…hält
mich für gefährdungsrelevant!
Prism, Tempora, XKeyscore… Seit Wochen
erfährt man, wenn man es denn wissen will, mehr und mehr darüber, wie
internationale Geheimdienste – allen voran die US-amerikanische National Security Agency (NSA) –
Internetkontakte ausspionieren. Und je mehr man darüber erfährt, umso mehr
verfestigt sich der Eindruck, dass die Geheimdienste technisch in der Lage
sind, die gesamte Online-Aktivität praktisch jedes beliebigen Internetnutzers
zu überwachen. Kein Wunder, dass das in den einschlägigen sozialen Netzwerken
derzeit das Aufregerthema Nummer Eins ist. Verwunderlicher könnte man es
finden, dass die meisten intensiven Nutzer sozialer Netzwerke – ich selbst
bilde da keine Ausnahme – sich durch das Wissen um ihre Überwachbarkeit nicht
spürbar in ihren Aktivitäten einschränken lassen.
Das
erscheint erst einmal widersinnig, ist es aber nicht unbedingt. Ich zum
Beispiel wüsste beim besten (oder schlimmsten) Willen nicht, was internationale
Geheimdienste mit den Informationen, die sie über mich sammeln könnten,
anfangen wollten; und so dürfte es auch vielen Anderen gehen. Mit dieser
Feststellung will ich gar nichts verharmlosen oder entschuldigen: In jedem Fall
stellen die genannten Internet-Spionageprogramme eine massive Verletzung der
Privatsphäre zahlloser unbescholtener Menschen und damit einen eklatanten
Eingriff in die Grundrechte dar. Dagegen zu protestieren, ist mehr als
berechtigt – aber das heißt nicht zwingend, dass jeder Einzelne sich durch
diese Überwachungsaktivität persönlich bedroht fühlen muss. Also zumindest
nicht in dem Sinne, dass man jederzeit damit rechnen müsste, von Männern in
schwarzen Anzügen gekidnappt und nach Guantánamo verschleppt zu werden, weil
man in einer privaten Facebook- oder WhatsApp-Nachricht einen
missverständlichen Scherz gemacht hat.
Oder
vielleicht doch? – Möglicherweise ist so eine permanente Rundumüberwachung des
Internetverkehrs einfach ein paar Nummern zu groß, als dass man sich wirklich
bewusst machen könnte, was für Folgen sie für den Einzelnen haben kann – oder
wie so etwas überhaupt funktioniert. Hilfreich kann es da sein, zum Vergleich
einen Fall zu betrachten, der um einige Nummern kleiner ist, dafür aber auch näher
dran am eigenen Erfahrungsbereich. Einen Fall, in dem – soweit bekannt –
nicht die NSA ihre Finger im Spiel hat, sondern „nur“ das Berliner LKA.
In
der links-alternativen Szene von Berlin-Mitte und –Prenzlauer Berg regt sich in
jüngster Zeit verschärfter Protest gegen Immobilienspekulationen, die die
Infrastruktur der „Kieze“ bedrohen; konkreter gesagt: gegen Investoren, die
Altbau-Mietshäuser preisgünstig aufkaufen, um dann durch oft sinnlose
Luxussanierungen die Mieten in die Höhe zu treiben, Kneipen oder
Kultureinrichtungen ebenso aus den Häusern herausdrängen wie langjährige Mieter
und auf mittlere Sicht vielfach anstreben, die Immobilien entweder in
Bürokomplexe umzugestalten oder häppchenweise als Eigentumswohnungen zu
verscherbeln.
Am
12. April 2013 fand in einem der besonders betroffenen Kieze eine Demonstration
unter dem Motto „Wir bleiben alle!“ statt; gleichzeitig sprach es sich in gut
informierten Kreisen herum, dass das Berliner LKA den Gesellschaftern der
Investorengruppe Zelos Properties GmbH
mitgeteilt habe, der Wirt einer in einem dieser Gesellschaft gehörenden Haus
gelegenen (und von der Kündigung bedrohten) Kneipe gehöre, so wörtlich, zu den
„Rädelsführern“ der Proteste. (Tatsächlich nahm der besagte Wirt an der
Demonstration gar nicht teil und war nahezu während der gesamten
Vorbereitungsphase in Urlaub gewesen.)
Diese
gezielte Indiskretion zog Kreise bis ins Abgeordnetenhaus, wo der Abgeordnete
Klaus Lederer (Die Linke) am 29. April eine Kleine Anfrage an den Senat stellte
– des Inhalts: „Gibt das LKA Informationen über Mieter an Eigentümer weiter?“ –
Jedem, der in der rhetorischen Disziplin „sich winden wie ein Regenwurm und mit
möglichst geschraubten Formulierungen möglichst wenig sagen“ noch
Anschauungsunterricht benötigt, ist zu empfehlen, die Antwort des Innensenators
Frank Henkel (CDU) auf diese Anfrage in voller Länge zu lesen. Allen anderen
möge eine kurze Zusammenfassung genügen:
Senator
Henkel erklärte, das LKA habe „keine derartigen Informationen weitergegeben“;
hingegen habe die Berliner Polizei die Immobilieneigentümer über einen im
Internet verbreiteten Aufruf zur Demonstration vom 13.04. informiert, da sie
„eine Informationspflicht bei gefährdungsrelevanten Sachverhalten“ habe.
Wo
genau aber sah das LKA die hier angesprochene „Gefährdungsrelevanz“?
Offenbar
in der im Demonstrationsaufruf enthaltenen Forderung, das „weitere Ausbluten
der kulturellen Identität dieser Stadt zu stoppen“.
Gefährdung?
Okay – aber wer gefährdet da
eigentlich wen?
Oder
anders gefragt: Wie kann man aus dieser Formulierung herauslesen, den
Immobilienbesitzern drohe eine Gefahr, vor der man sie warnen müsse?
Nun,
immerhin ist von Blut die Rede. Da
ich seit einiger Zeit Deutsch-Nachhilfeunterricht für verschiedene
Klassenstufen gebe, möchte ich es nicht ausschließen, dass ein Polizeibeamter,
der mit Hängen und Würgen den Mittleren Schulabschluss geschafft hat, zu der
semantischen Fehlleistung in der Lage wäre, die Forderung, das „Ausbluten der
kulturellen Identität dieser Stadt zu stoppen“, als Aufruf zum Blutvergießen
misszuverstehen (früher hätte ich das nicht
für möglich gehalten). Für noch wesentlich wahrscheinlicher halte ich es
jedoch, dass ein Computerprogramm, das lediglich einzelne Wörter oder
Wortbestandteile, nicht aber semantische Zusammenhänge erkennen kann, auf den
inkriminierten Satz gestoßen ist. (Dass Senator Henkel es offenbar nicht
erklärungsbedürftig fand, weshalb dieser Satz eine „Gefährdungsrelevanz“
implizieren solle, steht freilich auf einem anderen Blatt.)
Wenn
wir dieses kleine Fallbeispiel mal gedanklich ins Große übertragen, nämlich auf
die NSA und ihre Totalüberwachung der Internet-Kommunikation, erkennen wir ein
interessantes Problem. Eine so gewaltige Datenmenge, wie sie Tag für Tag durch
den virtuellen Äther rauscht, überhaupt erfassen zu können, ist allein eine
Frage der Rechnerleistung, und man darf wohl davon ausgehen, dass diesbezüglich
bei den Geheimdiensten kein Mangel herrscht. Es ist aber davon auszugehen, dass
die Computerprogramme die eingehenden Daten lediglich mehr oder weniger
oberflächlich auf bestimmte Schlüsselbegriffe hin prüfen können und dass ihre Fähigkeiten, komplexe semantische Zusammenhänge zu erkennen, einigermaßen
begrenzt sind. Um unter den vermeintlich relevanten Informationen die wirklich
relevanten zu erkennen, müssen dann eben doch wieder Menschen ’drübergucken.
Und da dürften die Kapazitäten auch des bestausgestatteten Geheimdienstes bald
an ihre Grenzen stoßen. Was die Frage aufwirft, wie effizient diese ganze
Datensammelei im Internet eigentlich sein kann.
Vor
vielen Jahren habe ich mal einen Spionagefilm gesehen, in dem sich Agenten,
wenn sie konspirative Gespräche zu führen hatten, in Wohnungen trafen, von
denen sie wussten oder annahmen, dass sie abgehört wurden, dort dann ein
Tonband abspielten, auf dem ein völlig banales Gespräch (über den letzten
Urlaub oder darüber, wie die Kinder sich in der Schule so machen) zu hören war,
und dann auf den Balkon gingen, um dort das eigentlich wichtige Gespräch zu
führen. Damals habe ich nicht verstanden, warum sie sich nicht gleich an einem
Ort treffen, wo sie nicht abgehört
werden. Aber eigentlich ist das Prinzip ganz einfach: Noch wirksamer, als die
relevanten Informationen bloß vor dem Gegner zu verbergen, ist es, den Gegner
darüber hinaus noch mit irrelevanten Informationen zu füttern und dadurch
beschäftigt zu halten. Und genau das, sollte man meinen, geschieht im Internet
doch auch: Die relevanten Informationen werden durch eine Überfülle von
irrelevanten Informationen verdeckt. Der beste Ort, um einen Baum zu
verstecken, ist der Wald.
Das
schließt natürlich keinesfalls aus, dass eine im Grunde völlig harmlose
Äußerung irrtümlich für „gefährdungsrelevant“ gehalten wird. Aber mein
Laienverstand sagt mir, dass diese Gefahr eher sinkt, je mehr Daten gesammelt
werden. Man kann schließlich nicht jeden
verhaften, der „Bombe“ sagt. Darum habe ich für mich persönlich weiterhin keine
große Angst vor der NSA oder anderen Geheimdiensten und glaube nicht, dass die
sich sonderlich für mich interessieren – nicht einmal für diesen Blogbeitrag.
Ungemütlich – und auch das zeigt das oben angeführte Beispiel vom LKA, den
Immobilienspekulanten und dem Kneipenwirt – könnte es für viele weit eher dann
werden, wenn nicht für die Öffentlichkeit bestimmte
Informationen, die mit geheimdienstlichen Mitteln aus dem Internet gezogen wurden, an Dritte weitergegeben werden – sei es an Vermieter, Arbeitgeber, Banken, das Finanz- oder Arbeitsamt, die GEMA oder
schlimmstenfalls die Exfrau.
Denn
irgendwo hat ja doch jeder etwas zu verbergen. Wenn auch nicht unbedingt vor
der NSA.
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