Montag, 30. September 2019

Kaffee & Laudes - Das Wochen-Briefing (26. Woche im Jahreskreis)

Was bisher geschah: Von der Papierform her eine Woche ohne besonders herausragende Vorkommnisse, aber zu tun gab es natürlich trotzdem allerlei. Am Montag hatte die Liebste einen Foodsaving-Einsatz in einer Hummus-Fabrik, folglich gab es bei uns für den Rest der Woche jede Menge Hummus zu essen. Am Dienstag unternahm ich zusammen mit meiner Tochter eine dank der Transportkapazitäten unseres brandneuen Bollerwagens äußerst ertragreiche Büchertausch-Expedition: 41 aus den diversen Spenden fürs Büchereiprojekt aussortierte Bücher sowie 18 aus meinen privaten Beständen, die ich nicht länger behalten wollte, aber auch nicht geeignet für das Büchereiprojekt fand, bin ich losgeworden und habe im Austausch dafür 19 andere Bücher herangeschafft. Am Mittwoch stand für meine Liebste und ihre Elftklässler der Besuch einer von Schülern ihrer Schule gestalteten Ausstellung zum Thema "30 Jahre Mauerfall" auf dem Programm, und meine Liebste hatte sich überlegt, dorthin könnten das Kind und ich ruhig mitkommen. Ich hatte auch durchaus Lust darauf, aber tatsächlich gestaltete sich das Ganze dann eher stressig: Zum einen war der Raum von vornherein zu klein für die Ausstellung, und dann waren deutlich zu viele Schülergruppen auf einmal da. Im Nebenraum, in dem wir eine Weile warten mussten, stand ein Klavier, und ich phantasierte ein wenig darüber, wie cool es wäre, wenn ich Klavier spielen könnte, dann würde ich mich da dransetzen und... Moment mal, unterbrach ich mich in Gedanken und wandte mich an die Schüler meiner Liebsten: "Kann von euch jemand Klavier spielen?" Ein Schüler konnte tatsächlich, meldete sich allerdings nicht freiwillig, sondern wurde von seinen Mitschülern "gemeldet". Auch dann zierte er sich noch ein wenig, brachte aber schließlich doch ein Klavierstück zu Gehör. Sehr gut. Am Abend war in unserer Gemeinde "Bibelteilen", da gingen wir hin; eigentlich vom Stil her nicht so ganz mein Ding, aber ich finde trotzdem, man sollte das unterstützen. -- Am Samstag war nicht nur "Chorkarussell" in der evangelischen Dorfkirche Alt-Tegel, sondern auch Herbstfest im Gemeinschaftsgarten "Himmelbeet" am Leopoldplatz; wir steuerten zunächst das "Himmelbeet" an, hielten uns in Anbetracht des instabilen Wetters aber nicht lange dort auf. Die Dorfkirche Alt-Tegel zeichnete sich durch Kirchenbänke aus, die ohne Zweifel aus einer Zeit stammten, als das Thema Buße in der Kirche noch erheblich größer geschrieben wurde als jetzt (mit anderen Worten, sie waren unfassbar unbequem). Trotzdem war die Kirche gut besucht und das musikalische Programm hörenswert, aber unser liebes Kind hielt es nur begrenzte Zeit dort aus. -- Am Sonntag war, wie bereits angekündigt, in unserer Kirche Erntedank; die Gestaltung war weitgehend frei von liturgischen (bzw. a-liturgischen) Grausamkeiten, allerdings hatte ich gegen die Predigt Einwände -- und sagte mir: Damit der Pfarrer sich nicht nächstens wieder vor versammelter Gemeinde darüber mokieren muss, was ich in meinem Blog geschrieben habe, gehe ich doch lieber zum Predigtnachgespräch, das der Pfarrer einmal im Monat anbietet, und sage es ihm direkt. Wahrscheinlich werde ich aber trotzdem noch darüber bloggen müssen, denn ich habe nicht unbedingt das Gefühl, dass meine kritischen Anmerkungen "angekommen" sind -- auch bei den meisten anderen Diskussionsteilnehmern nicht. 


Was ansteht: Es gibt mal wieder allerlei zu tun, speziell in der Pfarrgemeinde! Am Dienstagabend tagt der Pfarrgemeinderat -- ich vermute, zum letzten Mal in der "alten" Besetzung; für die anstehende Wahl eines neuen Pfarrgemeinderates gibt es, soweit ich gehört habe, bislang nur zwei Kandidaten, und einer davon bin ich. Die Sitzung am Dienstag ist öffentlich, vielleicht sollte ich mich da zu Wahlkampfzwecken mal blicken lassen. -- Am Mittwoch ist "Dinner mit Gott", erstmals mit frisch überarbeitetem Konzept;  ich hoffe mal, dass da auch ein paar "neue Leute" dabei sein werden. Und übrigens muss ich für den Auftakt des Abends noch eine Rosenkranzandacht vorbereiten... Danach beginnen praktisch gesehen schon die Herbstferien; offiziell zwar noch nicht, aber am Donnerstag ist ein säkularer Feiertag und am Freitag Brückentag.  Am Samstag finden in unserer Pfarrkirche zwei Taufen statt, eine am Vormittag, eine am Nachmittag; vielleicht schaffen wir es, wenigstens bei der ersteren dabei zu sein, nachmittags müssen wir wohl zur Vorabendmesse nach St. Joseph, da wir am Sonntag auf Reisen sind. Wohin? Nach Herzogenrath bei Aachen, wo ich am Montagabend - aber das gehört ja eigentlich schon in die nächste Wochenvorschau - im Rahmen der Herzogenrather Montagsgespräche über die "Benedikt-Option" sprechen werde. Und diesmal gönne ich mir den Luxus, Frau und Kind dorthin mitzunehmen. Ob wir es vor unserer Abreise noch schaffen, bei "Suppe & Mucke" vorbeizuschauen, bezweifle ich eher... aber ausschließen will ich es vorerst noch nicht. 


aktuelle Lektüre: Mit der bisherigen Leseliste bin ich bereits am Dienstag fertig geworden und konnte mich daher während des größten Teils der zurückliegenden Woche neuen Büchern widmen; aber erst einmal gilt es Bilanz zu ziehen, und die sieht aus wie folgt: 

"Die Zeit des Feuers" von Heike Behrend ist zum Ende hin tatsächlich noch einmal deutlich interessanter geworden, als ich das Buch sowieso schon fand. Kurz vor Schluss des im Zeitraum von 1978-85 entstandenen Buches geht die Autorin nämlich darauf ein, dass die ausführlich geschilderten Riten des Übergangs zwischen verschiedenen Lebensabschnitten von den jüngeren Angehörigen des Volkes der Tugen kaum noch vollzogen werden: "In den Schulen erzählt man ihnen, daß Rituale der Verschwendung dienen und 'Unsinn sind'. Sie lernen, Rituale als Zeichen der 'Unterentwicklung' zu sehen und sich der eigenen Traditionen zu schämen" (S. 111). Für die Ältesten ist das ein massives Problem, denn auch ihr eigener ritueller Status ist von dem ihrer Kinder und Enkel abhängig; wenn diese die traditionellen Rituale nicht vollziehen, gerät die "rituelle Karriere" der Alten "ins Stocken". "Ohne Rituale, so sagen sie, sind sie nichts. Es ist, als wären sie bereits tot" (ebd.). -- Nicht minder interessant erscheint es mir, dass es für die Tugen das schlimmste denkbare Unglück ist, "[k]eine Kinder zu haben, die nach dem Tod den Namen tragen und weitergeben" (S. 108f.). In diesem Zusammenhang erwähnt die Autorin auch einen Schadenszauber, der darauf abzielt, das Opfer unfruchtbar zu machen; dies ist ein so mächtiger Zauber, dass er sich, wenn er im Übermaß angewandt wird, gegen den Zauberer selbst wenden kann -- ein Gedanke, der mich irgendwie an den "Erdsee"-Zyklus von Ursula K. LeGuin erinnert, aber das nur am Rande. Heike Behrend schreibt: "Die Vernichtung der Fruchtbarkeit ist ein so großes Vergehen, daß es sich von selbst rächt" (S. 108).  -- Alles in allem hat das Buch meine Erwartungen durchaus erfüllt, wenn nicht übertroffen; ich schwanke noch, ob ich ohm einen Büchereistempel geben und es somit dauerhaft in den Bestand aufnehmen soll, aber für die vorläufige Aufnahme hat es sich allemal qualifiziert. 

Mein Gesamtfazit zu John Dos Passos' "Manhattan Transfer" fällt erheblich positiver aus, als ich es anfänglich vermutet haben würde; ich schätze, hätte ich die Lektüre innerhalb der ersten 40 Seiten entnervt abgebrochen, wäre ich bis an mein Lebensende davon überzeugt gewesen, nichts Bedeutendes verpasst zu haben, aber da ich das nicht getan habe, finde ich nun doch, die Lektüre dieses Romans lohnt sich. Zum Ende hin zerfällt die Handlung zwar wieder zusehends in unzusammenhängende Einzelszenen, aber das ist vom Autor zweifellos so gewollt; man kann kaum bestreiten, dass Dos Passos auf die Komposition seines Romans große Sorgfalt verwendet hat. So wird zum Beispiel der Tod Stan Emerys gegen Ende des zweiten Teils bis in kleinste Details spiegelbildlich zum Tod Bud Korpennings am Ende des ersten Teils geschildert.

Zum Zeitpunkt von Stan Emerys Tod ist Ellen alias Elaine von ihm schwanger, und zunächst zeigt sie sich entschlossen, das Kind auszutragen und aufzuziehen; aber dann folgt eine Szene bei einem Abtreibungsarzt, die gerade durch ihre kühle Nüchternheit erschütternd und deprimierend wirkt (S. 222f.). Die Frau, die da zu einer ambulanten Abtreibung kommt und gleich anschließend mit dem Taxi zum Tee ins Ritz fährt, wird zwar nicht beim Namen genannt, und ich habe im Netz tatsächlich eine Interpretation gefunden, die davon ausgeht, dass es nicht Ellen sei, sondern dass diese Szene vielmehr lediglich einen Kontrast zu Ellens Entschluss bilden soll, Stans Kind auszutragen; aber dann müsste man sich fragen, was aus dem Kind wird: Das Baby, mit dem Ellen und Jimmy Herf, den sie inzwischen geheiratet hat, nach dem Krieg aus Europa zurückkehren, kann jedenfalls schon aus Altersgründen nicht Stans Kind sein. Das Thema Abtreibung kommt auf ausgesprochen drastische Weise noch einmal im Roman vor: Auf S. 311 erzählt eine Frau, sie habe einen "schrecklichen Geruch [...] in der Wohnung" gehabt, und schließlich habe man deshalb "die Rohrleitung inspizieren lassen"; wie sich herausstellte, waren die Rohre im Haus verstopft, weil eine Mieterin in ihrer Wohnung "unerlaubte Eingriffe vorgenommen" hat.

