"Skandalinszenierung: Piusbrüder drohen Hamburger Theater mit Anzeige", so lautete am 22. Januar eine Schlagzeile auf SPIEGEL Online; und noch ehe ich den dazugehörigen Artikel gelesen hatte, hatte ich die Eingebung, bei dem betreffenden Theaterstück könne es sich nur um Rodrigo Garcías 'Gólgota Picnic' handeln. Nicht etwa, dass ich mich in der aktuellen Theaterszene so gut auskennen würde oder gar gewusst hätte, dass das Hamburger Thalia-Theater dieses Stück im Rahmen seiner diesjährigen Lessingtage zeigt; aber zufällig hatte ich rund zwei Wochen zuvor auf arte das Kulturmagazin 'metropolis' gesehen (was ich sonst nie tue), und da hatte es einen Beitrag über Proteste "fundamentalistischer Katholiken" gegen die Pariser Aufführung ebendieses Stückes gegeben. Dieser Beitrag war sogar als "Aufreger der Woche" angekündigt worden; wohlgemerkt, nicht das Theaterstück selbst sollte dieser "Aufreger" sein, sondern die Proteste dagegen. Der Umstand, dass in Paris bis zu 4000 strenggläubige Katholiken singend und betend vor einem Theater demonstrierten, wurde gar mit dem Begriff "Kulturkampf" belegt - eine zumindest ungeschickte Wortwahl, wenn man bedenkt, dass dieses 1873 von Rudolf Virchow geprägte Schlagwort eigentlich staatliche Zwangsmaßnahmen zur Unterdrückung der katholischen Kirche bezeichnet.
-- In der Ankündigung dieses Beitrags auf der arte-Website hieß es:
"Metropolis geht u. a. der Frage nach, ob Kunst wirklich alles darf. Ist der Protest gegen die gezielt gesetzte Provokation berechtigt? Oder braut sich hier eine militante, religiös motivierte Protestkultur zusammen, die nach dem Vorbild radikaler Muslime unliebsame Kulturschaffende einschüchtern will?"
Zumindest der erste Teil dieser Ankündigung wurde von der Sendung kaum eingelöst. Die Frage, ob die Demonstranten mit ihrem Protest gegen 'Gólgota Picnic' irgendwie Recht haben könnten, wurde gar nicht ernsthaft gestellt, es wurde auch nur in Ansätzen deutlich, was genau die empörten Katholiken gegen die Aufführung des Stückes hatten.(Zudem wurde schlau suggeriert, die Protestierer wüssten dies im Grunde selbst nicht so genau, da sie das Stück ja gar nicht gesehen hätten - was einige hierüber befragte Demonstranten freimütig bestätigten. Hier könnte man allerdings auf eine Szene aus dem Film "Hawaii" verweisen, in der der von Max von Sydow verkörperte Protagonist, ein Missionar, erklärt: "Ich brauche einen Mord nicht erst zu begehen, um zu erkennen, dass er unrecht ist.")
Immerhin war dem 'metropolis'-Beitrag zu entnehmen, dass es sich bei 'Gólgota Picnic' um ein provokant religionskritisches Stück handelt, in dem Religion im Allgemeinen und der Katholizismus im Besonderen als mitverantwortlich für das Böse in der Welt dargestellt werden; sowie auch, dass das Stück eine Parodie der Kreuzigung Christi enthält, in der der Heiland durch eine fast nackte Frau dargestellt wird, die die Dornenkrone auf einem Motorradhelm trägt. Dass strenggläubige Katholiken lieber darauf verzichten, sich ein solches Stück anzusehen, nur um "mitreden" zu können bzw. zu dürfen, wird man verstehen. Ob ihnen dies auch das Recht gibt, verhindern zu wollen, dass andere es sich ansehen, ist natürlich eine zweite Frage. Dass es Bombendrohungen gegen das Theâtre du Rond Point und Morddrohungen gegen dessen Leiter Jean-Michel Ribes gegeben hat, weshalb die Pariser Premiere von 'Gólgota Picnic' unter massivem Polizeischutz stattfinden musste, ist ohne Frage schärfstens zu verurteilen; gleichzeitig erscheint es aber auch kritikwürdig, dass die arte-Reportage mehrere tausend friedliche Demonstranten bedenkenlos mit den Urhebern dieser Drohungen in einen Topf wirft.
