Sonntag, 2. September 2012

Bin ich 'ne Jukebox? Hab ich 'nen Geldschlitz in der Stirn?

Wie ich an anderer Stelle schon einmal erwähnt habe, bin ich, neben verschiedenen anderen Tätigkeiten, unter anderem auch DJ. Das hat sich, wie so vieles im Leben, auf komischen Wegen ergeben. Ein Bekannter von mir war DJ in meiner Lieblingsbar - genauer gesagt habe ich ihn dadurch kennen gelernt, dass er DJ in meiner Lieblingsbar war -, und eines Abends fragte er mich aus heiterem Himmel: "Sag mal, du kennst dich doch auch ganz gut mit Musik aus - hättest du nicht mal Lust, aufzulegen?" Ich konnte mich gerade noch zusammenreißen, nicht emphatisch auszurufen "Davon träume ich schon seit Jahren!", und antwortete lediglich gemessen, vorstellen könnte ich es mir schon. - Natürlich hatte er bei seiner Frage einen Hintergedanken. Er suchte eine Vertretung für einen Abend, an dem er auf ein Konzert gehen wollte. Aber wie dem auch sei, so kam ich zu meinem DJ-Debüt. Ich weiß noch genau, welches der allererste Song war, den ich auflegte: "Across 110th Street" von Bobby Womack.

An dieser Stelle muss ich anmerken: Von sich zu sagen, man sei DJ, kann von Fall zu Fall allerlei Missverständnisse heraufbeschwören; denn darüber, was genau ein DJ ist und tut, kursieren ausgesprochen unterschiedliche Vorstellungen. Zum Teil liegt das daran, dass der Begriff "DJ" in verschiedenen Subgenres und -kulturen der Populärmusikszene tatsächlich ganz unterschiedliche Tätigkeiten umfasst. Laut Wikipedia ist die Minimaldefinition von "DJ" "jemand [...], der auf Tonträgern gespeicherte Musik in einer individuellen Auswahl vor Publikum abspielt"; aber in bestimmten Musikrichtungen, vor allem HipHop und Techno, tut der DJ noch wesentlich mehr als das. Im frühen HipHop brauchte man für einen Live-Auftritt nicht viel mehr als einen oder mehrere Rapper und einen DJ, der mittels zweier Turntables den Instrumentaltrack beisteuerte und die Musik von der Platte live durch mechanische Effekte (scratching, backspin) verfremdete. Der technische Fortschritt, die Erfindung des Samplers, des Sequencers usw. usf. erweiterte die Möglichkeiten des DJs, sich an den ihm zur Verfügung stehenden Tonträgern kreativ auszutoben, ganz erheblich; von vielen Techno-DJs kann man sagen, dass sie die Tracks vom Tonträger nur noch als Rohmaterial benutzen, aus dem sie ganz neue Klänge kreieren - ihre Musikstücke entstehen tatsächlich erst in dem Moment, in dem sie gespielt werden.

Ich möchte daher gleich vorausschicken: Ich habe allen schuldigen Respekt vor DJs, die diese Techniken beherrschen und anwenden, aber meine Arbeitsweise ist da doch erheblich konservativer. Ich scratche nicht, ich loope nicht, ich fabriziere keine Bastard-Mixes oder MashUps, ich verfremde die Musik, die ich spiele, nicht mit abgefahrenen elektronischen Effekten; in der Regel verändere ich nicht einmal die Equalizer-Einstellungen. Ich wähle Songs aus und spiele sie so, wie sie sind; höchstens pitche ich mal eine langsame Nummer um 2-3% hoch, damit sie etwas mehr Schwung bekommt.

Diese Arbeitsweise bringt allerdings zwei Probleme mit sich, die genau besehen eng miteinander zusammenhängen: Da diese Art der DJ-Tätigkeit, verglichen mit der oben beschriebenen HipHop- und Techno-Akrobatik, rein technisch betrachtet nicht sonderlich kompliziert ist, bildet sich mancher ein, das könne ja jeder; und manch einer neigt dazu, einen mit einer lebenden Jukebox zu verwechseln. "Spiel' mal das und das!" Anfoderungen dieser Art, insbesondere, wenn sie nicht einmal als Bitte bzw. Wunsch formuliert werden, würde man am liebsten dadurch beantworten, dass man dem Betreffenden ein Bier ins Gesicht schüttet; was man dann in der Regel aber doch nicht tut, schon deshalb nicht, weil die kostbare Anlage ja was abkriegen könnte.

Wohlverstanden: Das Problem ist nicht, dass Gäste Musikwünsche haben und diese auch äußern. Dass Gäste ihre eigenen Vorstellungen davon haben, was für Musik sie hören wollen, ist ja ganz natürlich, und dass sie das auch artikulieren, ist mehr als legitim: Der DJ arbeitet ja nicht (nur) zu seinem eigenen Vergnügen. Die Musik soll den Gästen ja gefallen. Ideal ist es natürlich, wenn der DJ den Geschmack der Gäste trifft, ohne dass sie sich etwas wünschen müssen; aber das ist nicht immer möglich. Insofern können Musikwünsche aus dem Publikum eine wertvolle Orientierungshilfe sein. Mehr aber auch nicht. Ob, wann und in welchem Umfang der DJ die an ihn herangetragenen Wünsche erfüllt, muss ihm selbst überlassen bleiben; dafür ist er da. Andernfalls könnte man tatsächlich besser gleich eine Jukebox aufstellen.

-- Und warum tut man das dann nicht?

Nähern wir uns der Antwort auf diese gewichtige Frage über einen Exkurs, oder sagen wir: eine Exkursion - - in die Vergangenheit, in die Ära der guten alten Compact Cassette. Benjamin von Stuckrad-Barre, den ich ansonsten nicht so besonders schätze, hat ihr eine sehr hübsche Glosse ("Kassettenmädchen") gewidmet, Volker Wieprecht und Robert Skuppin besprechen die Compact Cassette ausführlich und liebevoll in ihrem auch sonst sehr lesenswerten Lexikon der verschwundenen Dinge. Wer wie ich in den 70er Jahren geboren ist, für den dürften die ersten Erfahrungen mit selbstbestimmtem Rock- und Popmusikgenuss untrennbar verbunden sein mit diesen heute schon wie Fossilien aus einem anderen Erdzeitalter anmutenden Magnetbandkassetten, die man in ebenso mühe- wie liebevoller Kleinarbeit mit Musik aus dem Radio bespielte. Ich habe noch einen ganzen Karton solcher Kassetten zu Hause, die ältesten dürften aus der Zeit stammen, als ich so zwölf, dreizehn Jahre alt war. Natürlich konnte man die Compact Cassette auch nutzen, um Musik von Schallplatte oder CD zu kopieren, sei es, um die Originaltonträger zu schonen, sei es, um die Musik auch unterwegs hören zu können, im Autoradio oder auf dem Walkman. (Zwar kam mit dem Siegeszug der CD irgendwann auch der Discman auf, aber das war eine ziemlich beknackte Erfindung. CDs eignen sich nicht zum mobilen Gebrauch, dafür sind sie, bzw. die Abspielgeräte, zu erschütterungsempfindlich.) - Aber ich schweife ab. Eigentlich will ich auf etwas anderes hinaus: Bei direkt aus dem Radio aufgenommener Musik war die Abfolge der Titel auf der Kassette naturgemäß weitestgehend zufällig. Erwischte man im Laufe eines langen vor dem Radio verbrachten Nachmittags endlich mal diese eine Nummer, die man schon so lange haben wollte - z.B. "Jack & Diane" von John Mellencamp, damals noch John Cougar -, dann konnte man sich nicht auch noch Gedanken darüber machen, ob die denn zu dem Lied passt, das davor auf der Kassette ist. Meistens passte es dann zwar doch irgendwie, aber eben nur "irgendwie". Richtig lustig wurde es daher erst, als man endlich ein Doppelkassettendeck bekam und anfangen konnte, die gesammelten musikalischen Schätze, ob sie nun aus dem Radio, von Platte oder CD kamen, neu zusammenzustellen. Heute erstellt man ja stattdessen Playlists auf dem MediaPlayer oder dem mp3-Stick, aber das ist nicht dasselbe; die haben eine Shuffle-Funktion, eine Kassette nicht, und deshalb kam es bei einer guten Mix-Kassette besonders auf die Reihenfolge der Titel an. Wie sowohl Stuckrad-Barre als auch Wieprecht/Skuppin hervorheben, verschenkte man selbst erstellte Mix-Kassetten gern an Mädchen, die oft weniger CDs besaßen und weniger breite Musikkenntnisse hatten als Jungs und die man so beeindrucken wollte; man konnte diese Kassetten aber natürlich auch für den Eigenbedarf zusammenstellen, abgestimmt auf eine bestimmte Hörsituation (beliebt z.B. das Genre "Autofahrkassette"), einen bestimmten Anlass oder eine bestimmte Stimmung. Wer das Erstellen von Mix-Kassetten selbst nie praktiziert hat, dem mag es zunächst als absurde Zeit-, Energie- und Rohstoffverschwendung erscheinen, Musiktitel, die man sowieso schon auf anderen Tonträgern hat, neu kombiniert auf Kassette zu kopieren; aber mit der nötigen Sorgfalt betrieben ist es ein nicht zu unterschätzender kreativer Akt. Aus als solches freilich bereits vorgegebenem Material "komponiert" man auf diese Weise musikalische Programme von bis zu 90 Minuten Länge (es gab auch 120-Minuten-Kassetten, aber die längere Spieldauer ging empfindlich zu Lasten der Qualität).

In gewissem Sinne war dieses Hobby bereits die Grundschule der DJ-Tätigkeit. Denn diese, wenn man so will, Kompilationsarbeit, die man früher im stillen Kämmerlein am Doppelkassettendeck leistete - Songs so zusammenstellen, dass sie ein stimmiges Gesamtprogramm ergeben -, leistet der DJ live. Was natürlich um einige Grade anspruchsvoller ist. Man muss schnell sein, muss also spontan und intuitiv handeln und dabei flexibel auf das Publikum reagieren, auf die allgemeine Stimmung und darauf, dass möglicherweise jemand im Publikum ist, der in seinen Geburtstag 'reinfeiert, sodass man pünktlich um Mitternacht Happy Birthday von Stevie Wonder einschieben muss. Dass ein guter DJ immer mehrere Züge voraus denkt wie ein Schachspieler, steht nicht etwa im Widerspruch zu dieser Flexibilität, sondern ist geradezu eine notwendige Voraussetzung dafür.

Musikwünsche aus dem Publikum können sich mehr oder weniger gut ins Konzept des DJs einfügen; manchmal wünschen sich Gäste sogar Songs, die der DJ sowieso schon in der Pipeline hat, und das ist dann ein sehr gutes Zeichen dafür, dass DJ und Publikum auf einer Wellenlänge schwimmen. Probleme gibt es erfahrungsgemäß mit zwei Sorten von Gästen: solchen, die einen sehr eng begrenzten Musikgeschmack haben, und solchen, die überhaupt keinen haben. Im direkten Vergleich sind die letzteren sogar noch schlimmer. Wer nur Heavy Metal, nur HipHop oder nur 80er-Jahre-Synthipop hören mag, der wird, zumindest in Berlin, unschwer Läden finden, in denen seinen Vorlieben entsprochen wird; da ist er unter seinesgleichen und braucht dem Rest der Menschheit nicht auf den Keks zu gehen. Eine Frau, die sich bei mir mal Wolfgang Petry gewünscht hat, habe ich höflich, aber unmissverständlich aufgefordert, sie möge doch bitte woanders hingehen; das hat sie dann auch gemacht.