Von diesem Thema einmal abgesehen, lassen sich - wie ich es schon geahnt hatte - in der zweiten Hälfte von "Manhattan Transfer"  tatsächlich mehr und mehr motivische Übereinstimmungen mit der ersten Hälfte von Dorothy Days "The Long Loneliness" feststellen: Arbeitskämpfe, Repressionen gegen tatsächliche oder vermeintliche Kommunisten, die Prohibition... In einer Debatte über "Kapitalinteressen" fällt der schöne Satz "Ich halte aber den wohlhabenden Geschäftsmann keineswegs für das höchste Ideal menschlicher Bestrebungen" (S.219); dem hätte Dorothy Day zweifellos zugestimmt, und ich tue es auch. Einen anderen Satz, den einige Kapitel später Ellen alias Elaine alias Helena - neben Jimmy Herf, den man wohl als Identifikationsfigur des Autors betrachten darf, die zentrale Figur des ganzen Romans - äußert, finde ich gleichwohl nicht weniger hübsch:
"[A]ber ich habe das alles so gründlich satt... [...] diese ästhetische Tanzerei, die Literatur, den Radikalismus, die Psychoanalyse...[...] Ich glaube, aus mir wird mit der Zeit ein erwachsener Mensch" (S. 283).   
Im letzten Kapitel des Romans treffen zwei spielende Kinder einen bärtigen Mann, der ein apokalyptisches göttliches Strafgericht über New York heraufbeschwört und von dem nicht völlig klar zu sein scheint, ob er nur ein geisteskranker Penner ist oder doch ein Prophet wie Jona. "In einem einzigen Häuserblock von New York steckt mehr Gottlosigkeit als dazumal in einer Quadratmeile Ninive" (S. 313), erklärt er. Das ist eine starke Szene, aber ich würde sagen, sie reicht nicht aus, um den Roman als Ganzen für #benOp-relevant zu erklären. Einen vorläufigen Platz im Romanregal des Büchereiprojekts räume ich "Manhattan Transfer" aber trotzdem gern ein.

Von Dorothy Days "The Long Loneliness"  bin ich so begeistert, dass ich kaum weiß, wie ich es adäquat in Worte fassen soll. Indes muss ich meine ursprüngliche Einschätzung, der inhaltliche Schwerpunkt des Buches liege auf der Zeit vor der Gründung der Catholic Worker-Bewegung, etwas relativieren. Rein von der Textmenge her stimmt das einigermaßen; erst am Ende von S. 166, nach fast 60% des Gesamtumfangs des Buches, tritt erstmals der Catholic Worker-Mitbegründer Peter Maurin auf, "whose spirit and ideas will dominate the rest of this book as they will dominate the rest of my life". Diese Aussage ist, auf die verbleibenden 40% des Buches bezogen, nicht übertrieben.  Die folgende Schilderung der ersten 18 Jahre der Catholic Worker-Bewegung hat mich, kurz gesagt, umgehauen; ich werde darauf wohl noch an anderer Stelle ausführlicher zurückkommen müssen. Jedenfalls empfinde ich diese Schilderungen als überaus lehrreich, inspirierend und - wenngleich Schwierigkeiten Fehlschläge,  interne Streitigkeiten und Spaltungen weder verschwiegen noch beschönigt werden - motivierend für jedwede Unternehmung aus der Rubrik "christliche Graswurzelrevolution". Ein absolutes Must-Read also; und da habe ich nun ein Problem, denn mein persönliches Exemplar mag ich eigentlich nicht dem Büchereiprojekt spenden, sondern will es selber behalten. Sollte ich hingegen ein zweites Exemplar in die Finger bekommen, ja dann...!

Ein paar bemerkenswerte Querverbindungen zu anderen Büchern, die ich seit Beginn der "Kaffee & Laudes"-Reihe gelesen und besprochen habe, habe ich in "The Long Loneliness" übrigens auch entdeckt. So erwähnt Dorothy Day eine Diskussion, in der jemand - ein Jemand, der sich später als der exilierte russische Ex-Regierungschef Alexander Kerenskij entpuppt - den Einwand vorbrachte "that the gesture of going to the people was futile and that it had been tried in Russia and failed" (S. 216); ich habe den Eindruck, Kerenskij spielt hier auf die Strategie der Narodniki zur Indoktrinierung der Landbevölkerung an, die Debogory-Mokriewitsch in seinen Memoiren ausführlich schildert (und ebenfalls als Fehlschlag bewertet). Auf S. 257 vergleicht die Autorin die von dem Pittsburgher Diözesanpriester und Buchautor John J. Hugo abgehaltenen Exerzitien mit jenen, die in "Ein Porträt des Künstlers als junger Mann" geschildert werden -- und betont, so seien diese nicht gewesen. 

Simon Becketts "Obsession" ist zum Ende hin immer stärker von einem Merkmal geprägt, das auch für spätere, erfolgreichere Werke des Autors charakteristisch ist, nämlich von extremer Brutalität.  Den in, wenn man das so sagen kann, philosophischer Hinsicht interessanten Aspekten des Romans, zu denen ich mich bereits vorige Woche geäußert habe, tut das aber nicht unbedingt Abbruch. Stellenweise ist er sogar auch stilistisch gar nicht so übel; gut gefallen hat mir etwa eine Passage, in der das Gefühl innerer Leere, das den Protagonisten nach dem Verlust seiner Frau und dem Verlust des Sorgerechts für seinen Stiefsohn befallen hat, wie folgt beschrieben wird:
"Es war, als würde er nur ein Zimmer eines riesigen Hauses bewohnen. Manchmal war er sich der restlichen Räume bewusst, die darauf warteten, dass er sie wieder bezog, er spürte aber keinerlei Bedürfnis, seine emotionale Einzimmerwohnung zu verlassen." (S. 286) 
Äußerst bemerkenswert erscheint mir eine Passage, in der der Protagonist Ben sich darüber ärgert, dass man ihn einen "kommerziellen Fotografen" nennt - "als wäre er dadurch eine Art fotografischer Prostituierter" -, dann aber zu dem Schluss kommt, dass das im Grunde stimmt:
"Keine seiner Arbeiten hatte eine dauerhafte Wirkung. Die Modefotografien waren gerade so lange von Bedeutung wie die Mode, die sie zeigten, und seine Werbeaufnahmen konnten höchstens einen gewissen Kitschwert für sich beanspruchen. Er war gut in dem, was er tat, aber was er tat, war nichts wert. Es war Wegwerfware." (S. 347) 
Ja Momentchen mal: Kann es sein, dass der Autor hier in Wirklichkeit über seine eigene Tätigkeit als Trivialschriftsteller reflektiert? Oder ist ihm das eher unabsichtlich durchgerutscht? Fakt ist jedenfalls, dass der Held des Romans ein ziemlich oberflächlicher Typ ist -- ganz im Gegensatz zu seinem Gegenspieler John Cole: Der sucht nämlich "das System". "Er glaubt dass alles ein System hat. Dass es einen Grund für alles gibt, was passiert, nur dass wir ihn nicht sehen können." Diese Suche nach dem "System" ist auch der Grund, weshalb Cole auf einem Schrottplatz arbeitet, obwohl er für diesen Job überqualifiziert ist, und in seinem privaten Garten Teile von Unfallwracks sammelt: "Er glaubt, dass man es leichter in zertrümmerten Sachen finden kann. Da ist es näher an der Oberfläche" (S. 321). In der einzigen Passage des Romans, die nicht aus Bens, sondern aus Coles Perspektive erzählt wird - kurz vor Schluss -, erklärt er seinem Sohn,
"dass du, ich, der Boden, der Schreibtisch hier, dass alles miteinander verbunden ist. Und wenn alles miteinander verbunden ist, dann ist alles, was mit einem Ding oder einem Menschen passiert, selbst wenn er auf der anderen Seite der Welt ist, ein Teil des Ganzen. Ein Teil von uns. Es hat eine Auswirkung auf uns, auch wenn wir es nicht wissen. [...] Das System steckt in jedem Teilchen [...], und wenn du es sehen könntest, könntest du verstehen, warum passiert, was passiert, und du könntest verhindern, dass alles kaputtgeht." (S. 405f.) 
Mit diesem in ein quasi-wissenschaftliches Vokabular gekleideten und sich somit nicht offen als religiös zu erkennen gebenden Pantheismus legt Cole immerhin einen bedeutend größeren spirituellen Ernst an den Tag als Ben -- der indes durchaus auch seine selbstgestrickte Pseudoreligion hat: Mal befällt ihn "eine abergläubische Unruhe [...], als könnten sich jetzt die Götter, die Vorsehung und das Pech" gegen ihn "verschwören" (S. 259), mal erklärt er sich den plötzlichen Tod seiner Frau als "eine Laune des unergründlichen Universums" (S. 341), was ihn nicht davon abhält, an anderer Stelle "an einen Gott [zu] appellier[en], an den er nicht glaubte" (S. 383). Über seine Konfrontation mit Cole reflektiert er: "Beide waren durch ihre Charaktere und die Ereignisse zwangsläufig ihrem Weg gefolgt" (S. 319); da frage ich mich nun allerdings: Glaubt der Autor das eigentlich wirklich? -- Alles in allem, würde ich mal sagen, ist das eine ganze Menge Gepäck für einen mittelprächtigen Trivialroman, und ich denke, ich würdige das, indem ich dem Buch vorläufig einen Platz im Romanregal des Büchereiprojekts einräume. Da stehen derzeit sicherlich sehr viel schlechtere, die man dafür 'rausschmeißen kann. 

Indes lässt sich mein Gesamturteil zu Mely Kiyaks "Ein Garten liegt verschwiegen" in vier Wörtern zusammenfassen: Was für ein Scheiß. Wirklich, ich bin richtig sauer. Wie kann man über ein so interessantes Thema ein so dummes, albernes, oberflächliches und geschwätziges Buch schreiben und sich dafür auch noch bezahlen lassen? Ironischerweise werde ich das Buch wahrscheinlich trotzdem - zumindest vorläufig - in den Büchereibestand aufnehmen, allein wegen der inhaltlich interessanten Informationen, die in dem ganzen dümmlichen Gequatsche verborgen sind wie Perlen im Schweinetrog. 

Nun aber zur neuen Leseliste: 
Ein Fundstück aus dem "Tree-Saving Book Pentagon" in Niederschönhausen. Verspricht interessant zu werden, denn einerseits konvertierte Greene wenige Jahre vor Beginn seiner Schriftstellerkarriere zum Katholizismus, andererseits war er ein Alkoholiker und Ehebrecher und pflegte ein durchaus zwiespältiges Verhältnis zur Kirche. Der Kritiker Rudolf Walter Leonhardt meinte sogar, Greene habe unter anderem deshalb nie den Literaturnobelpreis bekommen, weil er "den Katholiken zu ketzerisch", aber "den Atheisten zu katholisch" gewesen sei. "Die Reisen mit meiner Tante" ist eines seiner späten Werke und wurde 1972 mit Maggie Smith in der Hauptrolle verfilmt, Regie führte Altmeister George Cukor. Man darf gespannt sein.

Ein Exemplar von Saint-Exupérys zweitem Roman habe ich aus dem schon erwähnten "Tree-Saving Book Pentagon", ein weiteres hat sich in einem Karton mit Bücherspenden angefunden. Ich denke, der Autor verdient es, dass man sich mal ansieht, was er außer "Der kleine Prinz" noch so geschrieben hat. Übrigens ergibt sich da eine interessante und überraschende Querverbindung zu einem erst unlängst hier besprochenen Buch, nämlich, wer hätte es gedacht, zu Joachim Seyppels "Ein Yankee in der Mark". Da unterhält sich Seyppel nämlich in einer Bar in Potsdam mit einem, der sagt, "Exupéry möchte er gern lesen, das mit der Postfliegerei" (S. 199). Na dann schauen wir mal! 

Ein Roman über den Propheten Jesaja, laut Klappentext "[u]nter Berücksichtigung historischer und archäologischer Forschungen" verfasst. Es handelt sich um eines der Bücher aus dem Bücherkarton, den ich in den Sommerferien von meinem Bruder bekommen habe; genauer gesagt das fünfte Buch aus dieser Kollektion, das ich mir vorknöpfe. Die bisherige Bilanz ist ja sehr ausgeglichen (man könnte auch sagen "durchwachsen"): Eins der Bücher aus diesem Karton fand ich absolut großartig ("A Smile on the Face of God" von Adrian Plass); eines ist mir auf unglückselige Weise abhanden gekommen, ehe ich es zu Ende lesen konnte, aber bis dahin fand ich es trotz einiger Kritikpunkte überwiegend gut ("So stark wie das Leben" von Francine Rivers); eins war inhaltlich sehr interessant, dabei aber ärgerlich oberflächlich und zudem beleidigend schlecht geschrieben ("Ein Garten liegt verschwiegen" von Mely Kiyak); und eins würde ich in die Kategorie "häretischer Bullshit" einordnen und nervt außerdem wie Fußpilz ("Der Pater" von Eva Winde-Schwarz). In welche Richtung wird nun wohl Hermann Koch, seines Zeichens Katechet der Evangelischen Landeskirche  in Württemberg und Dozent für Religionspädagogik, die Gewichte verschieben? Ich bin intuitiv skeptisch, aber warten wir's mal ab. 

Ein Klassiker, den ich gleichwohl bisher noch nicht aus eigener Lektüre kenne. Und das, obwohl ich über die Marlitt promoviert habe, deren Werken zeitgenössische Kritiker eine recht nahe Verwandtschaft zu "Jane Eyre" nachsagten. Indes behauptete der Bruder der Marlitt, Alfred John, in seinem biographischen Nachruf, seine Schwester habe "bei all ihrer Belesenheit gerade dieses Buch gar nicht gelesen". Wie dem auch sei, literaturgeschichtlich gehört "Jane Eyre" wohl gewissermaßen in die Übergangsphase von der gothic novel zum realistischen "Frauenroman", und ich denke, die Lektüre verspricht recht interessant zu werden. Das mir vorliegende Exemplar des Buches habe ich aus einer Büchertelefonzelle, ich weiß aber nicht mehr, aus welcher. 

Auch ein Fundstück aus einer Büchertelefonzelle, nämlich jener am Letteplatz. Das Buch knüpft an an eine Episode der von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verantworteten, auf Phoenix ausgestrahlten Fernsehtalkshow "Tacheles" aus dem Jahr 2002. Auch wenn die betreffende Sendung, und in der Folge auch das Buch, bereits die Titel-Unterzeile "An den Grenzen der Toleranz?" trägt, kann oder muss man wohl sagen, dass sich die Debatte über den Islam in Deutschland seither noch erheblich verschärft hat. Insofern denke ich mir, dass das Buch gerade aus dem zeitlichen Abstand von 17 Jahren recht aufschlussreich zu lesen sein dürfte. Jedenfalls hoffe ich das. 


Linktipps: 
Angesichts der zunehmend aufgeheizten (no pun intended -- oder doch?) Klimaschutzdebatte erfreut Bloggerkollegin Mary of Magdala mit einem klugen und besonnenen Beitrag, der gleich nach mehreren Seiten hin wichtige Abgrenzungen vornimmt. Da kriegen sowohl diejenigen "Konservativen" ihr Fett weg, die von Umwelt- oder Klimaschutz aus Prinzip bzw. Trotz nichts wissen wollen, weil das ja alles "grüne Ideologie" sei, als auch diejenigen kirchlichen Kreise, die sich einfach an den Zug der globalen Klimaschutzbewegung anzuhängen versuchen und es dabei nicht hinkriegen, fundamentale Unterschiede zwischen einem genuin christlichen Verständnis von Verantwortung für die Schöpfung und, eben, "grüner Ideologie" sinnvoll zu kommunizieren. An den im Zeichen von "Fridays for Future" etc. in der derzeitigen Klimaschutzdebatte vorherrschenden Tendenzen tadelt der Artikel insbesondere einen Aspekt, der auch mir - gerade aus #BenOp-Perspektive - gehörig gegen den Strich geht: nämlich die Tendenz, das Heil von "der Politik" zu erwarten, anstatt sich zunächst mal darauf zu konzentrieren, was man im täglichen Leben, im eigenen Konsumverhalten etc. selbst bewirken kann. 

Auch und gerade für solche Leser empfehlenswert, die sich mit diesem Thema lieber möglichst wenig auseinandersetzen möchten: Übersichtlich und präzise trägt der Chefredakteur der deutschsprachigen Sektion der Catholic News Agency Indizien dafür zusammen, dass der von der Deutschen Bischofskonferenz angestrebte "Synodale Weg" schon gescheitert ist, bevor er offiziell begonnen hat. Gleichwohl bestehen kaum Zweifel daran, dass die Mehrheit der deutschen Bischöfe, allen voran Kardinal Marx, trotzdem entschlossen ist, die Sache durchzuziehen. Der Erzbischof von Denver/Colorado, Samuel J. Aquila, warnt derweil bereits vor der Gefahr eines "deutschen Schismas".  


Heilige der Woche: 

Montag. 30. September: Hl. Hieronymus (347-420), Kirchenvater. Als radikaler Asket und nicht weniger radikaler Polemiker war er zu Lebzeiten innerkirchlich durchaus umstritten. Umfassend gebildeter, sehr produktiver Autor theologischer Werke, schuf die jahrhundertelang maßgebliche lateinische Bibelübersetzung (die Vulgata).

Dienstag, 1. Oktober: Hl. Thérèse von Lisieux (1873-1897), Ordensfrau, Mystikerin, Kirchenlehrerin. Trat infolge einer Ausnahmegenehmigung schon mit 15 Jahren in ein Kloster der Unbeschuhten Karmelitinnen ein; ihre Autobiographie, die sie auf Anordnung ihrer Priorin verfasste, ist nach der Bibel das meistgelesene religiöse Buch in französischer Sprache. Starb mit nur 24 Jahren an Tuberkulose; wurde 1923 selig-, 1925 heiliggesprochen und 1997 zur Kirchenlehrerin ernannt.

Mittwoch, 2. Oktober: Heilige Schutzengel. Im Jahr 2005 ergab eine Forsa-Umfrage, dass zwei Drittel der Deutschen an Schutzengel glauben -- mehr als an Gott. Daran, dass der Glaube an Engel in den Köpfen vieler Leute überhaupt keinen Zusammenhang mit dem christlichen Glauben mehr hat, ist allerdings die Kirche selbst wohl nicht ganz unschuldig -- konkreter gesagt solche Kirchenvertreter, die bemüht sind, eine von allem Übernatürlichen "gereinigte", im Wesentlichen sozialpolitisch ausgerichtete Zivilreligion zu verkünden. Und solche haben wir hierzulande ja reichlich. Gleichwohl haben die Schutzengel im liturgischen Kalender der katholischen Kirche einen offiziellen, gebotenen Gedenktag. Der Katechismus der katholischen Kirche betont, die Existenz von Engeln sei "eine Glaubenswahrheit" (Nr. 326); bezüglich des Glaubens an persönliche Schutzengel verweist der Katechismus auf den Kirchenvater Basilius den Großen, der schrieb: "Einem jeden der Gläubigen steht ein Engel als Beschützer und Hirte zur Seite, um ihn zum Leben zu führen" (336). Als biblische Grundlage hierfür kann man Psalm 91,11 heranziehen: "Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen."

Freitag, 4. Oktober: Hl. Franz von Assisi (1181/82-1226), Diakon, Mystiker, Ordensgründer. Wohl einer der populärsten Heiligen der, ähem, "nachkonziliaren" Kirche. Die allzu verbreitete Vorstellung vom Heiligen Franz als softem, umwelt- und tierschutzbewegtem, blumenliebenden Proto-Hippie - an der man dem Zeffirelli-Film  "Bruder Sonne, Schwester Mond" ebenso die Schuld geben könnte wie "Laudato Si", der Wanderklampfen-Lagerfeuerlied-Version von Franz' Sonnenhymnus - sollte jedoch nicht davon abschrecken, sich die Biographie des Heiligen und seine erhaltenen Schriften mal etwas genauer anzusehen. Der Franz war nämlich ein echt krasser Typ


Aus dem Stundenbuch: 

Uneigennützig lernte ich, und neidlos gebe ich weiter; den Reichtum der Weisheit behalte ich nicht für mich. (Weisheit 7,13


Samstag, 28. September 2019

God Gave Rock'n'Roll To You (V): The Misevangelization of Lauryn Hill

Eigentlich wundert es mich selbst, dass ich mich bis vor kurzem nie gefragt habe, was eigentlich aus Lauryn Hill geworden ist. Pfingsten 1997 habe ich sie live gesehen, bei "Rock im Park" im Nürnberger Frankenstadion -- damals noch mit den Fugees, die sich kurze Zeit später auflösten. Lauryn Hill war zu diesem Zeitpunkt hochschwanger (mit einem Enkelkind von Bob Marley, ist das nicht großartig?!) und machte deswegen nur einen Teil des Auftritts mit, aber immer wenn sie die Bühne betrat war ihr Charisma überwältigend. Gut ein Jahr später erschien ihr Solo-Debütalbum "The Miseducation of Lauryn Hill", das Fans und Kritiker gleichermaßen entzückte und im Handumdrehen zum Klassiker avancierte. Das Magazin Spin wählte die Scheibe auf Platz 28 der besten Alben der 1990er Jahre, beim New Musical Express rangiert "Miseducation" sogar auf Platz 89 der 500 besten Alben aller Zeiten. Bei der Grammy-Verleihung des Jahres 1999 räumte Lauryn Hill fünf Auszeichnungen ab, inklusive "Album of the Year"

Und seitdem hat nie wieder jemand etwas von ihr gehört. 

Okay, das ist jetzt ein bisschen übertrieben, aber nicht sehr. Und wirklich erstaunlich finde ich es, dass ich mich über diesen Umstand überhaupt nicht gewundert habe. Bis ich vor kurzem auf YouTube über dieses Video stolperte: 


Zunächst mal: Todd in the Shadows ist ein YouTube-Popmusikkritiker, auf den mich vor längerer Zeit mal, und ohne direkten Zusammenhang mit dem hier in Frage stehenden Thema, eine Bloggerkollegin aufmerksam gemacht hat; und der junge Mann ist echt gut. Ich bin, was Fragen des Musikgeschmacks betrifft, nicht immer ganz mit ihm einverstanden, aber doch sehr oft ziemlich weitgehend; vor allem aber sind seine Popmusik-Kritiken witzig, bissig, clever und enorm kenntnisreich. Nicht selten enthalten seine Videos eine solche Fülle an Hintergrundwissen, dass man fast schon behaupten kann, er betreibe Popmusik-Kritik als eine (enorm unterhaltsame) Form von Kultur- und Zeitgeschichtsschreibung. In besonderem Maße gilt das für die Serien "One Hit Wonderland" und "Trainwreckords". Während es in "One Hit Wonderland", wie der Name schon zu erkennen gibt, um Bands und Solokünstler geht, die in ihrer gesamten Karriere nur einen  einzigen richtig großen Hit hatten, befasst sich die Reihe"Trainwreckords" mit Platten, die so katastrophale Fehlschläge waren, dass die Karrieren ihrer vormals erfolgreichen Interpreten sich nie wieder richtig davon erholten. Und für diese Serie ist Lauryn Hills 2002 erschienenes Live-Doppelalbum "MTV unplugged 2.0" tatsächlich ein gefundenes Fressen. Denn dieses Album ist nicht einfach nur schlecht; es ist dermaßen grotesk schlecht, dass es auf seine Weise schon wieder etwas ausgesprochen Großartiges hat. -- Ich sag mal so: Ich habe seit Jahren einen Romanentwurf in der Schublade, in dem ein Konzert einer exzentrischen, abgehalfterten Bluesrock-Legende vorkommen sollte, und bei allem Willen zur satirischen Überspitzung hatte ich mir selbst dieses fiktive Konzert nicht als so bizarr vorgestellt wie das sehr reale, das Lauryn Hill am 21. Juli 2001 in den MTV-Studios in New York gab.

Anders als es für die "MTV unplugged"-Reihe typisch ist, spielt sie nicht etwa akustische Versionen ihrer Hits, sondern - abgesehen von einer Bob-Marley-Coverversion - ausschließlich neue, bislang unveröffentlichte Songs; okay. Zum Teil sind diese Songs noch nicht so richtig fertig; na gut. Sie tritt allein mit einer Gitarre auf, obwohl sie nicht so richtig gut Gitarre spielen kann; na ja, aber singen kann sie doch, oder? -- Äh: eigentlich schon. Hier jedoch klingt sie, als habe sie a) eine böse Erkältung und/oder b) sich am Abend zuvor heiser geschrien. Fast alle Songs haben Überlänge, wirken unstrukturiert und klingen dadurch mehr oder weniger alle gleich. Mehrfach verspielt sie sich, unterbricht sich. Und zwischen den Songs redet sie sehr viel.  Der Konzertmitschnitt ist ungekürzt, ungeschnitten auf zwei CDs gebrannt worden, er ist eine Stunde und 46 Minuten lang, und mehr als eine halbe Stunde davon redet sie nur. Alles in allem ist es eigentlich unbegreiflich, dass diese Aufnahme überhaupt veröffentlicht wurde, und zwar als offizielles Album und nicht etwa als Bootleg.

Das Album erntete bei Fans und Kritikern durchaus gemischte Reaktionen; wohlgemerkt: "gemischt" heißt, es gab auch positive. Vereinzelt sogar sehr positive. Was sich im Grunde nur dadurch erklären lässt, dass, wie schon angedeutet, so eine Totalkatastrophe ja irgendwie auch faszinierend ist. In diesem speziellen Fall hat diese Faszination allerdings etwas sehr Makaberes, man könnte sogar sagen: etwas Voyeuristisches an sich. Leute, die diese Platte mögen, betonen, wie ehrlich, wie roh, wie echt sie sei. Die realness ist voll important, Alter. Auch Lauryn Hill selbst spricht in ihren nicht enden wollenden, oft ziemlich wirren Monologen zwischen den Songs wieder und wieder von "reality". Aber die reality der Situation ist, dass die Sängerin in einem gefährlichen Maße psychisch instabil 'rüberkommt. Im letzten Drittel des Songs "I Gotta Find Peace of Mind" hat sie einen regelrechten emotionalen Zusammenbruch.

Nun ist es ja so - wofür ich in früheren Folgen meiner Artikelserie "God Gave Rock'n'Roll To You", die ich aus diesem Anlass "wiederbelebt" habe, allerlei Fallbeispiele zusammengetragen habe -, dass spektakuläre Karriere-Brüche von Rock- und Popstars nicht selten einen religiösen Aspekt haben; und im obigen Video findet "Todd in the Shadows" einige Anhaltspunkte dafür, dass dies auch hier der Fall ist. Er geht ihnen allerdings kaum nach, da Religion insgesamt nicht so sein Thema ist. Die Songtexte, einige von ihnen jedenfalls, sind voll von biblischen Motiven und teilweise recht kryptischen religiös-philosophischen Bezügen; Todd empört sich ziemlich über eine Passage aus "Adam Lives in Theory", welche lautet: 
"Eve was so naive, blinded by the pride and greed
Wanting to be intellectual
Drifting from the way she got turned down one day 
And now she thinks that she's bisexual". 
Nun halte ich zwar - diesen Vorwurf kann ich meinem Lieblings-Popmusikkritiker an dieser Stelle nicht ersparen - wenig davon, sich angesichts solcher Aussagen die Ohren zuzuhalten und "Homophobie!" zu schreien,  aber immerhin stellt "Todd in the Shadows" an dieser Stelle die richtige Frage: Kann es sein, dass Lauryn Hill auch früher schon etwas anders tickte, als wir angenommen haben? Er blickt zurück auf "Doo Wop (That Thing)", den großen Single-Hit des "Miseducation"-Albums, und stellt fest (und diese Formulierung ist einfach zu schön, um sie zu übersetzen): 
"You can totally imagine Lauryn telling teenage boys to pull up their pants and find Jesus." 
Aber hallo. 

Schon 1996 bekannte Lauryn Hill sich in einem MTV-Interview nachdrücklich zu ihrem Glauben an Gott; zugegeben, das kann natürlich alles Mögliche bedeuten, aber ich würde doch behaupten, dass ein solches Glaubensbekenntnis zu dieser Zeit und an einem solchen Ort nicht unbedingt alltäglich war. Ab dem Jahr 2000 zog sie sich zunehmend aus der Öffentlichkeit zurück; wie ihr damaliger Manager Jayson Jackson dem Rolling Stone-Magazin erzählte, besuchte sie in dieser Zeit bis zu fünfmal pro Woche einen Bibelkreis. Ein anderer Rolling Stone-Artikel schreibt einem "undurchsichtigen spirituellen Berater" namens Brother Anthony eine Schlüsselrolle bei der auffälligen Veränderung zu, die Lauryn Hill zu dieser Zeit durchmachte. Frühere Freunde und Weggefährten der Sängerin, allen voran Fugees-Mitbegründer Pras Michel, äußern den Verdacht, dieser Brother Anthony sei so etwas wie ein psychopatischer Sektenführer. Okay, es wird wahrscheinlich niemand der Einschätzung widersprechen, dass Pras nicht die allerhellste Kerze auf der Torte ist; wenn er also die Lehren von Brother Anthony, die er in Form einer Tonaufzeichnung kennengelernt hat, als "weird shit" beschreibt, dann kann das durchaus auch an ihm liegen. Andererseits liegt es angesichts der katastrophalen mentalen und emotionalen Verfassung, die Lauryn Hill während der Aufnahmen zu "MTV unplugged 2.0" an den Tag legt, zweifellos nahe, sich zu fragen, ob Brother Anthonys Einfluss auf sie nicht eher unheilvoll war.

Knapp zweieinhalb Jahre nach diesen Aufnahmen gab Lauryn Hill übrigens ein Konzert im Vatikan. Ohne Scheiß. In der Audienzhalle. vor rund 7.000 Zuhörern, darunter hochrangige Kurienmitarbeiter; Papst Johannes Paul II. war hingegen nicht anwesend. Die Sängerin nutzte diesen Auftritt, um mit scharfen Worten die Korruption in der Kirche und insbesondere den sexuellen Missbrauch von Kindern anzuprangern. Dies brachte ihr damals praktisch einhellig negative Reaktionen ein: Teils wurden ihre Äußerungen als "publicity stunt", teils als weiteres Anzeichen für ihren problematischen Geisteszustand wahrgenommen bzw. beurteilt. Der heutige Kurienerzbischof und Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Neuevangelisierung Salvatore "Rino" Fisichella, der für die Organisation des Konzerts mitverantwortlich gewesen war, tadelte die Wortmeldung der Sängerin als "geschmacklos" und "schlechtes Benehmen". "Ist es schlechtes Benehmen, die Wahrheit zu sagen?", konterte Lauryn Hill. Und bei allem Respekt, Exzellenz: Gerade aus heutiger Sicht, mit dem heutigen Wissen um das Ausmaß des Missbrauchsskandals und die Verstrickung höchster Kreise der kirchlichen Hierarchie in diesen, bin ich geneigt zu sagen, die Frau hatte schlicht und einfach Recht

Um aber abschließend noch einmal auf das Album "MTV unplugged 2.0" zurückzukommen, muss ich gestehen, dass ich es, nachdem ich mich hier nun eine Weile damit beschäftigt habe, nicht mehr so richtig schlecht finden kann. Nein, ich muss das anders ausdrücken: Ich finde, dass das Material, das Lauryn Hill auf diesem Album präsentiert, Potential hat, oder jedenfalls gehabt hätte. Wenn ich mal das 1996 erschienene Album "Peace Beyond Passion" von Me'Shell Ndegeocello zum Vergleich heranziehe und mir vorstelle, Lauryn Hill wäre ins Studio gegangen und hätte Songs wie "Adam Lives in Theory" oder "Mystery of Iniquity" in so einem Stil produziert bzw. produzieren lassen...

BOAH.

Das wäre der HAMMER gewesen.


Freitag, 27. September 2019

Acht Jahre "Huhn meets Ei" - und wie es weitergeht

Früher, wenn ich hörte, wie Leute von Erfahrungen sprachen, die ihr "ganzes Leben verändert" hätten, dachte ich oft: Ich weiß gar nicht, ob ich so eine Erfahrung machen möchte. Wer weiß, ob dieses andere Leben mir dann überhaupt gefallen würde. 

Heute kann ich sagen, dass das Bloggen mein Leben definitiv verändert hat, auf vielfältige Weise. Und ja, es gefällt mir. Sehr

Acht Jahre ist es jetzt her, dass ich mir ziemlich spontan und mit ein bisschen Hilfe meiner damaligen Freundin (wofür ihr auf ewig Dank und Anerkennung gebührt) einen Blog einrichtete und ihn "Huhn meets Ei" nannte. Da mein Blog, auch wenn ich das zunächst nicht unbedingt so geplant hatte, von Anfang an einen gewissen religionspolitischen (und entschieden katholischen) Schwerpunkt hatte, wurde im Laufe meines ersten Bloggerjahres die erz- und dunkelkatholische Blogger-Community deutscher Zunge, genannt "Blogoezese", auf mich aufmerksam und "adoptierte" mich gewissermaßen; aber das habe ich bereits vor sieben Jahren, zu meinem einjährigen Jubiläum, ausgiebig geschildert. Wo ich das schon erwähne, kann ich auch gleich auf meine Jubiläumsartikel zum vier-, fünf- und sechsjährigen Bestehen dieses Blogs hinweisen, denn da stehen ebenfalls Sachen drin, die ich hier ja nicht unbedingt noch mal wiederholen muss. 

Symbolbild, Quelle: Pexels 
Jedenfalls: Hätte ich seinerzeit nicht mit dem Bloggen angefangen (und es dann auch durchgezogen), wäre ich heute nicht da, wo ich bin. Das geht schon damit los, wie das Bloggen die Entwicklung meines Glaubenslebens beeinflusst hat. Vor acht Jahren ging mein Verhältnis zum katholischen Glauben kaum über das eines intellektuellen Snobs hinaus, der jederzeit bereit ist, die Glaubenslehre der Kirche argumentativ zu verteidigen, solange er selbst nicht nach ihr leben muss. Das ist jetzt natürlich ein bisschen zugespitzt formuliert, aber nicht ganz weit weg von der Realität. Das Bloggen trug - durch den dadurch zustande gekommenen Kontakt zu anderen "Netzkatholiken", die Recherchen für meine Artikel und, ja, auch durch die unvermeidlichen Irritationen, die meine Online-Publikationstätigkeit in meinem nichtgläubigen Freundes- und Bekanntenkreis auslöste - erheblich dazu bei, meinen Glauben zu vertiefen, zunächst theoretisch, dann zunehmend auch praktisch, etwa indem ich Praktiken wie das Stundengebet und die Eucharistische Anbetung für mich entdeckte. 

Auch beruflich hat mir das Bloggen neue Perspektiven erschlossen, aber ehe ich darauf eingehe, möchte ich zunächst einmal hervorheben, dass ich mittels meines Blogs auch meine Liebste kennengelernt habe. Jetzt sind wir seit bald drei Jahren verheiratet und haben ein knapp zwei Jahre altes Kind. Wenn das mal keine einschneidende Veränderung des Lebens ist.  Natürlich hat das dann auch wiederum auf die inhaltliche Ausrichtung und sonstige Entwicklung meines Blogs zurückgewirkt, und auch das wieder in mehrfacher Hinsicht. Einmal bedingt eine solche Veränderung der Lebensumstände naturgemäß auch eine Veränderung der Interessenschwerpunkte, aber mindestens genauso wichtig ist, dass der tägliche Gedankenaustausch mit meiner Frau (und unsere gemeinsamen Aktivitäten in der Kirchengemeinde, aber das ist ein Thema für sich) erheblichen Einfluss auf so ziemlich alles hat, was mir durch den Kopf geht und dann auch aus der sprichwörtlichen Feder fließt. Gar nicht davon zu reden, dass ich eine Reihe von Erlebnissen, über die ich hier berichte, ohne meine Frau überhaupt nicht gehabt hätte; nicht ohne Grund gibt es auf diesem Blog die Rubrik "Dinge, zu denen mich meine Liebste überredet hat"

Langjährige Leser werden, so glaube ich, bestätigen können, dass sich auf diesem Blog in Sachen "Branding" in den letzten Jahren einiges getan hat. Der Welpenschutz, den man als "aufmüpfiger Jungblogger" eine Zeit lang genießt, ist ja schließlich irgendwann mal abgelaufen, und dann muss man zusehen, dass man sich ein eigenständiges, unverwechselbares Profil zulegt, um sich von den Mitbewerbern abzuheben. Diesbezüglich würde ich sagen, seit gut drei Jahren habe ich mit dem Label "Punkpastoral" - oder anders ausgedrückt: mit dem Themenkomplex "Neuevangelisation, Gemeindeaufbau und Gemeindeerneuerung als Graswurzelinitiative" - definitiv "mein Thema" gefunden. Inzwischen hat sich, verstreut über eine Vielzahl von Blogartikeln, wohl ausreichend Material für das eine oder andere Buch zu diesem Thema angesammelt; ich müsste nur mal dazu kommen, es zu schreiben (bzw. zu "kompilieren"). -- Was mich übrigens darauf bringt, dass ich ja noch etwas zum Thema "berufliche Perspektiven" sagen wollte. Den komischen Job, den ich vor acht Jahren ausgeübt habe, was ich seinerzeit vor mir selbst damit rechtfertigte, dass ich nun mal irgendwie meine Promotion querfinanzieren müsse, habe ich zwar einerseits noch eine ganze Weile  weiter ausgeübt, trotz des Bloggens und auch nach erfolgreichem Abschluss der Promotion, andererseits hätte ich es sicherlich auch (oder sogar gerade) ohne das Bloggen nicht ewig in diesem Job ausgehalten. Aber ich weiß beim besten Willen nicht, ob ich den Mut gefunden hätte, mir den Kindheitstraum zu verwirklichen, freier Autor zu werden, wenn mir mein Blog nicht eine Reihe von für ein solches Vorhaben hilfreichen Kontakten erschlossen hätte. Und ohne die Unterstützung meiner Frau hätte ich diesen Schritt wohl erst recht nicht gewagt, aber jetzt fange ich an, mich zu wiederholen. 

Und dann natürlich die Benedikt-Option. Dass mich Rod Drehers so betiteltes Buch, sobald ich einmal darauf aufmerksam geworden war, unmittelbar begeistert hat, war eine durchaus natürliche Folge meines zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich ausgeprägten Interesse am Thema "christliche Graswurzelrevolution"; zugleich wäre ich ohne meine Bloggertätigkeit und die direkt oder indirekt dadurch zustande gekommenen Kontakte wohl von vornherein gar nicht auf dieses Buch aufmerksam geworden, und erst recht hätte ich gar nicht die Möglichkeiten gehabt, mich in dem Ausmaß für die Rezeption dieses Buches und des dahinter stehenden Konzepts im deutschsprachigen Raum stark zu machen, wie ich es getan habe und weiterhin tue. Als ich vor ein paar Wochen Rod Dreher traf, sagte er zu mir: "You're not just the translator -- you're the one who made the BenOp happen in Germany. You are the Boniface of the Benedict Option!" Ich glaube, das möchte ich mir auf ein T-Shirt drucken lassen. Ich brauche nur noch jemanden, der mir ein geiles Artwork dafür entwirft. Irgendwas mit einem Baum und einer Axt

Was ich damit sagen will: Ohne den vor acht Jahren gefällten Entschluss zum Bloggen wäre das alles nicht passiert

Nun ist der Umstand, dass ich dem Bloggen so viel verdanke, natürlich an und für sich kein hinreichender Grund, bis in alle Ewigkeit damit weiterzumachen; zumal man zuweilen den Eindruck haben kann, das Medium "Blog" sei im Ganzen ein typisches Produkt der "nuller Jahre" und habe sich allmählich mal überlebt. Zuweilen frage ich mich durchaus, ob sich das überhaupt lohnt; ob ich nicht lieber mehr Zeit und Energie darauf verwenden sollte, für Publikationen zu schreiben, die mehr Reichweite haben und mich womöglich sogar für meine Mitwirkung bezahlen. Denn das tue ich zwar auch, aber da wäre durchaus noch Luft nach oben.

Wobei: Mit dem Verhältnis zwischen Reichweite und Relevanz ist das so eine Sache; darüber habe ich mir schon in meinem Jubiläumsartikel von vor zwei Jahren einige Gedanken gemacht. Dazu eine kleine Anekdote: Beim diesjährigen Forum Altötting traf ich einen Mitarbeiter des Bistums Münster (Pastoral- oder Gemeindereferent, glaube ich), der sich als Leser meines Blogs outete und erklärte, er sei ja nicht immer mit mir einverstanden (wer wäre das schon?), finde aber doch recht vieles von dem, was ich so schreibe, wertvoll und richtig -- könne das in seiner beruflichen Position aber nicht zugeben. Interessant. Abschließend meinte er noch: "Sie werden mehr gelesen, als Sie denken." Hm. Woher weiß er, was ich darüber denke, wie viel ich gelesen werde?

Aber, ganz ehrlich gesagt: Ich genieße es viel zu sehr, in meinem Blog schreiben zu können, was, wie, wann und wie viel ich will; wie mir der Schnabel gewachsen ist und ohne irgendwelche Rücksichten nehmen zu müssen, als dass ich ernsthaft erwägen würde, in absehbarer Zeit damit aufzuhören. Zwar gibt es beispielsweise bei der Tagespost und bei Radio Horeb Redakteure, die mir ziemlich freie Hand lassen und mir das Gefühl geben, voll hinter mir zu stehen, aber dass ich da nicht so schreiben kann wie hier, weiß ich trotzdem schon von alleine. 

Letzten Endes, glaube ich, könnte keine andere Publikationsform das bieten, was ich am Bloggen so mag. Aber ein bisschen 'rumspinnen kann man ja trotzdem mal, so kennen mich meine Leser schließlich. In den Weiten des Internets bin ich mal eher zufällig über das Magazin "Believer" gestolpert. Dem Titel zum Trotz ist das kein religiöses Magazin, jedenfalls nicht in einem konventionellen Verständnis von Religion. Trotzdem dachte ich spontan: So in dem Stil - in Hinblick auf die optische Gestaltung, die Themenvielfalt und die Ausrichtung darauf, das Gute, Schöne und Wahre in allen Dingen zu suchen und zu finden - würde ich mir ein deutschsprachiges #BenOp- bzw. Punkpastoral-Magazin vorstellen oder wünschen. Da könnte ich dann programmatische Essays über die christliche Graswurzelrevolution, lustige Anekdoten aus dem Alltag und Buch- und Musikkritiken ohne Rücksicht auf "Aktualität" veröffentlichen; Leute, die sich mit den jeweiligen Themen auskennen, könnten Artikel über Permakultur, Imkerei, Müllvermeidung und Food Coops beisteuern und wiederum andere Leute Gedichte, Comics und Kochrezepte. Das Ganze auf entschieden christlicher Grundlage, die aber nicht notwendigerweise in jedem einzelnen Beitrag explizit zur Sprache kommen muss. Für so ein Magazin könnte ich mir vorstellen, das Bloggen an den Nagel zu hängen.

Bis auf Weiteres ist damit aber wohl nicht zu rechnen.


Dienstag, 24. September 2019

Keine Sorge, dies ist noch nicht der Jubiläumsartikel

Was ist eigentlich aus der Blogoezese geworden? Die Frage mag komisch wirken, aber ich stelle sie mir ganz ernsthaft. Irgendwann zwischen November 2015 und jetzt muss die katholische Blogger-Community, als deren Teil ich mich betrachtet habe, sich aufgelöst haben, und ich habe das Memo nicht bekommen. 

Frau mit Laptop, griechisch, ca. 100 v. Chr.
(J.P. Getty Museum, fotografiert von Wolfgang Sauber. Quelle und Lizenz hier.)  
Das heißt natürlich nicht, dass nicht mehr katholisch gebloggt würde. Einige der Blogs, die anno 2012, als ich dazustieß, das Erscheinungsbild der Szene prägten, gibt es noch, zum Teil sind sie umbenannt worden oder an eine andere Webadresse "umgezogen". Und es sind auch neue dazugekommen, darunter einige, die ich sehr gut finde. Aber die Community, die gibt es nicht mehr

Okay, einige alte Hasen sagen, ihre besten Zeiten habe die Blogoezese ohnehin schon hinter sich gehabt, bevor ich dazustieß. Das kann ich naturgemäß nicht beurteilen. Zu bedenken ist auch, dass die Blogoezese nie eine formelle Gruppe war, bei der klar definiert gewesen wäre, wer dazugehört und wer nicht. Und vor allem herrschte innerhalb der katholischen Bloggerszene auch 2012 schon eine erheblich größere Diversität, als es in der Wahrnehmung außenstehender Beobachter den Anschein hatte. Dennoch gab es in diesem Kreis ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl, eine Art Gruppenidentität. Und die ist heute perdü.

Es würde hier wohl den Rahmen sprengen, wenn ich versuchen wollte, genau  zu analysieren, wie es dazu gekommen ist. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass es zumindest zum Teil daran liegt, dass es während des Pontifikats Benedikts XVI. noch klarere Fronten sowohl in den innerkirchlichen Auseinandersetzungen als auch in denen zwischen Kirche und Welt gab. Da konnte man als bloggender Katholik noch leichter davon ausgehen, mit anderen bloggenden Katholiken an einem Strang zu ziehen, und davon träumen, durch Vernetzung der Blogs untereinander eine Art "Gegenöffentlichkeit" zu schaffen. Heute herrscht ja eher das Prinzip "Fünf Köpfe, zehn Meinungen".

Vielleicht hat es aber auch damit zu tun, dass auch gläubige Katholiken nicht immun sind gegen die allgemeine Polarisierung und Fragmentierung der Gesellschaft. Wir tun uns immer schwerer damit, Meinungsverschiedenheiten zu ertragen. Wenn man Meinungsverschiedenheiten nicht erträgt, gibt es allerdings auch nichts mehr zu diskutieren.

Nun, seien wir ehrlich: Wenn weniger diskutiert wird, ist das nicht notwendigerweise ausschließlich etwas Schlechtes. "Lieber etwas dümmer als ewig diskutieren", schrieb Botho Strauß schon 1983 in "Kalldewey. Farce" (überhaupt ein sehr interessantes Stück, nebenbei bemerkt), und irgendwie hat dieser Satz mich schon immer angesprochen. Gewiss, Demokratie lebt vom freien Austausch, ja "Wettbewerb" von Meinungen, somit ist es für ein demokratisches Staatswesen ein Problem, wenn ein solcher nicht mehr stattfindet. Aber das ist jetzt und hier nicht das Thema. Blogs sind nicht demokratisch. Sie sind ihrem Wesen nach subjektiv und somit absolutistisch: Le blog c'est moi. Von daher trägt eine Community von Bloggern den Keim ihrer Auflösung vielleicht naturgemäß schon von jeher in sich.

Aber um die Idee einer Gegenöffentlichkeit ist es doch schade. Die könnten wir gut brauchen, heute vielleicht mehr denn je.


Montag, 23. September 2019

Kaffee & Laudes - Das Wochen-Briefing (25. Woche im Jahreskreis)

Was bisher geschah: Der Großteil der zurückliegenden Woche fiel tatsächlich in die Kategorie "Ruhe vor dem Sturm", abgesehen davon, dass das Kind einen Tag lang (nämlich Dienstag) ein bisschen kränkelte, aber wirklich dramatisch war auch das nicht. Am Donnerstag habe ich beim Pfarrbüro meine Kandidatur für den Pfarrgemeinderat angemeldet. Ja, echt. Aber dazu vielleicht bei Gelegenheit mehr. Außerdem wurde uns im Laufe der Woche ein zusammenklappbarer Bollerwagen geliefert, den meine Liebste im Internet bestellt hatte.

Ist das das neue #BenOp-Mobil, oder was? 
Erstmals zum Einsatz kam der Wagen am Freitagabend bei einer Foodsaving-Aktion in einem Biomarkt; währenddessen ging ich mit dem Kind in die Abendmesse, um der koreanischen Märtyrer zu gedenken. Am Samstag erlebten wir eine Premiere der unerfreulichen Art: Unser fünfter Krabbelbrunch war tatsächlich die erste unserer Veranstaltungen in dieser Pfarrei in gut zweieinhalb Jahren, zu der außer uns selber niemand kam. Da könnte man jetzt lang und breit lamentieren und Fehleranalyse betreiben, aber vielleicht lag's auch einfach am spätsommerlich schönen Wetter. Ein Gutes hatte die Sache jedenfalls: Da wir gleich am folgenden Tag im selben Raum noch eine weitere Veranstaltung hatten, konnten wir uns das Aufräumen größtenteils sparen und auch die fürs Büffet herangeschafften Lebensmittel größtenteils weiterverwenden. -- Am Ende der für den Krabbelbrunch veranschlagten Zeit stand es eine Weile auf der Kippe, ob das Kind Mittagsschlaf machen würde oder nicht, und als das Pendel schließlich recht eindeutig in Richtung "eher nicht" ausschlug, entschieden wir uns, dass wir dann ja auch alle zusammen zum ökumenischen Abschlussgottesdienst des Marschs für das Leben auf dem Platz der Republik gehen könnten. Eine Entscheidung, die wir nicht zu bereuen hatten. Die Atmosphäre war klasse, Weihbischof Wörner (Augsburg) predigte exzellent, und die Musik war auch gut. Anschließend gingen wir noch mit einigen Marsch-Teilnehmern - darunter der Journalist und Bloggerkollege Peter Winnemöller, kath.net-Chefredakteur Roland Noé und der Landesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben, Stefan Friedrich - in einen nahe gelegenen Biergarten (mit Kinderspielplatz). -- Der Büchertreff am Sonntag war vergleichsweise gut besicht und insgesamt eine sehr schöne Veranstaltung, somit war die Gesamtbilanz des Wochenendes, trotz des Krabbelbrunch-Misserfolgs, positiv. Am Ende waren wir aber ganz schön geschafft, nicht zuletzt deshalb, weil die Liebste mit einer Erkältung zu kämpfen hatte und daher von vornherein nicht gerade in Top-Form war.



Was ansteht: Nach diesem Wochenende darf es gern erst mal ein bisschen ruhiger werden, und die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Meine Liebste hat in dieser Woche "Kennenlerntage" mit ihren Elftklässlern; das heißt, an drei der fünf Schultage findet kein normaler Unterricht statt, sondern es werden Exkursionen gemacht, bei denen die Schüler nach Möglichkeit Spaß haben sollen: Stadtrallye, Kanufahren, Kletterpark. Am Dienstag - also morgen - hält Bloggerkollegin Claudia in der Arche in Potsdam, einer Bildungseinrichtung der Pfarrei St. Peter und Paul, einen Vortrag zum Thema "Warum es keine katholischen Priesterinnen gibt". Nach Möglichkeit will ich da hin, davon abgesehen möchte ich denjenigen Lesern, die nicht allzu weit weg wohnen, die Veranstaltung herzlich empfehlen. Es wird sicher spannend! Am Donnerstag stünde natürlich wieder die Möglichkeit im Raum, zur Community Networking Night im Baumhaus zu gehen, wenn ausreichend Zeit und Muße vorhanden sind. Am Freitag habe ich mein achtjähriges Bloggerjubiläum, da wäre vielleicht mal wieder ein Jubiläumsartikel fällig, nachdem es letztes Jahr keinen gab. Am Samstag gibt es bei unseren Nachbarn in der Ökumene, nämlich in der evangelischen Dorfkirche Alt-Tegel, ein Chorfestival, da sollte man wohl mal vorbeischauen, zumal der Eintritt frei ist. Und dann ist schon wieder Sonntag -- und da wird in unserer Kirche Erntedank gefeiert. Mal sehen, wie das wird. 


aktuelle Lektüre: Mit der im vorigen Wochen-Briefing vorgestellten Leseliste geht es flott voran, sodass ich recht optimistisch bin, sie im Laufe der Woche abgearbeitet zu bekommen und mir fünf neue Bücher vorknöpfen zu können. Im zweiten Abschnitt von Heike Behrends "Die Zeit des Feuers" geht es schwerpunktmäßig um Initiationsriten, mit denen die jungen Tugen zu Männern oder Frauen "gemacht" werden. Ein gefundenes Fressen für Gender-Theoretiker, aber wie schon erwähnt, ist eine Bewertung oder Interpretation der geschilderten Riten nicht Bestandteil der Studie. Nebenbei erwähnt die Autorin, dass Versuche, die traditionelle weibliche Genitalverstümmelung staatlicherseits zu unterbinden, auf erhebliche Widerstände stoßen -- nicht nur seitens der Ältesten, die über die Einhaltung der Tradition wachen, sondern auch seitens der jungen Frauen selbst, da sie befürchten, ohne Beschneidung niemals als erwachsen anerkannt zu werden, nicht heiraten zu können und so weiter. 

In John Dos Passos' "Manhattan Transfer" konzentriert sich die Handlung - nachdem der Autor, wie an anderer Stelle geschildert, den armen Bud Korpenning um die Ecke gebracht und sich damit einen Handlungsstrang vom Hals geschafft hat, von dem man bis dahin geglaubt hatte, er würde noch wichtig werden - zunehmend auf Ellen Thatcher alias Elaine Oglethorpe und die diversen Männer, die sich aus Liebe zu ihr ein Bein ausreißen. Dadurch wird der Roman konventioneller, aber auch lesbarer. Gleichzeitig muss ich feststellen, das nicht nur die Zerstückelung der Handlung in fragmentarische Momentaufnahmen (die, wie gesagt, im zweiten Teil nachlässt) diesen Roman schwer verdaulich macht, sondern mindestens ebensosehr der Umstand, dass sich in all den zahlreichen Handlungssträngen das untrügliche Gefühl aufdrängt: Das wird kein gutes Ende nehmen. Und dann tun einem all diese Leute leid. Also, alle vielleicht nicht, aber von den gefühlt 300 Romancharakteren tun einem mindestens hundert leid, und daran ändert es auch nichts, dass sie mehr oder weniger selbst schuld an ihrem Unglück sind. Das schlaucht. Gleichwohl könnte man sagen, gerade der Umstand, dass das Schicksal der Charaktere einem so zu Herzen geht, zeigt, dass es ein guter Roman ist. Wovon ich am Anfang ja ganz und gar nicht überzeugt war. 

