Donnerstag, 2. Januar 2020

Die 100-Bücher-Challenge: Etappe 1

Als ich meine wöchentliche Artikelserie "Kaffee und Laudes" ersann und darin eine Rubrik "aktuelle Lektüre" einführte, ahnte ich noch nicht, wozu das führen würde. In den ersten Folgen der Reihe gab es in dieser Rubrik auch gar nicht so enorm viel zu berichten. Erst Mitte Juni entwickelte ich - motiviert durch das allmählich in Schwung kommende Büchereiprojekt in der Pfarrei Herz Jesu Tegel und, damit zusammenhängend, meine erste Expedition zu einigen öffentlichen Büchertauschregalen - eine Methode, mit deren Hilfe ich es in den folgenden Monaten schaffte, etwa alle zwei bis drei Wochen jeweils fünf Bücher durchzulesen. Mehr oder weniger konsequent evaluierte ich die Bücher, die ich in dieser Zeit las, nach zwei Kriterien, nämlich hinsichtlich ihrer Tauglichkeit für das besagte Büchereiprojekt sowie hinsichtlich ihrer #BenOp-Relevanz -- das heißt: danach, ob und inwieweit ich der Meinung war, das jeweilige Buch könne #BenOp-Aktivisten und solchen, die es werden wollen, wertvolle Informationen und/oder Denkanstöße vermitteln. Selbstverständlich sind diese beiden Kriterien nicht ganz und gar unabhängig voneinander. Schließlich betrachte ich, wie ich an anderer Stelle recht ausführlich erläutert habe, die im Aufbau befindliche Pfarrbücherei selbst als  ein #BenOp-Projekt. Daraus folgt: Wenn ein Buch #BenOp-relevant ist, dann taugt es auch für die Bücherei; umgekehrt gilt das nicht mit derselben Zwangsläufigkeit, denn zumindest vorläufig sollte in der Bücherei durchaus auch Platz sein für ein gewisses Kontingent an Büchern, die nicht unmittelbar auf den Zweck einer #benOppigen Jüngerschaftsschulungs-Ressource ausgerichtet sind, solange sie diesem Zweck nicht explizit zuwiderlaufen.

Kurz und gut: Nachdem ich von Beginn meiner "Kaffee & Laudes"-Artikelserie bis zum Christkönigssonntag 58 Bücher durchgelesen und daraus eine Top-25-Liste in Sachen #BenOp-Relevanz erstellt habe, habe ich mir gedacht: Im neuen Kirchenjahr schaffe ich 100. Ich habe auch bereits eine Leseliste für das ganze Jahr erstellt, aus Bücherspenden für das Büchereiprojekt, Fundstücken aus Büchertelefonzellen, aber auch aus meinen privaten Beständen und denen meiner Liebsten. Da damit zu rechnen ist, dass übers Jahr noch allerlei weitere interessante Titel 'reinkommen, behalte ich mir vor, die Leseliste fortlaufend zu überarbeiten, aber jedenfalls habe ich im Advent schon mal angefangen, und zwar mit den folgenden Büchern: 


Ich hatte es ja bereits erwähnt: Vor schätzungsweise 30 Jahren hatte ich diesen Roman, der gewissermaßen an der Grenze zwischen den klassischen Abenteuererzählungen des Autors und seinem symbolisch überhöhten Spätwerk steht, schon einmal, vielleicht auch mehrmals, gelesen, wenn auch nur in der bearbeiteten Bamberger Ausgabe. Meine Erinnerung an die Romanhandlung war allerdings ausgesprochen fragmentarisch; etwas besser als an das Buch selbst erinnerte ich mich daran, dass Arno Schmidt in "Sitara und der Weg dorthin" just diesen Roman als eine bevorzugte Quelle von Belegen für seine These heranzog, in den Abenteuergeschichten Karl Mays gehe es unterschwellig stets um Sex, und im Besonderen um Homosexualität. Die betreffenden Passagen von "Sitara" habe ich noch einmal nachgelesen, aber das meiste wusste ich auch so noch: beispielsweise, was Arno Schmidt daraus macht, dass der Ich-Erzähler und spätere Old Shatterhand als Gymnasiast den Spitznamen "Sappho" trug - benannt nach der antiken Dichterin von der Insel Lesbos, deren Gedichte über die Liebe zwischen Frauen sprichwörtliche Berühmtheit erlsngten -; oder daraus, dass von dessen Jugendfreund Carpio gesagt wird, dass "alles womöglich beim Schwanz anstatt beim Kopfe anfaßte" (S. 31); und auch, dass ebendieser Carpio, als ihm und seinem Freund Sappho als "Giftnudeln" bezeichnete Zigarren angeboten werden, "seine 'Nudel' so oft ausgehen" lässt (S. 38). Das Zweikampfritual "Sti-i-poka", dessen Name laut Mays Fußnote "Auf Tod und Leben" bedeuten soll (S. 401), übersetzt Schmidt als "Stich in'n Po" (Sitara, S. 173), und dass der Pelzjäger Hiller bei den Indianern den Ehrennamen "Nana-Po" trägt, spricht laut Schmidt ebenfalls für sich. Aber lassen wir das (vorerst).

