Samstag, 31. März 2012

Eine Mischung aus verbrannter Erde und heißer Luft

Als ich neulich in meiner 'Klobibliothek`' - einem Bücherbord über dem Spülkasten meiner Toilette, auf dem ich, anders als in meinen thematisch geordneten anderen Bücherregalen, eine bunt gemischte Auswahl an Unterhaltungslektüre aufbewahre - nach einem spannenden Lesestoff für einsame Spätwinterabende suchte, fiel mir der Roman Azrael von Wolfgang Hohlbein ins Auge, und ich dachte mir: Warum nicht? Zwar hatte ich seit Jahren nichts mehr von Hohlbein gelesen, und das aus gutem Grund, wie ich meinte; aber immerhin ist Azrael unbestritten eins seiner besten Werke, wenn nicht sein bestes. Ich konnte mich erinnern, dass der Roman mir damals, vor vielleicht acht oder zehn Jahren, als ich ihn erstmals las, ganz gut gefallen hatte, und gleichzeitig war das nun wohl lange genug her, um ihn noch einmal mit unvoreingenommenem Blick zu lesen.

Meine ursprüngliche Bekanntschaft mit Azrael datiert aus meiner zweiten Karriere als Hohlbein-Leser; die erste hatte ich, wie wahrscheinlich viele seiner Fans, im Alter von zehn, elf Jahren, und das verdankte ich sehr wesentlich meiner älteren Schwester, die die Bücher, die sie sich aus der Schulbibliothek lieh, gern an mich weitergab, sofern ich mich dafür interessierte. Und für Hohlbeins Bücher interessierte ich mich. Der Klassiker Märchenmond war mir zwar schon damals zu kitschig (für mich heißt das Buch bis heute Mädchenmond, und ich bin jedesmal aufs Neue überrascht, wenn mich jemand darauf hinweist, dass die Hauptfigur des Romans ein Junge ist - meine Erinnerung sagt mir etwas anderes), aber umso begeisterter war ich von Büchern wie Die Heldenmutter oder Die Töchter des Drachen. Das waren mitreißende, fesselnde Geschichten voller Abenteuer und Geheimnisse, und sie boten mehr Action und, vorsichtig abgewogen, auch mehr Erotik als etwa Michael Ende oder Otfried Preußler. Irgendwann wuchs ich dann aus dem Fantasy-Genre raus, aber das war nicht Wolfgang Hohlbeins Schuld.

Erinnert wurde ich an meine Hohlbein-Leseerfahrungen, als ich mich im Zuge meines Germanistikstudiums mit verschiedenen literarischen Bearbeitungen der Nibelungensage befasste. Mir kam in den Sinn, dass ich vor Jahren verschiedene neuzeitliche Jugendbuchadaptionen des Nibelungenstoffes gelesen hatte, die ich in der Erinnerung aber nicht mehr genau auseinanderhalten konnte; eins dieser Bücher war jedenfalls Hohlbeins Hagen von Tronje gewesen. Ich besorgte mir das Buch, um es erneut zu lesen - und ich fand es unfassbar schlecht. Ich fand es so beleidigend schlecht, dass ich mich eigens bei einem Hohlbein-Fan-Forum im Internet anmeldete, um eine geharnischte Kritik zu Hagen von Tronje loszuwerden. Erstaunlicherweise ergaben sich daraus recht angeregte und anregende Diskussionen, ich war für einige Zeit Stammgast im Hohlbein-Forum und las in dieser Phase eine ganze Reihe Hohlbein-Romane, die ich zuvor nicht gekannt hatte. Als ich eines Tages auf einem Flohmarkt eine Taschenbuchausgabe von Azrael entdeckte, griff ich zu; und das Buch gefiel mir immerhin so gut, dass es bis heute einen Platz in meiner 'Klobibliothek' hat.

Auch bei wiederholter Lektüre verfehlt Azrael seine Wirkung nicht. Die Story, in der ein außer Kontrolle geratenes geheimes Drogenexperiment an Jugendlichen zu einer wilden Orgie aus Tod und Zerstörung führt, lässt an Spannung nichts zu wünschen übrig. Kein Zweifel: Gute Storys ersinnen, den Leser durch Handlung fesseln, das kann er, der Hohlbein; da macht ihm so leicht keiner was vor. In Azrael demonstriert er zudem eindringlich, dass er auch die spezifische Thriller-Dramaturgie souverän beherrscht. Die Handlung entwickelt eine derart packende Dynamik, dass es schwer fällt, das Buch wieder aus der Hand zu legen - und erst recht, einen Moment innezuhalten und über das Gelesene zu reflektieren.

Tut man es aber doch, dann fallen einem recht bald auch die Schwächen des Romans ins Auge. Da wären zunächst einmal die Charaktere zu nennen, von denen kein einziger in sich stimmig geraten ist. Zwar bietet die beklemmende Albtraumatmosphäre des ganzen Romans dem Autor hierfür eine hervorragende Ausrede - in Träumen, gerade in Albträumen, ist es ja nichts Ungewöhnliches, dass Personen von einer Sekunde auf die nächste ein gänzlich anderes Gesicht zeigen -, aber wer mehr als einen Hohlbein-Roman gelesen hat, wird wissen, dass Charakterzeichnung insgesamt nicht zu den starken Seiten dieses Autors zählt. Wünschenswert wäre es aber doch, dass wenigstens die Protagonisten, diejenigen Figuren, mit denen der Leser sich identifizieren soll, einigermaßen konsistente Charaktere wären. Aber Pustekuchen.

Azrael hat zwei sehr unterschiedliche Protagonisten: Der eine, Mark Sillmann, ist gerade achtzehn geworden, hat sich von dem Internat, in das er vor sechs Jahren gesteckt wurde, abgemeldet und reist nach Berlin, wo sein Vater einen Pharmakonzern führt und seine Mutter seit sechs Jahren in einer Nervenklinik interniert ist; der andere, Peter Bremer, ist ein etwa fünfzigjähriger Polizeiobermeister, der angesichts einer Serie bizarrer Todesfälle vorübergehend zur Kripo versetzt und dem Leiter der Mordkommission, Sendig, persönlich unterstellt wird. Über weite Strecken des Buches wird das Romangeschehen kapitelweise abwechselnd aus der Sicht dieser beiden Figuren geschildert. Dabei ist Mark Sillmann entschieden der gelungenere Charakter: Die Disparitäten in seinem Denken und Handeln überschreiten kaum das Maß, das bei einem aufsässigen und emotional aufgewühlten Teenager als realistisch gelten kann, und da er zudem an Schlafmangel leidet, von Visionen gepeinigt wird und, wie sich nach und nach herausstellt, unter der Einwirkung psychoaktiver Drogen steht, ist man ohne weiteres geneigt, ihm allerlei Widersprüchlichkeiten abzukaufen. Gewisse durchaus glaubwürdige Widersprüche zwischen Marks Denken und seinem Verhalten setzt der Autor auch ganz bewusst ein und lässt Mark sogar darüber reflektieren; etwa auf S. 90 (alle Seitenangaben nach der Taschenbuchausgabe im Wilhelm-Heyne-Verlag München, 4. Aufl. 1996): "Er schrie Protest und Widerstand, er behauptete, nichts von alledem haben zu wollen, was ihm das Schicksal als Geschenk mitgegeben hatte, und doch nutzte er das Gewicht seines Namens - genauer gesagt: des seines Vaters - und vor allem das seines Geldes aus, um ein Ziel zu erreichen. Und das schon bei der ersten kleinen Schwierigkeit, die sich zeigte." Solche Selbsterkenntnis hält Mark allerdings nicht davon ab, in der direkten Konfrontation mit seinem Vater dann doch wieder zu behaupten: "Vielleicht freue ich mich seit Jahren darauf, auf die Bequemlichkeiten verzichten zu dürfen, die du mir bereitest" (S. 152).

Nach gut 350 der knapp 500 Romanseiten fällt Mark jedoch in einen wachkomaartigen Zustand und verwandelt sich bis zum Ende hin mehr und mehr in den mythischen Todesengel, der ihn in Träumen und Visionen heimgesucht hat; als Identifikationsfigur für den Leser fällt er damit aus, und so bleibt als Bezugsperson nur Bremer übrig. Dieser wird einmal aus Marks Sicht wie folgt beschrieben: "Sein Gesicht wirkte hart, aber trotzdem auf eine schwer zu beschreibende Art freundlich" (S. 145). In diesen Worten liegt das ganze Dilemma der Romanfigur. Hohlbein beabsichtigt offenbar, Bremer als toughen Cop zu zeichnen, aber er kriegt es nicht hin. Mark gegenüber gibt Bremer sich durchweg als leutseliger Onkel, und ansonsten trabt er brav wie ein gut erzogener Hund neben seinem Vorgesetzten Sendig her. Seine Auflehnung gegen den verhassten Chef beschränkt sich weitgehend darauf, dass er ihn in Gedanken duzt, und wenn er doch einmal Widerspruch wagt, dann klingt er pampig wie ein Teenager. Zudem hat seine moralische Entrüstung über das eigenmächtige Vorgehen Sendigs, so berechtigt es in der Sache auch ist, zuweilen einen störenden Zug altjüngferlicher Zimperlichkeit - darauf wird noch zurückzukommen sein.

Über die misslungene Charakterisierung hinaus wird hier aber auch deutlich, dass Bremer noch aus einem ganz anderen Grund als Protagonist ungeeignet ist: Er agiert so gut wie nie, sondern steht praktisch die ganze Zeit hilflos und untätig in der Gegend herum. Man könnte vielleicht sagen, dass er damit perfekt den Leser repräsentiert, der ja auch nicht ins Geschehen eingreifen kann; aber auf die Dauer ist das doch etwas unbefriedigend.

Überhaupt dürften halbwegs Krimi-erfahrene Leser die Darstellung der polizeilichen Ermittlung in diesem Roman als wenig überzeugend empfinden. Im Grunde ist es aber auch gar keine; nicht umsonst wundert sich Bremer im 3. Kapitel ausgiebig darüber, dass Sendig als Chef der Mordkommission sich so sehr für einen offenkundigen Selbstmord interessiert. Wie der weitere Verlauf des Romans zeigt, handelt Sendig gar nicht dienstlich, sondern in eigener Sache - da er sein eigenes Leben durch den Rachefeldzug des Todesengels in Gefahr wähnt. Abgesehen von der Besichtigung einiger Tatorte besteht Sendigs 'Ermittlungsarbeit' praktisch zur Gänze aus einigen Telefonaten, über deren Inhalt der Leser aber nichts Genaues erfährt; im Wesentlichen, so scheint es, durchschaut oder ahnt Sendig von Anfang an die Zusammenhänge, die dem Leser erst nach und nach enthüllt werden sollen. Genau dafür, und nur dafür, braucht der Kommissar seinen treudoofen Sidekick Bremer: um ihm, stellvertretend für den Leser, von Zeit zu Zeit ein paar Häppchen Information über die Hintergründe des Geschehens aufzutischen, aber immer nur so viel, wie es ihm - bzw. eigentlich dem Autor - gerade in den Kram passt. Im Grunde ein ziemlich plumper Trick, aber er funktioniert - zumindest solange man nicht darüber nachdenkt.

Andere Schwächen des Romans fallen beim Lesen unmittelbarer ins Auge; dabei handelt es sich allerdings um Merkmale, die weniger für diesen einen Roman spezifisch sind, sondern mich an absolut jedem Hohlbein-Buch, das ich seit Erreichen des Erwachsenenalters gelesen habe, genervt haben. Es handelt sich im Wesentlichen um zwei Dinge: stilistische Unreife und falschen Moralismus.

Dass ein Autor mit einem über 200 Bände umfassenden Gesamtwerk, ein Autor, der zuweilen sechs bis acht dickleibige Romane in einem Jahr publiziert, nicht unbedingt ein großer Stilist ist, liegt auf der Hand, und man muss ja auch wirklich kein Flaubert, Dostojewskij oder Joyce sein, um spannende und unterhaltsame Fantasy- und Horrorromane zu schreiben. Aber auch wenn man Hohlbein mit einem Schriftsteller durchaus verwandter Art - verwandt sowohl im Inhaltlichen wie in der reinen Quantität der Produktion - vergleicht, mit Stephen King nämlich, wird ein erheblicher qualitativer Abstand deutlich: Neben dem schnörkellosen und präzisen Stil des international erfolgreichen US-Kollegen wirkt Hohlbeins Stil geradezu geschwätzig. Das liegt sicherlich nicht nur daran, dass Hohlbein, obwohl gebürtig aus Weimar, den Großteil seines Lebens im Rheinland verbracht hat, während King aus dem hinterwäldlerischen, maulfaulen Nordosten der USA stammt. Eher scheint es mir, Hohlbein habe nicht verstanden (oder vertraue nicht darauf), dass man eine im wesentlichen von Handlung lebende Geschichte am besten möglichst schlicht und geradlinig erzählt. Stattdessen versucht er immer wieder, seinem Text sprachliche Glanzlichter aufzustecken - was jedoch in acht von zehn Fällen daneben geht. Was dabei herauskommt, sind ungeschickte Metaphern (S. 13: "Ein unsichtbarer Kübel mit Eiswasser ergoß sich über seinen Rücken"; S. 15: "Diesmal war es kein Eimer mit Eiswasser, sondern ein ganzer Tankzug"), beschreibende Passagen voller irrelevanter Details (S. 178: "Das Haus, aus dessen Fenster Mogrod sich gestürzt hatte, als schäbig zu bezeichnen, wäre noch geschmeichelt gewesen. Es war eine bessere Ruine - nein, keine bessere, es war eine Ruine. Falls es jemals einen Anstrich erlebt hatte, war er längst zusammen mit dem größten Teil des Putzes in Staub aufgegangen; unter dem unregelmäßigen Lochmuster kam grauer Ziegelstein zum Vorschein, in dem der Schwamm nistete. Die Fenster begannen herauszufaulen, und zumindest im Erdgeschoß mußten wohl einige Wohnungen leerstehen, es sei denn, ihre Bewohner liebten es, ohne Scheiben zu leben") und Dialoge voller abgedroschener Redensarten und fader Witzeleien - insbesondere Bremer und Sendig kommunizieren beinahe nur so miteinander. Dass Stil nicht zuletzt die Kunst des Weglassens ist, hat dem Herrn Hohlbein offenbar nie einer erzählt. Sorgfältiger lektoriert, hätte Azrael ohne Weiteres dreißig, sechzig oder sogar hundert Seiten kürzer werden können, und das hätte dem Roman nur gut getan.

(Nebenbei eine Anmerkung zu der von Hohlbein ausgiebig verwendeten Formulierung "nicht wirklich": ich gehöre keineswegs zu Jenen, die darin einen verkappten Anglizismus - nämlich ein allzu plump eingedeutschtes "not really" - sehen und diese Formulierung daher prinzipiell ablehnen. Ich habe gegen die Formulierung an sich überhaupt nichts einzuwenden, wohl aber gegen ihren inflationären Gebrauch. Sagt oder schreibt jemand diese Worte nämlich ständig - und bei Hohlbein findet man sie manchmal mehrmals auf derselben Seite -, dann erwecken sie leicht den Eindruck, dass dieser Jemand das, was er eigentlich sagen will, nicht wirklich ausdrücken kann... Eng verwandt mit "nicht wirklich" ist in dieser Hinsicht das Wort "irgendwie"; und auch dies scheint irgendwie eins von Hohlbeins Lieblingswörtern zu sein.)

