"Müde bin ich, geh zur Ruh'
Schließe beide Äuglein zu
Vater, lass die Augen Dein
Über meinem Bette sein.
Hab ich Unrecht heut gethan,
Sieh es, lieber Gott, nicht an
Deine Gnad und Jesu Blut
Macht ja allen Schaden gut."
Stellen
wir uns vor: die Verfasserin dieser unsterblichen Verse, Luise Hensel, eine
Schwippschwägerin von Felix Mendelssohn Bartholdy, nachts mit einem Spaten auf
dem Friedhof von Dülmen in Westfalen. Wir schreiben das Jahr 1824. Luise steht
am Grab einer schon zu Lebzeiten als Heilige verehrten stigmatisierten Nonne
und fragt sich: Wie, um Gottes Willen, bin ich hierher gekommen?
Die
Antwort ist ebenso einfach wie bizarr: Ihr Freund und Dichterkollege Clemens Brentano, das enfant terrible der
Romantischen Schule, hat sie beauftragt, ihm die Hand der toten Nonne zu
bringen. Luise hat eingewilligt, aber nun, am bereits offenen Grab - - und das
Mondlicht so schaurig, und die Tote, Anna Katharina Emmerick, wie lebendig in
ihrem Sarg – da packt die die Angst, und sie kann es nicht tun.
Was
aber wollte Brentano mit der Hand einer toten Nonne?
-- Man
kann nur spekulieren.
Brentano
hatte seit fünf Jahren viel Zeit am Krankenbett der Emmerick verbracht. Jeden
Freitag hatte sie Visionen von der Passion Christi und anderen Ereignissen der
biblischen Geschichte, und Brentano protokollierte diese Visionen und brachte
sie, literarisch aufgearbeitet, in Buchform heraus. Das bekannteste der so
entstandenen Bücher, Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi, diente später als Vorlage für Mel Gibsons Film Die Passion Christi, aber weder Emmerick
noch Brentano werden in den credits
des Films genannt. Das ist kein Plagiarismus: Mel Gibson glaubt an die Echtheit
dieser Visionen, und auf die Wahrheit gibt es kein Urheberrecht.
Brentanos
Interesse an der stigmatisierten Nonne von Dülmen beschränkte sich jedoch nicht
darauf, sie oder den Heiligen Geist als Ghostwriter zu nutzen. In seinem Ringen
mit seinem eigenen Katholizismus war ihm die Emmerick gleichermaßen Objekt
schwärmerischer Verehrung wie tiefer Skepsis. Um der letzteren Herr zu werden,
unterwarf er die Nonne einer Reihe bizarrer Prüfungen: So ließ er sie
Tierknochen, Haare seiner eigenen Kinder und Heiligenreliquien
auseinandersortieren, um zu testen, ob sie über die Gabe der Hierognosie, des Erkennens heiliger
Dinge, verfüge.
War
diese Skepsis auch verantwortlich dafür, dass er die Hand der Toten in seinen
Besitz bringen wollte? Wollte er sich von der Echtheit ihrer Stigmata
überzeugen? Anna Katharina Emmerick, 1811 im Zuge der Säkularisierung aus ihrem
Kloster vertrieben, hatte nicht nur Visionen, sondern trug auch die Wundmale
Christi. Leider gehörte Westfalen ab dem Wiener Kongress zu Preußen, und
Preußen schätzen dergleichen nicht. Wunder gefährden die öffentliche Ordnung.
Darum hatten die preußischen Behörden ein Auge auf die Emmerick und versuchten
sie des Betrugs zu überführen. Es gelang ihnen nicht.
Das
spontane Auftreten der Wundmale Christi am Körper lebender Menschen – genannt Stigmatisation – ist ein häufigeres
Phänomen, als man denken sollte, und es scheint tatsächlich überwiegend Frauen
zu betreffen. Einige Fälle hat die Katholische Kirche als echt anerkannt,
einige wurden als Betrug entlarvt, viele sind umstritten. Demnächst, am 21. Oktober,
steht die Heiligsprechung einer Stigmatisierten an: Anna Schäffer, genannt "Schreiner-Nandl", wird zur Ehre der Altäre erhoben. Nandl, geboren 1882 im zur
Diözese Regensburg gehörenden oberbayerischen Dorf Mindelstetten, verstorben
1925 ebendort, verbrachte den Großteil ihres Erdenwallens leidend. Als Kind
wollte sie Nonne werden, nahm mit 13 Jahren eine Stelle als Dienstmädchen an,
um die Aussteuer für den Eintritt ins Kloster aufzubringen. Als sie 18 war,
erlitt sie bei einem Arbeitsunfall schwere Verbrennungen an beiden Beinen,
wurde zur Frühinvalidin erklärt und blieb lebenslang ans Bett gefesselt. Fortan
widmete sie ihr Leben dem Gebet, der Stickerei und dem Verfassen religiöser
Lyrik und Prosa. An diesen Texten lässt sich ablesen, wie Nandl ihr schweres
Leiden bewältigte, indem sie es als Sühneopfer und Teilhabe an der Passion
Christi auffasste. Diese heroische Haltung im Angesicht unvorstellbarer
Schmerzen – am 05.10.1925 stirbt Anna Schäffer nach 30 Operationen an
Mastdarmkrebs – macht sie aus Sicht der Kirche zum Vorbild für alle Kranken und
Leidenden; darin zeigt sich auch eine aktuelle Relevanz ihrer anstehenden
Heiligsprechung vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um Sterbehilfe und
pränatale Diagnostik. Aber zu einer Heiligsprechung gehören auch Wunder, und in
der Tat: Auch Anna Schäffer trug die Wundmale Christi, und auch sie hatte
Visionen, immer in der Karwoche. Schon zu ihren Lebzeiten wurde ihr Wohnort
Mindelstetten zum Wallfahrtsort. Ihr letztes Gedicht datiert aus dem Jahr 1923:
"Herr, Deine Magd ist müde.
Hole
mich heim zur ewigen Ruh'.
Hienieden ist kein Friede.
Herz Jesu, ruf mich Du."
Karl Marx schrieb einmal, wenn Geschichte sich wiederhole, dann ereigne sie sich das
erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Dieses Gesetz bestätigt sich
auch im Bistum Regensburg der 20er Jahre. Während sich in Mindelstetten Anna
Schäffers Leidensweg dem Ende nähert, ereignet sich auch am anderen Ende der
Diözese Wundersames: Im oberpfälzischen Konnersreuth lebt Therese Neumann, 16
Jahre jünger als Nandl und Dienstmagd wie diese. Ab 1918 treten bei ihr
plötzlich Beschwerden auf, für die sich keine organischen Ursachen feststellen
lassen: Lähmungserscheinungen, Epilepsie-ähnliche Anfälle, Sehstörungen,
schließlich vollständige Erblindung. Aber am 23.04.1923, am Tag der
Seligsprechung der Thérèse von Lisieux, kann sie plötzlich wieder sehen; als
Thérèse von Lisieux am 17.05.1925 von Papst Pius XI. heilig gesprochen wird,
verschwinden auch die Lähmungen. Die Diözese Regensburg hat ihr neues Wunder,
aber damit nicht genug: Ab 1926 stellen sich bei Therese Neumann die Wundmale
Christi ein, dazu Blutungen aus den Augen, besonders an Freitagen. Vor bis zu
5000 Zuschauern verfällt "Resl" in visionär-ekstatische Zustände, in denen
angeblich Christus selbst aus ihr spricht; aber hatte nicht Papst Benedikt XIV.
Mitte des 18. Jhs. erklärt "Eine Person, aus der der Heiland spricht, täuscht
oder ist getäuscht"? Auch fällt es auf, dass, wenn Resl in ihren Visionen
Auskunft über das Schicksal Verstorbener gibt – wer im Himmel, wer im
Fegefeuer, wer in der Hölle sei –, das jenseitige Schicksal dieser Menschen
ausschließlich davon abzuhängen scheint, wie sie zu Lebzeiten zu Therese
Neumann gestanden haben. Ebenfalls ab 1926 nimmt Resl – so sagt sie, und so
behaupten es ihr nahestehende Zeugen – außer der täglich empfangenen
Eucharistie keinerlei Nahrung mehr zu sich. Aber vergessen wir nicht, es ist
Mitte der 20er Jahre; sollte man da nicht annehmen, dass jedes Kind, vielleicht
sogar Therese Neumann selbst, Karl Mays In den Schluchten des Balkan gelesen hat, wo Kara Ben Nemsi den "heiligen Mübarek" entlarvt? Hatte es nicht auch vom Mübarek geheißen, er nehme weder
Trank noch Speise zu sich, und hatte er nicht der armen Nebatja weismachen
wollen, er habe ihren verstorbenen Mann im Höllenfeuer schmoren sehen? Und doch
war der Mübarek kein Heiliger, sondern ein ganz ordinärer Verbrecher. Nein, wer
mit Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar rund 3000 Druckseiten lang durch das
Reich des Großherrn geritten ist, der lässt sich von einer oberpfälzischen
Bauernmagd nicht so leicht ins Bockshorn jagen!
Zweifel
an der Echtheit der Wunder von Konnersreuth bleiben also nicht aus und werden
durchaus lautstark vorgetragen, aber gleichzeitig wächst die Verehrung der Wundergläubigen
für Resl Neumann ins Unermessliche, nicht nur unter der ungebildeten
Landbevölkerung, sondern bis hinauf in höchste Kreise. Für die Kirche ein
Dilemma. Die bayerischen Bischöfe, schließlich auch die römische Kurie dringen
darauf, dass Resls Wundmale und ihre angebliche Nahrungslosigkeit in einer
Klinik untersucht werden, aber die Familie Neumann verweigert dies. Der
Verehrung durch die Wundergläubigen tut das keinen Abbruch; ebenso wenig lassen
sie sich beirren, wenn Resl in ihren Visionen sich selbst widerspricht, trotz
angeblicher Nahrungslosigkeit immer korpulenter wird oder wenn ihre
freitäglichen Visionen immer häufiger ganz ausbleiben, was sie mit den
bezeichnenden Worten begründet: "I will do a amal mei Ruh' hob'n!". Auch die
NS-Zeit übersteht Resl unbeschadet, obwohl sie aus ihrer Abneigung gegen Hitler
und seine Spießgesellen keinen Hehl macht. 1962, in dem Jahr, in dem die
Beatles ihre erste Single veröffentlichen und der Schatz im Silbersee in die Kinos kommt, stirbt Therese Neumann an
Herzversagen.
Schnell
werden aus den Reihen der Resl-Verehrer Stimmen laut, die eine Seligsprechung
der Stigmatisierten von Konnersreuth fordern; das zuständige Bistum Regensburg
gibt sich solchen Forderungen gegenüber wohlwollend, hat es mit der Einleitung
des Seligsprechungsverfahrens aber offenbar nicht eilig: Erst 2005 wird der
Prozess offiziell eröffnet; ob er jemals erfolgreich zum Abschluss kommen wird,
bleibt ungewiss.
Für
Kritiker wie den Mediziner Josef Deutsch und den Priester und Religionslehrer Josef Hanauer –
beides übrigens gläubige Katholiken, die stets betonten, mit ihren Warnungen
vor der Stigmatisierten von Konnersreuth lediglich "Schaden von der Kirche
abwenden" zu wollen – stand von jeher fest, dass Therese Neumann eine schwer
hysterische Person war, kein Fall für die Ritenkongregation, sondern einer für
die Psychiatrie. Skeptische Geister mögen an dieser Stelle auf den Gedanken
kommen, auch anerkannte Mystikerinnen früherer Zeiten wären womöglich in der
Psychiatrie gelandet, wenn es die damals schon gegeben hätte. Aber das ist,
Skepsis hin oder her, eine recht zweischneidige Annahme. Sie kann bedeuten,
dass viele vermeintliche Heilige vergangener Epochen in Wirklichkeit verrückt
waren; sie kann aber ebenso gut bedeuten, dass viele vermeintlich Verrückte
unserer Tage in Wirklichkeit heilig sind. Wer weiß, wie viele seherische
Begabungen der Welt verloren gegangen sind, weil die betreffenden Personen den
berühmten Rat Helmut Schmidts beherzigt haben:
"Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!"
[Nachbemerkung: Den vorstehenden Text habe ich für ein Bühnenprogramm geschrieben und am 01.09.2012 "uraufgeführt". Insbesondere der Schlussabsatz war darauf berechnet, solche Zuhörer, die von Heiligenverehrung und Wunderglauben prinzipiell nichts halten, zu verunsichern und/oder zu provozieren; im Ernst gesprochen glaube ich sehr wohl, dass es möglich sein sollte, echte mystische Phänomene von Symptomen psychischer Erkrankungen zu unterscheiden. Nicht zu leugnen bleibt aber wohl, dass allzu große Leichtgläubigkeit eine solche Unterscheidung ebenso erschweren kann wie allzu große Skepsis... Über den "Fall" Therese Neumann kann, solange das Seligsprechungsverfahren läuft, natürlicherweise kein abschließendes Urteil gefällt werden; bei mir allerdings überwiegen bis auf Weiteres die Zweifel.]
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen