Samstag, 6. Oktober 2012

Saufen macht gleichgültig? - Mir doch egal!

Machen wir uns nichts vor: Alkoholmissbrauch ist ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Problem. Nicht zuletzt auch der Alkoholmissbrauch Jugendlicher. Um das festzustellen, muss man sich nicht der Faszination des Grauens reißerischer Reportagen zum Thema "Komasaufen" in Presse und Fernsehen hingeben; es genügt schon, freitags- oder samstagsabends wachen Auges durch die Straßen zu gehen. Man geht wohl kaum fehl, wenn man annimmt, dass der exzessive Konsum von Alkohol weitaus größeren Schaden anrichtet als der Konsum illegaler Rauschmittel. Was aber soll man dagegen tun? Mit einem generellen Alkoholverbot haben die USA in den 1920er Jahren schlechte Erfahrungen gemacht - sie haben damit praktisch nichts anderes erreicht, als die Organisierte Kriminalität großzufüttern -, außerdem wäre das der großen Mehrheit der Bevölkerung gegenüber, die durchaus maßvoll mit Alkohol umzugehen vermag, ungerecht. Einschränkungen des Verkaufs alkoholischer Getränke lassen sich nur allzu leicht umgehen. Daher hat sich die Auffassung, dass Aufklärung über die Gefahren des Alkohols das Mittel der Wahl sei, weitgehend durchgesetzt.

So richtet sich die Plakatkampagne "Alkohol? - Kenn Dein Limit!" der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und des Verbands der privaten Krankenversicherung e.V. direkt an die Jugendlichen, indem sie vor den negativen Auswirkungen exzessiven Alkoholkonsums warnt. Dabei suggeriert der Slogan "Kenn Dein Limit!" offenkundig: Trinkt ruhig Alkohol, aber seht zu, dass ihr's nicht übertreibt. Das ist schon mal ein bemerkenswertes Entgegenkommen, ja, gegenüber der offiziellen Gesetzeslage kann man sogar von einem "Ein-Auge-Zudrücken" sprechen. Mehr noch, der Slogan legt nahe, jeder habe sein eigenes "Limit" und könne am besten selbst einschätzen, wieviel er verträgt. Mit anderen Worten, es wird an die Eigenverantwortung der Jugendlichen appelliert. Das müsste ihnen doch gefallen, oder?

Nun ja: Teenager sind, auch wenn man manchmal den Eindruck haben mag, nicht zwangsläufig blöd. Vor allem haben Teenager für kaum etwas einen so wachen Sinn wie dafür, zu bemerken, wenn sie jemand verarschen will. Und die Plakatkampagne "Kenn Dein Limit!" ist der plumpeste, dümmste, zynischste und verlogenste Fall von Teenagerverarsche, der mir seit Langem untergekommen ist.

"Fakt: Über 61% aller Jugendlichen finden Betrunkene in ihrer Clique nervig", ist auf einem Plakat der Serie zu lesen. Das wirft bei mir zunächst die Frage auf, seit wann "Clique" eigentlich ein positiv besetzter Begriff ist oder sein soll. Ich frage mich das oft. Wenn ich mich recht erinnere, bin ich auf den Begriff "Clique" - bezogen auf Gruppenbildungen unter Jugendlichen - erstmals in den 80er Jahren in der BRAVO gestoßen, kannte damals aber niemanden, dem es eingefallen wäre, seinen eigenen Freundeskreis so zu bezeichnen. Kein Wunder - schließlich ist, wohl nicht nur für mein Empfinden, der Begriff "Clique" grundsätzlich negativ konnotiert, vergleichbar dem Begriff "Seilschaft", wenn er im metaphorischen, also nicht-bergsteigerischen Sinne gebraucht wird. Man assoziiert unweigerlich Korruption und andere unredliche Machenschaften damit. Wenn Erwachsene diesen Begriff auf Freundeskreise von Jugendlichen anwenden, dann sagt das schon eine Menge aus.

Und dann: Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast! Woher stammt denn die Information, dass über 61% der Jugendlichen Betrunkene "nervig" finden? Aus einer Meinungsumfrage etwa? Stellen wir uns das mal praktisch vor: Ein Meinungsforschungsinstitut befragt Teenager, wie sie es finden, wenn ihre Freunde betrunken sind. Wer würde da schon sagen "Ich find's voll korrekt, wenn meine Homies sich die Birne zuballern"? - Nun, dem Ergebnis zufolge sagen immerhin fast 39% etwas in dieser Richtung. Beachtlich. Sehr beachtlich.

Denn was ist eigentlich das Perfide an dieser Werbebotschaft? - Ebendies, dass sie den Teenager bei seiner schwachen Seite zu packen sucht - seinem Hang zum Konformismus. Selbst der rebellischste Teenager wird nicht völlig frei von dieser verderblichen Neigung sein: Rebellisch ist er wohl gegenüber Lehrern, Eltern und anderen Autoritäten, nicht aber gegenüber der peer group, jenem sozialen Biotop, das von der BRAVO und anderen Verderbern der Jugend diffamierend "Clique" genannt wird. Da will man nicht anecken, da will man akzeptiert werden - und um das zu erreichen, unterwirft man sich "wie ein Hirsch dem Stärkeren" (Botho Strauß, Kalldewey, Farce).

Auf diesen Unterwerfungstrieb setzt nun die Kampagne von BZgA und Privater Krankenversicherung, um den Jugendlichen die Lust am Komasaufen zu verleiden: Der Teufel Alkohol soll mit dem Beelzebub des Gruppenzwangs ausgetrieben werden. Man sagt sich: Die meisten Teenager saufen doch nur, weil sie vor ihrer "Clique" als cool dastehen wollen. Kann man ihnen glaubhaft machen, dass die "Clique" das gar nicht cool findet, lassen sie es vielleicht sein. Dass diese Argumentation es sich mit der Frage nach den Ursachen des Alkoholkonsums Minderjähriger arg einfach macht, dürfte auf der Hand liegen; aber nicht nur das: Ich bin damals noch dazu erzogen worden, mein Verhalten gerade nicht davon abhängig zu machen, was Mitschüler oder andere Gleichaltrige davon halten. "Wenn alle in den Graben springen, springst du ja auch nicht hinterher", pflegte meine Mutter zu sagen. Das ist heute offenbar out. Im Gegenteil versucht man die Angst des Jugendlichen, man könne ihn "nervig" finden, dazu einzusetzen, sein Verhalten in die gewünschten Bahnen zu lenken. Wer sich solcherart daran gewöhnt, sich dem Diktat der Gruppe zu beugen, der wird wahrscheinlich später auch ein verlässlicher Arbeitnehmer, Wähler und Steuerzahler. Na herzlichen Dank.

Es ist allerdings kaum zu erwarten, dass diese Strategie der "Kenn Dein Limit!"-Kampagne aufgeht. Selbst wenn die angegebene Zahl von 61% stimmen sollte, ist das einfach noch zu wenig: Wer selbst einmal ein Teenager war, wird sich daran erinnern, dass man in dieser Lebensphase mindestens zwei Drittel der Gleichaltrigen sowieso doof findet und mit ihnen nichts zu tun haben will. Da ist es dann nur allzu leicht möglich, dass der Jugendliche, der mit diesem Plakat angesprochen werden soll, sich seine Freunde lieber unter den 39% sucht, die Besoffensein cool finden.

Es geht aber auch noch blöder. Ein anderes Plakat derselben Serie konfrontiert den geneigten Leser mit einem weiteren bemerkenswerten "Fakt: Rund ein Drittel aller angeeigten schweren und gefährlichen Körperverletzungen werden unter Alkoholeinfluss verübt." Ja, was heißt denn das, für diejenigen unter uns, die rechnen können? Das heißt doch nichts anderes, als dass rund zwei Drittel aller angezeigten schweren und gefährlichen Körperverletzungen nicht unter Alkoholeinfluss verübt werden! Noch deutlicher gesagt: Nüchterne Menschen begehen doppelt so viele Körperverletzungen als Betrunkene! Die Lehre daraus kann nur lauten: Von Leuten, die keinen Alkohol trinken, sollte man sich fern halten. Die sind gefährlich. Wahrscheinlich sind das dieselben Leute, die Betrunkene in ihrer Clique nervig finden. Und denen hauen sie dann aufs Maul.

Eine tendenziell gute Nachricht will ich meinen Lesern nicht vorenthalten: In jüngster Zeit liest man, das extreme Rauschtrinken bei Jugendlichen sei im Ganzen rückläufig. Die Studie der BZgA, die zu diesem Ergebnis kommt, betont allerdings gleichzeitig, die Zahlen seien immer noch beunruhigend hoch. Wie man dieses Problem in den Griff bekommen könnte, weiß ich leider auch nicht. Aber die Jugendlichen für dumm verkaufen zu wollen, ist sicherlich die denkbar schlechteste Lösung.

1 Kommentar:

  1. So ist es. Danke für den Artikel.

    Diese Kampagne gibt es ja immer noch, und sie schaltet andauernd Anzeigen in sozialen Medien (oder tat es bis vor kurzem). Und nicht ein Mal, nicht ein einziges mal ein positives oder auch nur akzeptierendes Wort über maßvollen Alkoholkonsum. Sich dann aber "Kenn dein Limit" nennen. Man könnte sich sowas von ärgern...

    aber es ist besser, einfach ein Bier zu trinken.

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