Tendenziell noch ärgerlicher ist Hohlbeins Hang zum Moralisieren. Vermutlich meint er, als Jugendbuchautor habe er die Pflicht, seine Leser über die moralische Bewertung des dargestellten Geschehens nicht im Unklaren zu lassen. Leider gerät die moralische Belehrung der angepeilten halbwüchsigen Leserschaft meist so platt, plump und aufdringlich, dass man es sich als Leser verbitten möchte, vom Autor für derart "halbwüchsig im Geiste" gehalten zu werden. In den meisten Fällen delegiert der Autor das Moralisieren an seine Figuren, vor allem an die Hauptsympathieträger, die allerdings dadurch, dass sie allzeit moralische Werturteile über ihre Mitmenschen im Munde führen, nicht unbedingt sympathischer werden. Dabei fußen diese Werturteile in aller Regel nicht auf erkennbaren und nachvollziehbaren ethischen Grundsätzen, sondern auf einem vagen Gefühl von "Anstand" und oder ethical correctness - ganz im Sinne des Hauptmanns in Büchners Woyzeck: "Moral, Woyzeck, das ist, wenn man moralisch ist". So wirkt der dick aufgetragene Moralismus der Hohlbein-Protagonisten nicht nur ziemlich etepetete, sondern auch intellektuell unbefriedigend - und obendrein auch arg hilflos: Für den Umgang mit Falschparken, Dränglern an der Supermarktkasse oder unhöflichen Kellnern mögen die "Guten" der Hohlbein-Romane dank ihrer stets sprungbereiten bürgerlichen Wohlanständigkeit gut gerüstet sein; bekommen sie es jedoch mit richtigen Verbrechern zu tun, stehen sie wie paralysiert vor dem schieren Ausmaß des Bösen, das sich vor ihnen auftut. Und da ihre Reaktion darauf sinngemäß kaum über den legendären Schlusssatz von Ibsens Hedda Gabler - "Aber so etwas tut man doch nicht!" (Assessor Brack) - hinausgeht, ist es für skrupellose Pragmatiker wie den Pharmaunternehmer Sillmann oder eben Kommissar Sendig nur allzu leicht, solche Einwände mit einem simplen "Warum nicht?" abzuschmettern.

Übrigens erweist sich auch in Hinblick auf die leidige Moralfrage Mark Sillmann als die vergleichsweise gelungenste Figur des Romans Azrael. Dass er mit typischem Teenager-Pathos die Forderung nach Authentizität verficht und die Verlogenheit der Erwachsenenwelt verabscheut, aber nach und nach auch mit der Verlogenheit seiner eigenen Existenz konfrontiert wird, gehört zur Tragik dieses Charakters und macht ihn zu einem entfernten Verwandten Holden Caulfields aus Salingers Fänger im Roggen. Der Vergleich - der auch angesichts der parallelen Ausgangssituation (überstürzte nächtliche Abreise aus dem Internat) nahe liegt - macht allerdings auch den qualitativen Abstand augenfällig. Dabei böte sich der Plot von Azrael eigentlich sogar dafür an, die Authentizitäsproblematik noch zu vertiefen. Schließlich ist Mark Sillmanns Existenz nicht einfach nur genauso unauthentisch wie diejenige eines Holden Caulfield oder jedes anderen auf Authentizität pochenden Teenagers, sondern sein ganzes Leben ist eine große Lüge - seine Vergangenheit ausgelöscht, seine Erinnerungen gefälscht; und nicht nur das: Im Grunde ist Mark Sillmann nie eine autonome Persönlichkeit gewesen, hat es nie sein dürfen - er war von Geburt an weniger ein echter Mensch als vielmehr ein wandelndes Drogenexperiment, ausgeheckt von seinem Vater und dessen Mitarbeiter Löbach. Die Dramatik, die in dieser Konstellation liegt, bis auf den Grund auszuloten, hätte es jedoch mindestens eines Stephen King bedurft; Hohlbein kratzt nur an der Oberfläche.

Übrigens existiert zu Azrael auch noch eine Fortsetzung, betitelt Azrael - Die Wiederkehr. Habe ich aber nicht gelesen, aus Protest. Tatsächlich deutet bereits der Schluss von Azrael stark auf die Möglichkeit einer Fortsetzung hin: "Der Kerl sieht ja aus, als hätte er in Blut gebadet", lauten die letzten Worte des Romans (S. 496), und da der Leser inzwischen weiß, dass die Psychodroge AZRAEL sich wie ein Virus über das Blut weiterverbreitet, kann man davon ausgehen, dass der, von dem hier die Rede ist, womöglich die neue Inkarnation des Todesengels werden wird. Dumm ist nur, dass dieser einzige Überlebende des brachialen Showdowns im alten Sillmann-Labor, der Agent Haymar, sich denkbar schlecht als Protagonist einer etwaigen Fortsetzung eignet: Er ist erst 150 Seiten vor Schluss als handelnde Person eingeführt worden und hat auf diesen 150 Seiten keinerlei individuelles Profil entwickeln können. Der Leser interessiert sich einfach nicht für ihn. Das muss auch Hohlbein aufgegangen sein, denn tatsächlich ist Haymar in Azrael - Die Wiederkehr dann doch nicht der Protagonist. Stattdessen erweckt der Autor ausgerechnet den tapsigen Riesenschnauzer Bremer wieder zum Leben, von dem am Ende des ersten Teils eindeutig und unmissverständlich ausgesagt wird, er sei tot (S. 493: "Das letzte, was er in seinem Leben hörte, war das Rattern der MPi-Salve, mit der Haymar ihn erschoß, aber während er starb, empfand er nichts als eine tiefe, unendlich tiefe Erleichterung, daß er es wenigstens als Mensch hatte tun können"). Auf den ersten Seiten von Azrael - Die Wiederkehr festzustellen, dass er nun doch wieder lebt, war für mich Grund genug, das Buch sofort wieder aus der Hand zu legen.

Zum Abschluss noch eine Kuriosität: Der Name Azrael dürfte den meisten Lesern vor allem aus den Schlümpfen geläufig sein, wo der Kater des Zauberers Gargamel so heißt. Im Roman selbst wird jedoch mehrfach behauptet, der Name stamme aus der Bibel - genauer: es sei "der Name des biblischen Würgeengels" (S. 92). Das jedoch ist falsch: In der Bibel kommt der Name Azrael nicht vor; überhaupt findet sich die Vorstellung eines Todesengels, der Menschen den Tod bringt, Verstorbene ins Jenseits begleitet oder dort empfängt und eventuell richtet, nicht in der Bibel, wohl aber im Koran. Auch dort heißt der Todesengel aber nicht Azrael; diesen Namen erhält er erst in der nach-koranischen islamischen Tradition. "[I]ch habe meine Hausaufgaben gemacht [...]. Außerdem habe ich ein ziemlich gutes Lexikon zu Hause", erklärt Kommissar Sendig vollmundig, als er seinen Kollegen Bremer über die Herkunft des Namens Azrael aufklärt (S. 92). Für den Autor gilt das offenbar nicht.



P.S.: Den Titel dieses Beitrags habe ich einem anderen, weiter oben auch schon erwähnten Hohlbein-Roman - Die Töchter des Drachen - entlehnt. Dort wird auf S. 78 ein herannahender Sandsturm beschrieben, und in dieser Beschreibung wird ein Geruch wie "eine Mischung aus verbrannter Erde und heißer Luft" erwähnt. Da musste ich lachen und denken: Das ist eine enorm treffende Charakterisierung des ganzen Romans... 



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen