Mittwoch, 13. Juni 2012

Frohe Ostern, Deutschland! - Teil 2: Der Papst und die Piraten

Papst Benedikt XVI. hatte kürzlich ein doppeltes Jubiläum zu begehen: Am 16. April wurde er 85 Jahre alt, drei Tage später stand der 7. Jahrestag seiner Wahl zum Kirchenoberhaupt an. Zu den Gratulanten, die sich aus diesem Anlass in Rom einfanden, gehörte auch der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer. Wie dieser anschließend verbreiten ließ, fragte der Papst ihn bei der Privataudienz auch nach der Piratenpartei: "Was ist da los mit den Piraten? Gibt es die bei euch in Bayern auch?" - Seehofer gab zu Protokoll, er habe dem Heiligen Vater "insgesamt Beruhigendes erzählen können" - was freilich impliziert, dass die Frage des Papstes zunächst einmal Beunruhigung erkennen ließ. Überraschend ist das, wenn man mal drüber nachdenkt, nicht.

Dass der Papst und die Piraten keine besonders guten Freunde werden würden, zeigte sich schon früh. Als Benedikt XVI. letztes Jahr Berlin besuchte, war die Piratenpartei dort gerade ins Abgeordnetenhaus gewählt worden - ihr erster Einzug in ein deutsches Länderparlament. Und auch wenn das Berliner Abgeordnetenhaus noch lange nicht der Bundestag ist, nutzten die Piraten die ihnen zu Teil werdende mediale Aufmerksamkeit gleich dazu, dagegen zu protestieren, dass der Papst im Bundestag eine Rede halten durfte.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich den Antiklerikalismus der Piraten - wie im Grunde die ganze Partei - nicht so richtig ernst genommen. Ich sagte mir, eine so junge politische Bewegung - "jung" sowohl bezogen auf die Dauer des Bestehens der Partei wie auf das Durchschnittsalter ihrer Mitglieder - könne programmatisch noch gar nicht wirklich gefestigt sein; ich nahm die Piraten wahr als eine Ansammlung überwiegend recht sympathischer junger Leute, die - was erst mal lobenswert ist - "Politik selber machen" wollen, anstatt sie den Altvorderen zu überlassen; die aber noch nicht so genau wissen, wie das geht, und deshalb erst mal rumprobieren. Die im Berliner Wahlkampf vertretene Forderung nach konsequenter Trennung von Politik und Religion hielt ich für gedankenlose Nachplapperei angestaubter Kulturkampf-Thesen, die man den Piraten schon noch würde ausreden können - von dieser Auffassung war auch mein "Piratenbrief" an das Abgeordnetenhaus-Mitglied Pavel Meyer geprägt. Allerdings zeigte sich bald, dass der Antiklerikalismus in der Piratenpartei so tief verwurzelt ist wie sonst allenfalls noch in Teilen der Linken und beim vom Aussterben bedrohten Fundi-Flügel der Grünen.

Inzwischen kann man immerhin konstatieren, dass dieser Antiklerikalismus nicht etwa nur eine ideologische Marotte ist; vielmehr beruht die entschiedene Gegnerschaft zwischen den Piraten und den Kirchen, insbesondere der katholischen, auf einer objektiven Unvereinbarkeit der Standpunkte. Ohne hier den philosophischen Grundlagen der piratigen Weltanschauung allzu tief auf den Grund gehen zu wollen - das vielleicht später mal -, kann man doch zumindest sagen, dass da ein radikaler Individualismus im Zentrum steht - die Auffassung, die Gesellschaft sei für den Einzelnen da, nicht der Einzelne für die Gesellschaft. Deshalb ist es m.E. auch falsch, die Piratenpartei als "links" einzuordnen; einige Punkte ihres Programms (das sie angeblich gar nicht haben - ein Vorurteil, das sich, all evidence to the contrary, hartnäckig hält) mögen auf den ersten Blick "links" aussehen (bedingungsloses Grundeinkommen, fahrscheinloser Nahverkehr...), aber die Geisteshaltung, die dahinter steht, hat mit Sozialismus nichts zu tun - im Gegenteil. - Aus demselben Grund, dies nur der Vollständigkeit halber, sind die Piraten aber auch nicht "rechts", wie ihnen im Zuge der jüngsten Landtagswahlkämpfen aufgrund teils dümmlicher, teils bewusst provokanter Äußerungen einzelner Parteivertreter zuweilen unterstellt wurde. Rechte und linke Ideologien haben das eine gemeinsam, dass sie die Interessen der Gesellschaft über die des Einzelnen stellen; die Piraten tun, wie gesagt, das Gegenteil, und deshalb entziehen sie sich dem gängigen Rechts-Links-Schema prinzipiell.

Konfliktpotential zwischen der Piratenpartei und den Kirchen ergibt sich besonders auf dem Gebiert der Familienpolitik - oder, wie sie im Piratenprogramm heißt, "Queer- und Familienpolitik". Während die christlichen Kirchen eine tiefe Wahrheit darin erblicken, dass Gott den Menschen als Mann und Frau schuf, bekennen die Piraten sich zu der merkwürdigen Kulturwissenschaftler-Kopfgeburt, geschlechtliche Identitäten seien lediglich ein gesellschaftlich vermitteltes Konstrukt. Mit dieser "postgender"-Auffassung begründen die Piraten, nebenbei bemerkt, auch ihre Ablehnung der Frauenquote, was nun schon fast wieder diskutabel wäre; jedenfalls haben die Piraten mich mit ihrem "postgender"-Gequese erstmals auf den Gedanken gebracht, gerade das Leugnen bzw. Ignorieren der Unterschiede zwischen Mann und Frau sei sexistisch; und diese Erkenntnis ist ja auch schon was wert.

Klar ist: Wenn geschlechtliche Identitäten nicht vorgegeben und fixiert sind, dann kann sich jeder Einzelne seine eigene geschlechtliche Identität schaffen bzw. gestalten - o schöne neue Piratenwelt! Von daher erklärt sich auch die Formulierung "Queer- und Familienpolitik" im Programm der Piraten. Die Reihenfolge der Begriffe drückt eine Rangfolge aus, den Piraten ist es mehr um die queers, die von der sozialen Norm geschlechtlicher Identität Abweichenden, als um die Familien zu tun, zumal Familie vielen Piraten ohnehin als antiquierte Lebensform gilt.

Wie weit die Forderung der Piraten nach geschlechtlicher Selbstbestimmung geht, zeigte sich jüngst anlässlich der Debatte um das Inzestverbot. Die immer mal wieder durch die öffentlichen Debatten geisternde Frage, ob der deutsche Strafrechtsparagraph 173, der Beischlaf unter Verwandten unter Strafe stellt, nicht abgeschafft gehöre, wurde durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 12.04.2012, das den Paragraphen als menschenrechtskonform beurteilte, nicht etwa beschwichtigt, sondern nur umso mehr angeheizt. Nachdem Grünen-Politiker wie Jerzy Montag und Hans-Christian Ströbele sowie insbesondere die Grüne Jugend das Inzestverbot schon seit Langem als Anachronismus und unzumutbaren Eingriff in das Recht des Menschen auf sexuelle Selbstbestimmung anprangerten, mochten sich nun auch die Piraten nicht mehr lumpen lassen und stiegen mit einer Vehemenz in die Debatte ein, die sich am besten mit einer über Twitter verbreiteten Anekdote illustrieren lässt:

"Politikstunde. 'Wofür steht denn die Piratenpartei?' (Schülerin googelt mit Smartphone) 'Die Piraten sind vor allem gegen das Inzestverbot.'" (@Darth_Lehrer via Twitter am 20.05.12)

So erklärte Piraten-Pressesprecherin Anita Möllering: "Mit der strafrechtlichen Verfolgung des einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs zweier erwachsener Menschen wird ganz grundlegend in das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit eingegriffen. Wir lehnen solche Eingriffe als Partei ab." Die Piraten beriefen sich dabei - durchaus stilecht - auf einen Blogbeitrag des Strafverteidigers Udo Vetter, der die gängigsten Argumente für das Inzestverbot in Frage stellt - etwa das "Argument, aus Verbindungen zwischen Geschwistern gingen vermehrt behinderte Kinder hervor. Das ist medizinisch wohl richtig. Allerdings ist das Risiko auch nicht dramatisch höher, als wenn Frauen über 40 schwanger werden. Oder wenn Behinderte miteinander Kinder zeugen." Darüber hinaus betonten die Piraten, die "Befürchtung, dass mit der Streichung des Paragraphen zum 'Beischlaf zwischen Verwandten' sexueller Missbrauch begünstigt wird",  sei "unbegründet": "Sexueller Missbrauch bleibt auch ohne § 173 strafbar."

Es fällt mir nicht ein zu leugnen, dass diese Einwände Vetters und der Piraten gegen den Versuch, das Inzestverbot rational zu begründen, absolut berechtigt sind. Es ist in der Tat wenig plausibel, zu unterstellen, eine Aufhebung des Inzestverbots würde den sexuellen Missbrauch in Familien fördern; und was den 'eugenischen' Aspekt des Themas angeht, so wäre es – und da würde nicht zuletzt die Kirche vehement zustimmen – nun wirklich haarsträubend, jedem, der aus welchen Gründen auch immer ein erhöhtes Risiko trägt, behinderte Kinder zu zeugen, kurzerhand die Fortpflanzung verbieten zu wollen.

Somit werfen die Piraten mit ihrer Kritik am Inzestverbot wieder einmal, ohne es selbst recht zu bemerken, eine interessante philosophische Grundsatzfrage auf: die Frage nach der rationalen Begründbarkeit ethischer Normen. Im Zeitalter der Aufklärung verfiel der Mensch auf die Idee, er müsse mittels seiner Vernunft in der Lage sein, selbst zu erkennen, was ethisch richtiges Verhalten sei. Dieser erkenntnistheoretische Optimismus, gepaart mit einer fatalen Verwechslung von Vernunft und Verstand, führte zum Utilitarismus à la Bentham, der die Nützlichkeit zum Maßstab der Ethik erhob, und von dort aus (so meine These) geradewegs in den Faschismus. (Zum Verhältnis zwischen utilitaristischer Ethik und Faschismus soll es angeblich wissenschaftliche Abhandlungen geben. Ich habe allerdings noch keine ausfindig machen können, lasse die These aber trotzdem mal ohne Erläuterung im Raum stehen.)

Aber bleiben wir beim Inzest: Offenkundig ist es schon aus historischer Sicht hanebüchen, das menschheitsgeschichtlich uralte Inzesttabu eugenisch begründen zu wollen – obwohl ich mir schon vorstellen kann, wie rationalistisch-materialistisch geschulte Religionshistoriker sich das zusammenreimen würden: Zwar wussten die Menschen vor Jahrtausenden noch nichts von Vererbungslehre, bemerkten aber, dass Ehen zwischen nahen Verwandten überdurchschnittlich viele missgestaltete Kinder hervorbrachten, deuteten dies als Strafe der Götter, und fertig war das Inzesttabu. Lustige Theorie, nur leider vollkommener Quatsch. Tatsächlich erstreckte sich das Inzesttabu in vielen alten Kulturen auch auf solche Mitglieder des Familienverbandes, die gar nicht blutsverwandt waren. Sicherlich kann man sagen, dass das Inzesttabu - indem es die Menschen dazu zwang, sich ihre Partner außerhalb der eigenen Familie zu suchen - eine beträchtliche gesellschaftsbildende Funktion hatte; aber darin den Sinn oder Zweck dieses Tabus zu sehen, wäre wohl ebenfalls nur eine nachträgliche Rationalisierung, die auch nicht plausibler ist als der eugenische Erklärungsansatz. Erheblich glaubwürdiger erscheint da die Annahme, für unsereAltvorderen sei es auch ohne nähere Begründung evident gewesen, dass Inzest, Sodomie etc. Frevel, miasma, Befleckung seien. -- Schauen wir uns einmal an, wie beispielsweise das Alte Testament das Inzestverbot begründet. In Lev 18,6 liest man: "Niemand von euch darf sich einer Blutsverwandten nähern, um ihre Scham zu entblößen. Ich bin der Herr." Das ist nicht nur keine Begründung, das klingt geradezu nach der Verweigerung einer Begründung: Wenn GOTT spricht, dann hat der Mensch ihm nicht mit naseweisen Nachfragen zu kommen. Für den modernen Menschen, der sich so viel auf sein bisschen Verstand einbildet, mag das schwer zu akzeptieren sein. Aber man sollte dabei nicht vergessen, dass beispielsweise das Verbot von Mord und Totschlag sich ebenfalls auf nicht viel mehr oder Anderes stützen kann als auf das Fünfte Gebot, "Du sollst nicht töten". Dieses Gebot rational begründen zu wollen, wäre offenkundig zynisch - und wenn dieser Versuch doch unternommen wird, führt er, wie die Geschichte der Menschheit lehrt, fast zwangsläufig zu dem Ergebnis, es sei unter bestimmten Umständen doch erlaubt, sinnvoll oder sogar notwendig, Menschen zu töten. Die in Artikel 1 unseres Grundgesetzes als "unantastbar" bezeichnete Würde des Menschen ist da auch keine große Hilfe, denn diese basiert ihrerseits auch wieder nur darauf, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat.

Aber ob man nun religiöse Begründungen für Strafgesetze zu akzeptieren bereit ist oder nicht: Die Vorstöße von Grünen und Piraten zur Legalisierung des Inzests scheinen in der Gesellschaft schwerlich mehrheitsfähig zu sein, und so verlief die Debatte innerhalb weniger Wochen mehr oder weniger im Sande, ohne dass die Kirche sich zu einer speziellen Stellungnahme genötigt gesehen hätte. Kurz darauf nutzten die Piraten - allen voran ihr hessischer Landesverband - ein alle Jahre wieder überraschend kontrovers diskutiertes Thema zu einem Frontalangriff auf den gesellschaftspolitischen Einfluss der christlichen Kirchen: das Tanzverbot am Karfreitag. Diesem Thema werde ich mich im 3. Teil von "Frohe Ostern, Deutschland!" widmen -- dazwischen aber wohl noch den einen oder anderen Beitrag zu anderen Themen einschieben müssen...











3 Kommentare:

  1. Bravo!
    Und nun zur psychologischen Seite des uralten Inzest-Verbots:
    http://www.psychology48.com/deu/d/inzest/inzest.htm
    Herzliche Grüße, S.

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    1. Danke, Sabine, für den interessanten Link! Eine sehr lesenswerte Ergänzung zu meinem Text.

      Beste Grüße
      KingBear

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  2. Zum Thema Tanzverbot: http://daquodiubes.blogspot.de/2012/05/sie-wollen-doch-nur-tanzen-oder-auch.html

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