-Stereotypen“, aber für „nichts, was religiös irgendwie von Belang wäre“. Das sah ich anders. Mein Freund beharrte, er könne sich „nicht vorstellen, dass es den Schöpfer des Universums auch nur im Ansatz interessiert“, was auf dem Etikett dieser Limo stehe. Nun gut – Einwände dieser Art hört man ja öfter, wenn man Kritik an blasphemischen und/oder häretischen Äußerungen in der Werbung oder allgemein in den Medien übt: Da müsse Gott doch drüber stehen. Stimmt wohl: Ich glaube im Grunde ebenfalls nicht, dass Gott Vater den Herstellern oder dem Vertrieb von Original Lapacho dafür grollt, dass sie irgendwelchen Dschungelgöttern huldigen und nicht Ihm, wo Er es doch war, der den Lapacho-Baum hat wachsen lassen. Wo also sehe ich dann das Problem? Ad hoc formulierte ich es so:
„Ebenso wie die übrigen Gebote ist auch das 1. Gebot zum Wohle und Nutzen der Menschen da. Andere Götter anzurufen, und sei es auch nur in einer spielerisch-unernsten 'tongue-in-cheek'-Art und Weise, führt in die Irre.“

Das gilt übrigens auch für den Fußballgott.

Im Übrigen: Weckt mich, wenn die erste Rooibos-Limonade auf den Markt kommt...



4 Kommentare:

  1. Peter fordert zu viel. Ich habe es versucht! Und ich bin Rezitatorin!
    „Meditativ und langsam“ sprechen geht.
    "Ruhe" mit "Rübe" ersetzen geht auch, zudem gewinnt der Text dadurch an Logik.
    Aber beides gleichzeitig, meditativ und langsam mit Rübe, das schaffe ich nicht.
    Es gibt einige Texte, die ich auch nach langem Proben nicht ohne Tränen lesen kann. Dieser Text in der von Peter vorgeschlagenen Art gehört dazu, allerdings sind es Lachtränen.

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  2. Ich kann nur The Incredible Ralf von paxetbonum.de zitieren: Man soll die Leute nicht unterfordern.
    Versuch’s noch mal!

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  3. Zu Handkes Rüben .... Quatsch ... Ruhegedicht:

    Der Unterschied, der bei mir ein gewisses Unbehagen auslöste, ist der folgende:

    Natürlich kam mir bei Handkes Ruhegedicht sofort Augustinus in den Sinn. Doch wo sucht Augustinus die Ruhe seines Herzens? In Gott und erst dann, wenn er vollkommen in ihm sein wird, wird er sie gefunden haben. Augustinus richtet also in seiner Suche nach Ruhe seine Augen auf Gott und auf das Jenseits.
    Im Unterschied dazu sucht Handke die Ruhe hier im Diesseits und macht sie zu Gott.

    Betreibt Augustinus, wie man es Christen ja nur zu gerne vorwirft, Vertröstung auf das Jenseits? Liefert Handke gerade das, wonach Augustinus so sucht in Hier und Jetzt?

    Aus meiner Sicht ist die Ruhe, die Handke so preist im besten Falle ein Zerrbild der Ruhe, nach der Augustinus strebt. Gerade nämlich im Streben nach der Ruhe in Gott liegt das Bestreben nach dem einzig wirklich Erstrebenswerten: Der ewigen Seligkeit. In Gott.

    Jede Ruhe, die wir im Diesseits finden können und sei sie noch so schön, ist im besten Falle ein Abbild, das vorüber geht und wieder Unruhe mündet. Und in der Tat kann die bürgerliche Ruhe eine Friedhofsruhe sein, wenn sie nicht nach dem strebt und sucht, wonach der Christ suchen soll: nach Gott. Sie wird zum Narkotikum, wenn sie sich in sich selbst genügt.
    Handke erklärt die Ruhe dann auch wirklich zu Gott und negiert damit den wahren Gott, indem er einen Abgott "Ruhe" schafft.

    Die Berufung des Christen, in der rauhen und unruhigen Welt zu leben, ist hart und spröde, voller Bitternis und Trauer. Nichts bringt das besser zum Ausdruck als der Seufzer des Hl. Augustinus.
    Die Versuchung, die irdische bürgerliche Ruhe zu vergötzen, schmeckt dagegen süß wie Honig. Diesen Nektar einfach so unvermittelt auszugießen, ist die blanke Versuchung.

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  4. AUFWACHEN!

    http://www.davidstea.com/pink-lemonade

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