Schöne Dialogpassagen hat das Buch auch zu bieten, wie zum Beispiel: 
"Vielleicht können Sie mir sagen, Stan, warum hierzulande kein Mensch etwas tut. Kein Mensch schreibt Musik, kein Mensch macht Revolution, kein Mensch verliebt sich. Was machen die Leute?" (S. 161)
Und sogar ein Kommentar zur Selbstsäkularisierung der Kirche(n) findet sich: 
"Aber ich finde, Mr. Lourton ist eben so ganz anders als die meisten Geistlichen. Er hat so moderne, so vernünftige Anschauungen! Es erinnert einen wirklich mehr an einen äußerst interessanten Vortrag als an eine übliche Predigt, wenn Sie verstehen, was ich meine." (S. 166)
Von Dorothy Days "The Long Loneliness" bin ich immer mehr hingerissen; übrigens ist es, wie die Autorin selbst betont, nicht ganz zutreffend, das Buch als eine Autobiographie zu bezeichnen: 
"I have never intended to write an autobiography. I have always wanted instead to tell of things that brought me to God and that reminded me of God." (S. 94)
Im zweiten Teil des Buches geht es sehr wesentlich um die Konversion der Autorin zum Katholizismus, beziehungsweise um den langwierigen Prozess der Annäherung an den Glauben, der in dieser Konversion gipfelt. Das ist in vielfacher Hinsicht eindrucksvoll; aber auch unabhängig vom explizit religiösen Gehalt liebe ich den Humor und die Warmherzigkeit, die aus Dorothys Schilderungen spricht. Besonders gilt das für das Kapitel "Man Was Made For Happiness", in dem die Autorin das anarchisch-idyllische Leben in ihrem Strandhaus auf Staten Island und den Umgang mit ihren dortigen liebenswert-exzentrischen Nachbarn schildert. 

Ein anderer Aspekt von Dorothy Days Erinnerungen, der mich stark anspricht, betrifft die Darstellung ihrer Aktivitäten sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Zirkeln - der "radikalen Bewegung", wie sie das nennt. Ich denke da immer ein bisschen wehmütig an meine eigenen (vergleichsweise entschieden harmloseren) Kontakte zur linksradikalen Szene -- und folglich auch daran, dass und warum ich mich seit einigen Jahren unter dem Label "Punkpastoral" mit der Frage befasse, inwiefern christliche Neuevangelisation etwas von den Vernetzungs- und Selbstorganisations-Methoden dieser Szene zu lernen haben könnte. In Dorothy Days Schilderungen erscheint die "radikale Bewegung" als außerordentlich gut vernetzt: Obwohl es sich um eine kleine und gesellschaftlich mehr oder weniger geächtete Gruppe handelt, haben ihre Anhänger keine Schwierigkeiten, überall, wo sie hinkommen, Gleichgesinnte und Unterstützer zu finden. So ähnlich stelle ich mir die frühe Kirche zur Zeit der Apostelgeschichte und der Paulusbriefe vor. Und heute? Heute, so sollte man denken, müsste die Kirche doch erst recht in der Lage sein, ein solches Netzwerk zu bilden -- nur zeigt sich leider, dass zumindest in den hiesigen volkskirchlichen Strukturen viele Schlüsselstellen mit Leuten besetzt sind, die, um's mal zurückhaltend zu formulieren, in entscheidenden Fragen eher keine Gleichgesinnten sind

Aber zurück zu Dorothy Day: Eine interessante und irgendwie auch lustige Querverbindung zu einem in früheren "Kaffee & Laudes"-Folgen besprochenen Buch findet sich in der Erwähnung eines Freundes, der Dorothy in der Zeit ihrer allmählichen Annäherung an den katholischen Glauben Pascal und Dostojewskij nahe brachte, James Joyce hingegen verabscheute -- und der ihr eines Tages, als sie in der Hochbahn "Ein Porträt des Künstlers als junger Mann" las, das Buch aus der Hand nahm und es aus dem Fenster des Waggons warf. Auch wenn ich den Roman durchaus mochte, glaube ich, das war eine kluge Aktion; denn für jemanden, der sich gerade auf dem Weg zum Katholizismus befindet, könnte dieser Roman geradezu Gift sein.

Zu der vor einer Woche bereits angedeuteten Querverbindung zu John Dos Passos habe ich ebenfalls etwas gefunden: Auf S. 114 erinnert sich Dorothy an eine Diskussion zwischen Malcolm Cowley, Kenneth Burke und Dos Passos, "which stood out especially in my memory because I could not understand a word of it". Das ist mir sehr sympathisch. 

Davon abgesehen habe ich in diesem Buch einige zitierwürdige Äußerungen der Autorin zu Themen gefunden, die bis heute nichts an Aktualität eingebüßt haben und die mich hier in meinem Blog auch sonst beschäftigen, wie zum Beispiel Kinderkatechese, Gartenbau und die nicht tot zu kriegende Frage "Kann man nicht auch ohne Kirche an Gott glauben?". Das Problem ist, wenn man einmal damit anfängt, Passagen aus dem Buch 'rauszuschreiben, kommt man zu keinem Ende, so gut ist das Buch. Ich werde mir die entsprechenden Stellen merken müssen, um bei passender Gelegenheit darauf zurückzukommen. 

Simon Becketts "Obsession" nimmt zur Mitte hin erheblich an Spannung zu, und auch in anderer Hinsicht hat mein Interesse an diesem Buch zugenommen, nachdem ich festgestellt habe, dass die letzte Woche festgehaltene Beobachtung, sämtliche Charaktere kämen irgendwie unsympathisch rüber, alles andere als banal ist. Die Leute sind nicht einfach irgendwie unsympathisch, sie sind auf eine krankhafte Weise egoistisch, leben in dysfunktionalen Beziehungen, in denen sie sich sich gegenseitig emotional ausbeuten, und es scheint nicht einmal die Möglichkeit auf, dass es auch anders sein könnte. Insofern ist das Gesellschaftspanorama, das dieses Beckett-Frühwerk entwirft, auf eine wahrscheinlich unbeabsichtigte Weise sehr illustrativ: Es ist eine Gesellschaft ohne Gott. Hin und wieder scheint es, dass der Autor einen Zusammenhang zwischen der Trostlosigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen und dem (Ver-)Schwinden des Christentums zumindest erahnt. So wird beiläufig erwähnt, dass die Spezialschule für autistische Kinder, die der sechsjährige Jacob besucht, "auf dem Gelände eines alten Pfarrhauses" steht, das "schon lange abgerissen" worden ist (S. 69); an anderer Stelle macht Protagonist Ben sich Gedanken über sein Alter und stellt fest:
"Einen Monat zuvor war er dreiunddreißig geworden. In dem Alter hatte Jesus die Welt verändert und war gekreuzigt worden. Ben schätzte seine Chancen, eine Religion zu gründen, nicht hoch ein" (S. 151). 
Abermals etwas später erinnert Ben sich, wie er einmal mit seiner verstorbenen Frau "bei einem Glas Wein über den Tod gesprochen" hat:
"Sarah hatte ihm erzählt, dass sie beerdigt werden wollte. Ben hatte gesagt, dass er verbrannt werden wolle, abgesehen von seinem besten Stück, das sie als Andenken aufbewahren könne" (S. 168). 
Witzig? Wie man's nimmt; mir zumindest erscheint es nicht ganz abwegig, diese Stelle im Zusammenhang mit der bemerkenswerten Aufmerksamkeit zu betrachten, die der Autor den Erektionsproblemen seines Protagonisten widmet. Erstmals ist davon auf S. 152f. die Rede: Sarah ist seit gut vier Monaten tot, und ihrem Witwer fällt auf, dass er in dieser ganzen Zeit keine Erektion gehabt hat. Zwar redet er sich zu, er sei ohnehin "noch nicht so weit, mit einer anderen Frau zu schlafen" (S. 153), aber die Vorstellung, dazu, falls er es doch wollte, körperlich nicht in der Lage zu sein, macht ihm schwer zu schaffen -- so schwer, dass auf S. 194f. erneut die Rede davon ist, und diesmal noch erheblich ausgiebiger. "Es war, als wäre seine sexuelle Seite abgestumpft", und der trauernde Witwer fürchtet, "dass er für immer von der Hüfte abwärts tot sein könnte". Davon, ob er womöglich darauf hofft, in einer zukünftigen Beziehung leibliche Kinder zu haben, ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede; interessant ist allerdings, was auf S. 167 über Bens Motivation gesagt wird, den Kontakt zu Jacob aufrecht erhalten zu wollen: Würde der autistische Junge ihn nämlich "vielleicht irgendwann" vergessen, dann "würden sich Bens Erinnerungen an seine Ehe mit Sarah und an die Familie, die er einmal für die seine gehalten hatte, schließlich als wertlos erweisen, in Staub auflösen und davonwehen". All das unterstreicht für mein Empfinden, wie sehr Ben - ebenso wie die meisten anderen Charaktere des Romans - von dem Bedürfnis getrieben ist, ein Gefühl  von Leere und Sinnlosigkeit zu überwinden oder zumindest zu betäuben. 

Irgendwie bezeichnend erscheint mir in diesem Zusammenhang auch eine Passage darüber, warum Ben Fotograf geworden ist: In seiner Zeit an der Kunsthochschule "verstand er die Kamera als ein Medium, mit dem man ein Objekt ohne die verzerrende Wahrnehmung eines Künstlers darstellen konnte. Er glaubte, dass er mit der Kamera wahrhaftigere und unverfälschtere Bilder erzeugen konnte als mit Pinsel und Leinwand" (S. 84). -- Also sorry, ich verstehe nicht, was für einen Sinn es haben sollte - selbst wenn es möglich wäre, was es offenkundig nicht ist -, die Realität "objektiv" abzubilden und damit quasi zu verdoppeln. Was ist das für ein Kunstverständnis? Für Ben jedenfalls stellt die Erkenntnis, "dass die Fotografie genauso subjektiv war wie die Malerei" (ebd.), einen künstlerischen Sündenfall dar, er wird "zynisch" (S. 85) und verkauft sein Talent an die Werbebranche. Wie dichtete doch Erich Kästner 1946 (!) unter der Überschrift "Die Jugend hat das Wort"

"Wir hatten falsche Ideale?
Das mag schon stimmen, bitte sehr.
Doch was ist nun? Mit einem Male
besitzen wir selbst die nicht mehr!"

Was Mely Kiyaks "Ein Garten liegt verschwiegen" betrifft, habe ich meinem ersten Eindruck nicht viel hinzuzufügen: Es hätte ein gutes Buch werden können, aber dazu hätte jemand anderes es schreiben müssen. Die tantigen Spötteleien der Autorin werden allmählich immer unerträglicher. Ich meine, hallo: Die Frau ist so alt wie ich, aber sie hat den Humor einer angeschickerten Mittsechzigerin im Operncafé. Wirklich schade um das interessante Thema. 


Linktipps: 

Auf diesen gut drei Jahre alten Artikel wurde ich unlängst via Twitter aufmerksam, und ich würde mal sagen, er hat an Aktualität nichts eingebüßt -- eher im Gegenteil. Der Religionswissenschaftler Matthew Rose erinnert an eine im April 1966 im Time Magazine erschienene Titelstory über die Idee einer "Theologie ohne Gott" und geht der Frage nach, was seither eigentlich aus dieser theologischen Richtung und ihren Vorkämpfern geworden ist. Er stellt fest, dass die seinerzeit im Time Magazine vorgestellten Vordenker einer "Gott-ist-tot-Theologie" zwar auf heftigen Widerspruch stießen und ihre fachwissenschaftlichen Karrieren sich davon nie wieder richtig erholten, dass ihre Ideen aber trotzdem einflussreich waren. Sein Fazit: Als Weltanschauung hat der liberale Protestantismus hat in den 50 Jahren von 1966 bis 2016 einen beispiellosen Siegeszug durch die westlichen Gesellschaften vollzogen, dabei aber sich selbst als institutionelle Religion überflüssig gemacht und nahezu abgeschafft. Seine Ausführungen hierzu erscheinen mir durchaus plausibel -- und lassen es umso rätselhafter erscheinen, wieso auf katholischer Seite so viele Leute zu glauben scheinen, sie könnten die Institution gerade dadurch retten, dass sie sich der Weltanschauung des liberalen Protestantismus angleichen... 

Noch ein älterer Artikel, auf den ich eher zufällig bzw. aus Versehen gestoßen bin; und auch hier geht es um ein Thema, das in absehbarer Zeit an aktueller Relevanz (leider) kaum verlieren, sondern eher noch gewinnen dürfte. Es geht um Kirchenschließungen im Erzbistum Berlin, oder, präziser gesagt, um die Frage, was aus nicht mehr genutzten Kirchengebäuden wird. Die Kirche St. Bernhard in Brandenburg an der Havel wird offenbar nicht zuletzt wegen der Skurrilität des Umstands, dass das Erzbistum seinerzeit via eBay nach einem Käufer für die Immobilie suchte, als Fallbeispiel herangezogen; erwähnt werden aber auch andere Fälle, auch aus anderen Bistümern (in Mönchengladbach etwa sei eine ehemalige Kirche zur Kletterhalle umfunktioniert worden), und Erzbistums-Pressesprecher Förner äußert sich zu allgemeinen Richtlinien für die Nachnutzung früherer Gotteshäuser: "Eine Disco werde es nicht"; in Polen habe "ein Kirchenkritiker [...] ein Gotteshaus über Mittelsmänner gekauft und zum Bordell gemacht [...] -- auch so etwas wolle das Erzbistum nicht zulassen". Unschwer zu bemerken ist, dass der Artikel von Sachverstand, geschweige denn von Wohlwollen gegenüber der katholischen Kirche weitgehend unbeleckt ist. Gleich zu Beginn heißt es: "Die Zahl der Katholiken sinkt stetig" -- so als wäre das ein Naturgesetz; bezeichnenderweise wird in diesem Satz auch nicht präzisiert, wo das so sein soll; global gesehen ist tatsächlich das Gegenteil der Fall, aber was interessiert das die Berliner Morgenpost? "Die meisten Gottesdienste des Erzbistums Berlin bleiben somit fast unbesucht"  -- das halte ich dann ja doch für übertrieben. Zumindest erweckt es einen falschen Eindruck; bedenkt man, dass die Mehrzahl der Gottesdienste Werktagsmessen sein dürften, dann mag es wohl stimmen, dass "die meisten" davon nur eine recht überschaubare Besucherzahl aufweisen, aber für Sonntagsmessen gilt das wohl kaum; und was genau heißt eigentlich "fast unbesucht?" -- Weiter unten erfährt der staunende Leser, in der "Stahlarbeitersiedlung", in der St. Bernhard stehe, hätten sich "zumindest die Älteren eine fast [?] volkskirchliche Frömmigkeit bewahrt": "Hier haben alte Rituale überlebt, die es in vielen modernen Gemeinden nicht mehr gibt". Nanu, was für alte Rituale mögen das wohl sein? Man höre und staune: Es handelt sich um Eucharistische Anbetung. Und die gibt es angeblich "in vielen modernen Gemeinden nicht mehr"?  Sollte es mich mal in so eine "moderne Gemeinde" verschlagen, werde ich den Leuten aber was husten! Wobei, mit einer "modernen Gemeinde", wie die säkulare Presse sie sich vorstellt, hätte ich vermutlich noch ganz andere Probleme. -- Interessant ist aber ja nun doch, was wirklich aus St. Bernhard in Brandenburg an der Havel geworden ist. Das geht aus dem Artikel natürlich nicht hervor, aber Google hilft: Heute wird das Gebäude von der "Gemeinschaftskirche Brandenburg e.V." genutzt. "Was immer Sie von Gott denken, was immer Sie von Kirche halten, hier sind Sie willkommen", heißt es auf der Website. "St Bernhard bietet Raum zur Begegnung für alle Menschen gleich welcher Herkunft, Religion, Geschlecht und Alter und regt zur gemeinsamen, unterstützenden Lebensgestaltung an." Soweit, so obskur. Was sind das für Leute? Wer finanziert die, und warum? Und kommen jetzt wirklich mehr Leute in die Kirche als früher? Fragen über Fragen. Eventuell muss ich da mal hin. 


Heilige der Woche: 

Heute, Montag, 23. September: Hl. Pio von Pietrelcina (1887-1968), Ordenspriester, Mystiker. Bauernsohn aus Kampanien, trat im Alter von 16 Jahren in den Kapuzinerorden ein und wurde 1910 zum Priester geweiht. Galt schon zu Lebzeiten als Wundertäter; ab 1916 trug er die fünf Wundmale Christi an seinem Körper, zudem verfügte er laut Augenzeugenberichten auch über die Gabe der Levitation und der Bilokation. Meist schlicht "Pater Pio" genannt, zählt er zu den wohl populärsten Heiligen des 20. Jahrhunderts. 

Dienstag, 24. September: Hll. Rupert und Virgil, Bischöfe und Glaubensboten. Rupert (ca. 660-718) stammte wohl aus fränkischem Adel, wurde gegen Ende des 7. Jahrhunderts zunächst Bischof von Worms, missionierte in Bayern, gründete 696 das Stift St. Peter in Salzburg und das Frauenkloster auf dem Nonnberg und wurde erster Erzbischof von Salzburg. Virgil (ca. 700-784) war gebürtiger Ire, kam 743 als Missionar ins Frankenreich und 745 nach Bayern, wurde 749 oder 755 Erzbischof von Salzburg. Er war ein bedeutender Gelehrter, der neben Theologie und Philosophie auch Geschichtsschreibung, Mathematik und Astronomie betrieb.  

Mittwoch, 25. September: Hl. Nikolaus von der Flüe (1417-1487), Einsiedler, Mystiker. Schweizer Bergbauer, der 1467 seine Familie verließ und Einsiedler wurde. Entfaltete als Seelsorger und geistlicher Berater erheblichen, auch politischen Einfluss. Wird als Schutzpatron der Schweiz verehrt. Bekannt ist das "Gebet vom Bruder Klaus", das er in seiner Einsiedelei jeden Tag gebetet haben soll: 

Mein Herr und mein Gott, 
nimm alles von mir, 
was mich hindert zu Dir. 
Mein Herr und mein Gott, 
gib alles mir, 
was mich führet zu Dir. 
Mein Herr und mein Gott, 
nimm mich mir 
und gib mich ganz zu eigen Dir.

Donnerstag, 26. September: Hll. Kosmas und Damian, Ärzte und Märtyrer. Der Überlieferung zufolge waren Kosmas und Damian Brüder, die im 3. Jahrhundert in Kilikien (im Süden der heutigen Türkei) als Ärzte praktizierten und durch ihre kostenlose medizinische Hilfe viele Menschen zum christlichen Glauben bekehrten, bis sie im Zuge der Christenverfolgungen unter Kaiser Diokletian das Martyrium erlitten. 

Freitag, 27. September: Hl. Vinzenz von Paul (1581-1660), Priester und Ordensgründer. Im Jahr 1600 zum Priester geweiht, 1605 von türkischen Piraten entführt und in Tunis als Sklave verkauft, gelangte jedoch 1607 wieder in Freiheit. Widmete sich als Pfarrer intensiv der Armenfürsorge und Krankenpflege, insbesondere auch der Betreuung schwer erziehbarer Jugendlicher und Geisteskranker. Gründete 1625 den Missionsorden der Lazaristen. Auch der Frauenorden der "Töchter der christlichen Liebe" sowie die Vinzentiner-Kongregation von Malabar (die in der St.-Clemens-Kirche in Berlin-Kreuzberg das "Exerzitienzentrum der göttlichen Barmherzigkeit" betreibt) berufen sich auf ihn. 

Samstag, 28. September: Hl. Lioba (ca. 700-782), Missionarin und Ordensfrau. Kam aus dem angelsächsischen Königreich Wessex um 735 als Mitarbeiterin des Hl. Bonifatius ins heutige Deutschland, wurde erste Äbtissin des Klosters Tauberbischofsheim. Hl. Wenzel (ca. 907-929 od. 935), Märtyrer. Ab 921 Fürst eines böhmischen Stammesverbands in der Region um Prag, bis 924/25 unter Vormundschaft. Musste sich ca. 929 der Oberherrschaft des ostfränkischen Königs Heinrich I. unterwerfen und fiel einer von seinem Bruder Boleslaw angeführten Verschwörung zum Opfer. Wurde schon bald nach seinem Tod im Volk als Heiliger verehrt und gilt heute als Nationalheiliger Tschechiens. Hl. Laurentius Ruiz und Gefährten, Märtyrer. Lorenzo Ruiz (ca. 1605-1637) wurde in Binondo auf den Philippinen geboren, wurde Ministrant in einem Dominikanerkonvent und schloss sich 1636, um einer Mordanklage zu entkommen, einer Gruppe spanischer Missionare auf dem Weg nach Japan an. Da das Christentum in Japan streng verboten war, wurde die Schiffsbesatzung unmittelbar nach der Landung auf der Insel Okinawa festgenommen, nach Nagasaki gebracht und dort hingerichtet. Ruiz, die mit ihm zusammen hingerichteten Missionare sowie zehn weitere Märtyrer, die in en Jahren 1633/34 in Japan für den Glauben starben, wurden 1981 von Papst Johannes Paul II. selig- und 1987 heiliggesprochen.  


Aus dem Stundenbuch: 

Leite mich, Herr, in deiner Gerechtigkeit, † meinen Feinden zum Trotz; * ebne deinen Weg vor mir! (Psalm 5,9