Auf der Handlungsebene ist "Weihnacht!" ein exzellent komponierter Abenteuerroman, laut Arno Schmidt (Sitara, S. 37) "in besonders hitzigem Schwünge [sic], binnen Tagen, niedergeschrieben"; von einem Schießwettbewerb über die Aufklärung eines Golddiebstahls, die Entzifferung eines "Sprechenden Leders", Lektionen im Fährtenlesen und Anschleichen, Gefangenschaft bei feindlichen Indianern, einen rituellen Zweikampf, überraschenden Wiedersehensszenen zwischen lange Getrennten bis hin zu einem filmreifen Showdown am "Finding-Hole", einer Goldfundstelle ("es ist 'hohl' und ein 'fein Ding'", merkt Arno Schmidt, Sitara, S. 184, an), einer Schneelawine und einem gefräßigen Grizzlybären bietet der Roman alles, was das Herz des Wildwestroman-Lesers begehrt. Er bietet aber noch mehr als das. Ein Weihnachtsgedicht, das der Ich-Erzähler als Gymnasiast verfasst hat, durchzieht den Roman leitmotivisch von Anfang bis Ende, verbindet verschiedene  Handlungsstränge und Personen miteinander und schlägt so von vornherein einen auffälligen religiösen Grundton an. Abgesehen vom Ich-Erzähler Old Shatterhand - der von sich sagt, er "gehöre zu den Menschen, denen ihr Glaube höher als alle irdischen Angelegenheiten steht" (S. 141) - wird die religiöse Thematik des Romans vor allem an drei Nebencharakteren variiert: an Hermann Lachner alias "Carpio", dem Jugendfreund und Schulkameraden des Ich-Erzählers, den dieser als körperlich und geistig gebrochenen Menschen im Wilden Westen wiedertrifft; an dem durch eine nicht näher erläuterte Intrige ruinierten österreichischen Adligen Hiller, der als Pelzjäger in den Westen gegangen ist; und schließlich an dem Banditen Frank Sheppard, genannt "Prayer-Man". Während Carpio erklärt, trotz allen Unglücks, das er erlitten hat, habe er seinen "Glauben an den Herrgott [...] festgehalten", andernfalls würde er sich schon längst "eine Kugel durch den Kopf" geschossen haben (S. 389), ist Hiller ein verbitterter Atheist, der über Old Shatterhands "fromme Denkungsart"(S. 534) die Nase rümpft und gar erklärt: "[E]s giebt keinen Gott! Wenn ich da nicht recht habe, so mag mir der erste, beste Grizzlybär das Gehirn ausfressen!" (S. 525). Wie May-Kenner wissen - vgl. etwa die Marienkalendergeschichten "Old Cursing-Dry" (später "Gott lässt sich nicht spotten") und "Ein amerikanisches Doppelduell" (später "Ein Blizzard") -, pflegt die göttliche Vorsehung in den Werken des Maysters solche Aussprüche prompt beim Wort zu nehmen; Arno Schmidt spottete weidlich über "die buchstäbliche & mechanisch-méchante Weise, mit der der HErr auch kleine & kleinste Rüpel straft", derart nämlich, "daß, wenn der arme Fläz den kuriosen Schwur tut: 'Ein grauer Bär soll mir das Gehirn ausfressen!', Meister Petz schon um die Ecke auf ihn & sein bißchen Brägen wartet" (Sitara, S. 162). Tatsächlich wird Hiller zwar nicht selbst vom Bären gefressen, erlebt aber aus nächster Nähe mit, wie ebendies dem Banditen Eggly widerfährt, und bekehrt sich daraufhin: "In der fürchterlichen Ewigkeit, die ich jetzt zwischen Leben und Tod zubrachte, bin ich zur Erkenntnis meiner Missethat, meiner Sünden gekommen" (S. 596). -- Sheppard schließlich hat sich eine "Tarnidentität" als salbungsvoll frömmelnder Traktatverkäufer aufgebaut,  um die Gutgläubigkeit seiner Mitmenschen auszunutzen, und der Ich-Erzähler lässt keinen Zweifel daran, dass er diese Verbindung von religiöser Heuchelei und Geschäftemacherei auch unabhängig von Sheppards sonstigen Verbrechen schon verdammungswürdig genug findet. Als der "Prayer-Man" schließlich in einer Schneelawine umkommt, kommentiert der Ich-Erzähler dies mit den Worten:
"Gott wollte ihn nicht hier bereuen, sondern im Jenseits büßen lassen. Wer mit dem Heiligsten, was der Mensch besitzt, in der Weise, wie er es gethan hatte, Lästerung treibt, begeht eine Sünde, die ihm hier nicht vergeben werden kann." (S. 598) 
Interessant sind übrigens auch die Ausführungen darüber, wodurch das Leben des armen Carpio so schrecklich verpfuscht wurde, nämlich dadurch, dass sein Vater ihn gegen seine Neigung zwang, aufs Gymnasium zu gehen, statt ihn ein Handwerk erlernen zu lassen. Der Erzähler merkt an:
"Handwerk hat einen goldenen Boden, und wer den Mann, der auf diesem ehrenwerten Boden steht, verachtet, der verdient an sich das, was er thut. Aber Carpio war eines der vielen, vielen Opfer der landläufigen und doch so falschen Ansicht vieler studierter Väter, daß es eine Schande für sie sei, einen nicht studierten Sohn zu haben." (S. 347) 
Und Winnetou tadelt:
"Eure Väter haben das Recht, das Gehirn ihrer Kinder durch den Zwang, etwas werden zu sollen, was sie nicht werden können, zu morden und sie um das Glück ihres Lebens zu bringen. Und wenn dieses Gehirn sodann den Dienst versagt, klagen sie über ungeratene Söhne!" (S. 382) 
Dass es unter Umständen ratsam sein kann, einen Handwerksberuf einer akademischen Karriere vorzuziehen, ist übrigens ein zutiefst #benOppiger Gedanke; man vergleiche dazu Kapitel 8 von Rod Drehers Buch -- und diesen Blogartikel von mir...

Abzüge in der B-Note gibt's derweil für einige (wenn auch nur angedeutete) heterodoxe Vorstellungen über das Leben nach dem Tod; dergleichen ist beim späten May, der sich zunehmend mit Theosophie  à la Swedenborg etc. befasste, leider nicht ganz selten. Zuweilen hat Old Shatterhands vielbeschworene Frömmigkeit zudem einen bedenklichen Zug ins Moralistisch-Therapeutische und Subjektivistische; exemplarisch deutlich wird das etwa, wenn er zu Frau Hiller sagt: "Es liegt mir fern, [...] Ihnen einen Glauben zu nehmen, der Sie glücklich macht" (S. 165). Hier wird also nicht nach der Wahrheit des Glaubens gefragt, sondern nur danach, ob er dem Individuum "gut tut"; sehr postmodern, möchte man anmerken!

Im Ganzen überwiegen jedoch die positiven Eindrücke. Ich mag dieses Buch einfach. Und ganz besonders den Charakter "Carpio". 

  • Sr. M. Lucia OCD (Hg.): Umkehr - Heiligung - Freude in Gott 
Eine Textsammlung zu den im Buchtitel genannten Themen, zusammengestellt aus Bibelstellen, lehramtlichen Dokumenten, Werken von Heiligen und Theologen: klingt erst mal vielversprechend, nicht? Aber wie ich schon vor ein paar Wochen einmal schrieb: Als Ganzes betrachtet ist das Buch ein Kuriosum, und es fällt mir schwer, die editorische Leistung der Herausgeberin - einer karmelitischen Nonne - unironisch als eine solche anzuerkennen. Man hat den Eindruck, sie habe  im Zuge ihrer eigenen geistlichen Lektüre Exzerpte angefertigt und diese dann völlig unkommentiert, ohne jede Einordnung oder Erläuterung, lediglich grob thematisch sortiert, als Buch veröffentlicht. Der richtige Umgang mit diesem Buch wäre vermutlich, einzelne Ausschnitte herauszugreifen und über diese ausgiebig zu meditieren, anstatt zu versuchen, das ganze Buch am Stück zu lesen.