Zum Schluss bietet die Sendung einen prominenten Repräsentanten der katholischen Kirche in Frankreich auf, der sich in aller Deutlichkeit von den Protesten gegen 'Gólgota Picnic' distanziert. Über das Stück selbst äußert er sich überhaupt nicht, empört sich jedoch darüber, dass eine radikale Splittergruppe sich anmaße, für die gesamte katholische Kirche zu sprechen. -- Man könnte nun finden, die Macher der Reportage seien just dieser Strategie der hinter den Protesten stehenden Kreise komplett auf den Leim gegangen, in dem sie die 'Gólgota Picnic'-Gegner durchweg ohne nähere Spezifizierung schlicht als "Katholiken" betiteln (so als träfe diese Bezeichnung, zumindest nominell, nicht auf die Mehrheit der Franzosen zu). Bei der sehr tendenziösen Ausrichtung des ganzen Beitrags muss man aber wohl davon ausgehen, dass dies nicht ohne Absicht geschieht: Es sieht ganz danach aus, als instrumentalisierten hier einige kulturkämpferisch eingestellte Fernsehjournalisten die Aktionen der besagten 'radikalen Splittergruppe', um die ganze katholische Kirche zu diffamieren. Man kennt dergleichen auch aus Deutschland, aber in Frankreich scheint der Gegensatz zwischen Laizisten und Religiösen doch noch ausgeprägter zu sein.
Bei genauem Hinsehen stellt sich der Fall nun aber doch komplizierter dar, als die arte-Reportage glauben machen will. Zwar hielt auch der Erzbischof von Paris, André Vingt-Trois, zeitgleich zur Pariser Premiere von 'Gólgota Picnic' eine Gebetswache in der Kathedrale Nôtre Dame ab und warnte, das Stück sei geeignet, Christen zu schockieren, stellte aber klar, ohne Kenntnis der Intention des Autors könne man nicht von Blasphemie oder Christenfeindlichkeit sprechen. Bereits bei einer früheren Gelegenheit hatte er "verbale oder erst recht physische Gewalt gegen kirchenkritische Kunstwerke" als inakzeptabel bezeichnet. Diese differenzierte Haltung des Vorsitzenden der französischen Bischofskonferenz ist der oben erwähnten radikalen Splittergruppe zweifellos ein Dorn im Auge; man kann aber davon ausgehen, dass diese Kreise - da religiöse Fanatiker ja nicht selten eine Affinität zu Verschwörungstheorien an den Tag legen - dem Pariser Kardinal ohnehin misstrauen, schon allein seines Namens wegen: "Vingt-Trois" heißt nämlich "Dreiundzwanzig", was Grund genug sein dürfte, zu argwöhnen, hinter seiner Karriere in der kirchlichen Hierarchie steckten die Illuminaten.
Nun aber mal die Karten auf den Tisch: Von welcher radikalen Splittergruppe reden wir hier überhaupt? In 'metropolis' war als Wortführer der Protestler ein unangenehm öliger Sprecher des Civitas-Institus zu sehen; das klingt nach Bürgergesellschaft, aber das täuscht: Durch eine kurze Internetrecherche kann man in Erfahrung bringen, dass diese Stiftung den "Lefebvristen" nahe steht - mit anderen Worten: der von dem 1991 verstorbenen ehemaligen Erzbischof von Dakar (Senegal), Marcel Lefebvre, gegründeten "Priesterbruderschaft St. Pius X.", kurz FSSPX (für "Fraternitas Sacerdotalis Sancti Pii X.") - derselben Gruppierung also, die dann wenig später das Gastspiel von 'Gólgota Picnic' am Hamburger Thalia-Theater durch eine Strafanzeige zu verhindern versuchte.
In der deutschen Öffentlichkeit erregte diese 1970 gegründete Bruderschaft zuletzt 2009 größere Aufmerksamkeit, als Papst Benedikt XVI. die 1988 verhängte Exkommunikation der vier Bischöfe der FSSPX aufhob und fast gleichzeitig ein Interview veröffentlicht wurde, in dem einer dieser Bischöfe, Richard Williamson, unter Berufung auf ein mehr als fragwürdiges kanadisches Gerichtsgutachten von 1988 - den so genannten 'Leuchter-Report', dessen Verbreitung in Deutschland als Volksverhetzung strafbar ist - Zweifel an den Opferzahlen des Holocausts anmeldete. Im Handumdrehen war die skandalträchtige Schlagzeile "Papst rehabilitiert Holocaustleugner" fertig - und wirkt bis heute nach: "Piusbrüder? Sind das nicht die mit dem Holocaustleugner?", konnte man etwa auf Twitter lesen. Problematisch an dieser Rubrizierung ist allerdings, dass sie genauso auf eine Vielzahl anderer Gruppierungen zuträfe, die mit den Piusbrüdern ansonsten kaum etwas gemein haben. Und wenngleich man zu Recht darauf verweisen kann, dass der FSSPX schon seit den Tagen ihres Gründervaters Lefebvre antisemitische Tendenzen und eine gewisse Nähe zu rechtsgerichteten politischen Ideologien anhaften, wäre es doch eine allzu plakative Verkürzung, die Bruderschaft schlicht als einen 'Verein von Holocaustleugnern' anzusehen.
Das wesentliche Merkmal der Piusbruderschaft ist vielmehr ihre ultra-traditionalistische Auslegung des Katholizismus, die sich in einer entchiedenen Opposition gegen die Reformen des II. Vatikanischen Konzils äußert. So lehnen die Piusbrüder die Liturgiereform ebenso ab wie Ökumene und interreligiösen Dialog und vertreten in Fragen der Glaubens- und Sittenlehre ausgesprochen rigoristische Positionen. Zusammenfassend gesagt sind sie überzeugt, dass die katholische Kirche seit dem II. Vatikanischen Konzil vom rechten Wege abgekommen ist, und verstehen sich als Gralshüter des 'wahren' Katholizismus. Und genau diese Haltung drückt sich auch in ihren Protesten gegen die Aufführungen von 'Gólgota Picnic' in Paris und Hamburg aus.
Für die Entscheidung des Thalia-Theaters, 'Gólgota Picnic' zu den Lessingtagen einzuladen, dürfte wohl nicht nur die Einschätzung ursächlich gewesen sein, ein Stück, bei dem die Bühne mit 25.000 Hamburgerbrötchen gepflastert ist, passe gut nach Hamburg. Thalia-Intendant Joachim Lux begründete die Entscheidung für das Gastspiel damit, dass die "Auseinandersetzung mit Religion [...] für das Festival ein Thema" sei; dagegen ist erst einmal nichts zu sagen, außer vielleicht, dass man da durchaus auch ein weniger polarisierendes Stück hätte nehmen können. Wenn man denn gewollt hätte. Spätestens nach den Pariser Ereignissen dürfte es für jeden absehbar gewesen sein, dass 'Gólgota Picnic' auch in Hamburg für einen Skandal gut sein würde - und was wäre das Theater ohne Skandale? So ein zünftiger Theaterskandal bringt nicht nur Publicity, er unterstreicht auch die gesellschaftspolitische Relevanz der altehrwürdigen Institution Bühne, und wenn der Skandal darin besteht, dass ein Grüppchen ewiggestriger Ultrareligiöser Zeter und Mordio über angebliche Blasphemie und Pornographie schreit und die Aufführung verbieten lassen will, dann steht das Theater geradezu als Garant von Meinungsfreiheit und Freiheit der Kunst, ja von demokratischem Pluralismus schlechthin da. Was könnte man sich als Intendant Besseres wünschen?
Und genau so kam es dann ja auch. Die öffentlichen Reaktionen auf die causa 'Gólgota Picnic' fielen nahezu einhellig aus: Landauf, landab ergriffen Redaktionen, Blogs und Kommentatoren auf Plattformen wie Facebook und Twitter Partei für das Theater und gegen die Protestler. Der Tenor dieser Meinungsäußerungen lässt sich kaum besser zusammenfassen als durch den nur ein Wort umfassenden Kommentar von Tim Seidel auf der Facebook-Pinnwand des Thalia-Theaters: "Mittelalter!" -- Diese Einschätzung berücksichtigt allerdings nicht, dass die 'Gólgota Picnic'-Gegner für ihren Protest zum Teil durchaus moderne Mittel wählten: so etwa den Versuch, den Betrieb des Thalia-Theaters durch eine Überschwemmung mit eMails und Faxen lahmzulegen. Der Versuch scheiterte jedoch mangels Masse: Drei- bis vierhundert Mails und Faxe innerhalb von drei bis vier Tagen reichten für einen Zusammenbruch der internen Kommunikation im Theater schlicht nicht aus.
Dass auch zur Protestversammlung in der Gaußstraße nur rund 40 Gläubige erschienen, ließ die Hamburger Proteste gegen 'Gólgota Picnic' vollends zur Farce werden. Die Presse veralberte die Demonstranten mit Schlagzeilen à la "Die wollen nur beten", und das Thalia-Theater postete auf Facebook ein Foto der menschenleeren Gaußstraße und witzelte dazu "frei nach O. Waalkes": "
Die Aufführung des Theaterstücks beeinträchtige nicht die individuelle Freiheit des Antragstelles, seinen Glauben als Christ zu praktizieren. Er könne der Aufführung fernbleiben." Damit bekannte das Gericht sich - in offenbarem Widerspruch zu seiner eigenen Klarstellung, der "Straftatbestand des § 166 StGB (Beschimpfung von Bekenntnissen) [...] schütze allein den öffentlichen Frieden und nicht das religiöse Empfinden Einzelner" - im Prinzip zu der verbreiteten Auffassung, dass Religion Privatsache sei: Antireligiöse Polemik erscheint im Lichte dieser Urteilsbegründung allein als Angriff auf das "religiöse Empfinden Einzelner" - und für dessen Schutz seien in erster Linie diese Einzelnen selbst verantwortlich, denen es ja schließlich freistehe, Dinge zu meiden, die ihre religiösen Gefühle verletzen könnten.
Für Theatermacher und andere Kulturschaffende ergibt sich daraus, dass das Verletzen religiöser Gefühle eine bequeme und, man möchte sagen, wohlfeile Möglichkeit darstellt, einen kleinen Skandal zu provozieren, ohne dabei zu viel zu riskieren. Ein paar Leute, die sich darüber aufregen, wird es immer geben - sonst würde ja kein Skandal daraus -, aber diese Leute sind weitgehend isoliert, haben keinen wirklichen gesellschaftlichen oder politischen Einfluss und haben den Großteil der öffentlichen Meinung von vornherein gegen sich; die Künstler können also darauf bauen, in jedem Fall als moralische Sieger aus dem Skandal hervorzugehen. Für die jeweils betroffenen Religionsgemeinschaften hingegen ergibt sich ein Dilemma. Empören sie sich lautstark, stehen sie als intolerant und banausisch da; reagieren sie moderat und gelassen, rufen sie damit radikale Splittergruppen wie die Piusbrüder auf den Plan, die die Empörung monopolisieren und für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren.
An dieser Stelle erscheint es mir sinnvoll, an zwei andere Theaterskandale der letzten Jahre zu erinnern, in denen es auf die eine oder andere Weise um die 'Verletzung religiöser Gefühle' ging: Johann Kresniks 'Zehn Gebote' in Bremen 2004 sowie die Auseinandersetzung um Hans Neuenfels' Inszenierung der Mozart-Oper 'Idomeneo' an der Deutschen Oper Berlin 2006.
Kresniks Stück, das ja bereits im Titel eindeutige religiöse Bezüge erkennen ließ, sollte nach dem Willen des Bremer Theaters eigentlich im dortigen - evangelischen - Dom aufgeführt werden; verhindert wurde dies durch eine Kampagne, die sehr wesentlich von der BILD lanciert bzw. gefördert wurde. Anlass dafür war die Bekanntmachung, Kresnik suche für seine Inszenierung noch Komparsinnen - nämlich ältere Frauen, die nackt an Nähmaschinen sitzen und Deutschlandflaggen nähen sollten. "Dieses Schock-Drehbuch besudelt unseren Dom", empörte sich daraufhin Springers heißes Blatt; Auftakt zu einer Kampagne 'Saubere Kirche', die gegen die "Darstellung von Nacktheit in deutschen Gotteshäusern" Sturm lief. "Ein gewisser Lukas Cranach steht ganz oben auf der Liste der notorischen Schmierfinken", scherzte das Feuilleton der FAZ treffend. Immerhin hatte die Kampagne den 'Erfolg', dass die Domgemeinde die Aufführung in ihren Räumlichkeiten untersagte; daraufhin sprang die ebenfalls evangelische Friedenskirche ein - und zog sich den Zorn konservativer Protestanten zu, die mit Transparenten mit Slogans wie "Jesus Christ spricht: Mein Haus soll ein Bethaus sein" (Lk 19,46) vor der Kirche demonstrierten. Die Premiere der 'Zehn Gebote' fand unter massivem Polizeischutz statt.
Als Blamage für die Deutsche Oper Berlin wie auch für den damaligen Innensenator Körting ging der Skandal um Neuenfels' 'Idomeneo'-Inszenierung in die Geschichte ein. Stein des Anstoßes war eine Szene, in der die abgeschlagenen Köpfe von Poseidon, Buddha, Jesus und Mohammed auf die Bühne gebracht wurden - im Kontext der Opernhandlung ein deutliches Bild für die Auffassung, ohne Religion(en) sei die Welt ein besserer, friedlicherer Ort. Proteste von Christen, Buddhisten oder gar Anhängern der alten griechischen Götter wurden offenbar nicht befürchtet - wohl aber Aktionen islamischer Fundamentalisten. Innensenator Körting informierte die Opernintendantin Kirsten Harms telefonisch, es gebe Sicherheitsbedenken gegen die Aufführung - woraufhin Frau Harms entschied, die Aufführung abzusetzen. Dieser Entschluss zog breite Kritik aus allen politischen Lagern - in der Tat: auch aus CDU und CSU! - nach sich; von "Feigheit" und "Selbstzensur" war die Rede; selbst Sprecher muslimischer Organisationen in Deutschland gaben zu Protokoll, sie sähen keinen Anlass für eine Absetzung des Stücks. Die Peinlichkeit der ganzen Affäre wurde noch gesteigert dadurch, dass es sich lediglich um die Wiederaufnahme einer Inszenierung von 2003 handelte, gegen die es zuvor nie Proteste gegeben hatte. In Folge eines Gutachtens der Polizei, das die Gefahr islamistischer Terrorakte als gering einstufte, wurde der 'Idomeneo' schließlich doch wieder gezeigt.
Im direkten Vergleich zu 'Gólgota Picnic' erwecken diese Beispiele den Eindruck, dass religiös motivierte Proteste gegen Theateraufführungen - oder auch nur die theoretische Möglichkeit solcher Proteste - 2004 und 2006 tendenziell ernster genommen wurden als 2012. Über die Ursachen dieser Entwicklung zu spekulieren, ist hier nicht der Platz. Gemeinsam ist allen drei Fällen jedoch, dass die maßgeblichen Feuilletons nach erfolgter Aufführung nahezu einhellig zu dem Schluss kamen, die jeweilige Inszenierung sei an sich die ganze Aufregung gar nicht wert. Umso interessanter ist es, sich einmal anzusehen, wie der Jesuitenpater Hermann Breulmann, der im Auftrag des Erzbistums Hamburg eine Aufführung von 'Gólgota Picnic' besuchte, über das Stück urteilt. Breulmann kommt zu dem Ergebnis, 'Gólgota Picnic' sei durchaus "ein moralistisches Stück" - jedoch, und das dürfte nun wirklich überraschen, "auch ein leibfeindliches Stück, weil der gefallene Engel schwebte am Anfang und Schluss über dem Ganzen. Selbst bei den vielen Nackten war letztlich die Frage der Gleichgültigkeit, auch der Weltfeindlichkeit [...], auch Thema dieses [...] Stückes." Diese Weltfeindlichkeit sieht Breulmann in engem Zusammenhang mit den antireligiösen, speziell antichristlichen Tendenzen von 'Gólgota Picnic': "[D]ass der Mensch, der Christ, auch die Inkarnation, letztlich auch eine Bejahung der Welt ist: dass Gott sich nicht aussuchen konnte, in welchem Menschen er Mensch wurde, sondern dass er letztlich eine Liebeserklärung, ein letztes Ja zu dieser Welt und zu den Menschen gesagt hat, und diese von daher im Letzten auch liebeswürdig sind - das wurde in diesem Stück von Anfang an bestritten." Gerade angesichts dieser Verweigerungshaltung gegenüber der göttlichen Liebe sei 'Gólgota Picnic' "[a]uch ein Stück der Einsamkeit, [...]. Aber einer spirituellen Einsamkeit, die auch nachdenklich machte. Und die, wie die Schauspieler mir sagten, für sie auch eine Art Gebet waren." Auf die Frage angesprochen, ob das Stück blashemisch sei, räumt Pater Breulmann ein, es habe "auch blasphemische Elemente, wobei ich sagen würde: Blasphemisch ist Jeremia auch schon gewesen, als er die Tempelgötter lächerlich machte. Ich glaube auch, dass ein blasphemischer Kern im Zentrum unseres Glaubens steht. Jesus ist wegen Gotteslästerung auch gekreuzigt worden. Der Satz 'Mein Gott, warum hast Du mich verlassen' ist ja nicht nur ein geistlich-beruhigender Satz, sondern auch ein Satz, der einen tiefen Riss noch mal ins Zentrum des christlichen Glaubens hineinsetzt."
Es liegt auf der Hand, dass die Piusbrüder und ihre Gesinnungsgenossen angesichts solcher Äußerungen Zeter und Mordio schreien und dem Pater Breulmann umgehend den Scheiterhaufen an den Hals wünschen würden. Das spricht aber - auch wenn sie selbst das Gegenteil behaupten würden - weniger für ihre Glaubenstreue als für ihre Verbohrtheit. Pater Breulmanns feinsinnige Interpretation von 'Gólgota Picnic' belegt eindrucksvoll, dass die Kirche es nicht nötig hat, nach Verboten zu schreien, weil sie in der Lage ist, Antworten zu geben. Auch wenn zu befürchten ist, dass diese Antworten nur vergleichsweise Wenige erreichen.
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