Leute, die überhaupt keinen Musikgeschmack, mithin keinerlei echtes Interesse an und Verständnis für Musik haben, wird man hingegen weniger leicht los. Man mag sich fragen, warum die sich überhaupt Lieder wünschen, aber die Antwort ist einfach. Diese Menschen bewerten Musik danach, ob sie sie kennen. Auf Musik, die sie nicht kennen, reagieren sie mit Ungeduld. Dummerweise kennen sie, da sie eben kein genuines Interesse an Musik haben, in der Regel nur das, was den lieben langen Tag im Mainstream-Radio rauf und runter gedudelt wird. Dann entstehen Dialoge wie der folgende:
Gast: Spiel mal was von Rihanna!
DJ: Hab ich nicht.
Gast: Lady Gaga?
DJ: Auch nicht.
Gast: Äh... Shakira?
DJ: Nö.
Gast: Black Eyed Peas?
DJ: Nö.
[...]
Gast: Was bist du denn für'n DJ?
Die Antwort "Einer, der gute Musik spielt, für Leute, die gute Musik zu schätzen wissen" verkneift man sich, wenn man dereinst zu Bescheidenheit und Höflichkeit erzogen wurde. Folgt anstelle des letzten Satzes des Gastes der vermeintlich konstruktive Vorschlag "Hast du kein Internet hier? Kannst du das nicht von YouTube abspielen?", dann ist so langsam wirklich mal eine Bierdusche fällig. - Ein ebensolches Kapitalverbrechen ist es, nebenbei bemerkt, wenn ein Gast seinen mp3-Player zückt und den DJ auffordert, einen Song davon zu spielen.

Man könnte die hier geschilderten Sachverhalte natürlich auch lakonischer ausdrücken. Zum Beispiel so:



Diese Liste, die mir kürzlich via Facebook zu Gesicht kam (Dank an Yesterday Berlin!), gibt mir das wohlige Gefühl, hier nicht nur für mich selbst, sondern tatsächlich mehr oder weniger für die ganze Zunft zu sprechen. Zugleich machen diverse Punkte der Liste deutlich, dass mangelnder Geschmack nicht das Einzige ist, womit der liederwünschende Gast den DJ gegen sich aufbringen kann. Noch weitaus ärgerlicher, und zwar unabhängig von der Qualität des Musikwunsches, ist fehlender Respekt vor der kreativen Eigenleistung des DJs, oft gepaart mit einer arroganten Konsumentenhaltung, die sich auf das Motto "Der Kunde ist König" beruft, ohne zu berücksichtigen, dass auch Könige sich nicht alles erlauben dürfen. - Zum Teil scheint mir das ein spezifisch deutsches Phänomen zu sein. Ich lege hauptsächlich in einer Bar auf, die - bedingt durch ihre strategische Nähe zu mehreren preisgünstigen Backpacker-Hostels - viel von Touristen aus aller Welt besucht wird, und da habe ich beobachtet, dass es speziell im angloamerikanischen Raum üblich zu sein scheint, sich vor dem Verlassen der Bar beim DJ zu bedanken. Das tun sogar solche Gäste, die den ganzen Abend nicht getanzt haben, sich nichts gewünscht und auch sonst keine besondere Reaktion auf die Musik gezeigt haben. Der Deutsche verhält sich im Vergleich dazu eher wie die Wildsau in Lessings Parabel von der Eiche.

Der Aussage, ein DJ sei schließlich Dienstleister, ist im Grunde natürlich nicht zu widersprechen. Aber er ist eben nicht nur das, sondern zugleich auch Künstler. Und davon abgesehen: Auch Friseure und KfZ-Mechaniker, zum Beispiel, sind in gewissem Sinne Dienstleister, und trotzdem wäre der Kunde übel beraten, sie darüber belehren zu wollen, wie sie ihre Arbeit zu machen haben.

1998 veröffentlichte die britische TripHop/Dance-Formation Faithless (dieser Name...!) einen Song mit dem Titel "God is a DJ"; 2003 folgte ein gleichnamiger Song der US-Popsängerin P!nk. Ich fand diesen Songtitel immer irgendwie blöd und argwöhnte darin einen unbeabsichtigten Hinweis darauf, dass im Umkehrschluss DJs sich gern wie Gott fühlen (möchten). Aber irgendwie hat die Zeile dann wohl doch ihren Sinn. Schließlich erfüllt auch Gott nicht alle Wünsche. Wir sollen uns zwar mit unseren Bitten an Ihn wenden, aber wenn sie dann doch nicht in Erfüllung gehen, dann wird Er schon Seine Gründe dafür haben. Es würde wohl kaum jemand auf die Idee kommen, einen Song "God is a Jukebox" zu nennen...

1 Kommentar:

  1. jjjjjjaaaaaa, jjjjjaaaaa, jjjjjjaaaaa. spricht mir aus tiefster seele und bei mir wäre der artikel noch viel böser ausgefallen

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