Für die Beurteilung der #BenOp-Relevanz dieses Bandes ist zunächst einmal die Feststellung wesentlich, dass der Schwerpunkt ganz deutlich auf der religiösen Praxis des Einzelnen liegt; der gemeinschaftliche Aspekt des Christseins kommt lediglich am Rande zur Sprache, etwa in Gestalt eines Auszugs aus dem Buch "Beichten heute" (1964) von P. Anciaux und R. Blomme, in dem das Sakrament der Versöhnung mit der Bereitschaft der Gemeindemitglieder zur Versöhnung untereinander in Beziehung gesetzt wird (S. 147f.). -- Bedenkt man, wie wichtig gerade der Gemeinschafts-Gedanke für die #BenOp ist. mag man meinen, das weitgehende Fehlen dieser Dimension sei ein Mangel des hier in Frage stehenden Buches; andererseits ist auch für die #BenOp erst einmal die persönliche Bekehrung des Einzelnen grundlegend, und zwar "Bekehrung" nicht (nur) als einmaliges Ereignis verstanden, sondern als permanenter Prozess. Und in dieser Hinsicht sind viele der in diesem Band versammelten Einzeltexte dann doch eine vertiefte Betrachtung wert.

In besonderem Maße gilt das für den Abschnitt "Das ist der Wille Gottes, eure Heiligung", der auf die in der Konstitution "Lumen Gentium" des II. Vatikanischen Konzils hervorgehobene Berufung aller Christgläubigen zur Heiligkeit abzielt. Ein Zitat aus einer Ansprache Papst Pauls VI. zum Angelus am 7.11.1975 - "Laßt uns also unser Programm der Heiligkeit machen! Es ist ein bewegliches Programm. Jeder kann es seiner persönlichen Lebenssituation anpassen" (S. 172) - nimmt im Prinzip schon den Grundgedanken der #BenOp vorweg. Ähnliches gilt für ein Zitat des reformierten Theologen Walter Nigg: "Heilige sind keine Ausnahmegestalten, sie sind nicht als geistliche Übermenschen aufzufassen, deren Lebensgestaltung für uns doch nicht in Frage kommt. Diese Auffassung macht sich einer unerlaubten Bequemlichkeit schuldig". (S. 195). 

Ein bezeichnender Befund der Lektüre ist übrigens auch der scharfe Kontrast zwischen dem zuweilen arg streng und anspruchsvoll anmutenden asketischen 'Programm", das insbesondere aus den Äußerungen von Heiligen oder über diese spricht, und Beiträgen aus "nachkonziliarer" Zeit, die ein allgemeines Schwinden bußfertiger Gesinnung (oder lebendiger Glaubenspraxis überhaupt) entweder lautstark beklagen oder aber irgendwie pastoral "aufzufangen" versuchen. Es überrascht nicht, dass deutsche Bischöfe da ganz vorn mit dabei sind. Kardinal Döpfner, 1961-1976 Erzbischof von München und Freising und immerhin eine "prägende Figur" des II. Vatikanischen Konzils (das meint jedenfalls  Tante Wiki), betonte 1972 in einer Rundfunkansprache anlässlich der Eröffnung der Olympischen Spiele in München: "Und wenn heute nicht selten die Auffassung verbreitet ist, durch das letzte Konzil sei für den Christen alles ein wenig leichter geworden, weitere Reformen müßten es für den Christen noch bequemer machen, so wäre das, ich darf schon sagen, ein grauenhaftes Mißverständnis" (S. 20).  Interessant und passagenweise ausgesprochen zitierwürdig ist auch eine 1973 vom damaligen Freiburger Erzbischof Hermann Schäufele gehaltene Predigt, die unter der Überschrift "'Sinn für die Sünde' am Erlöschen?" auf S. 102-111 abgedruckt ist. Bereits 1970 warnte der Dogmatiker Alois Winklhofer: "Beim Wegfall der Ohrenbeichte wäre die Gefahr einer völligen Subjektivierung der Normen christlichen Sündenbewußtseins zu beachten. Sie kündigt sich ja schon an" (S. 130). Ausgesprochen zahm und zahnlos wirkt dagegen der gemeinsame Hirtenbrief der deutschen Bischöfe zur Einführung der neuen Bußordnung 1975 (S. 96-102): Man würde den satten und selbstzufriedenen Gläubigen, die irrtümlich glauben, Buße und Askese wären neuerdings abgeschafft, ja ganz gern mal wieder etwas zumuten, aber man traut sich nicht. Also 'regt man an', 'lädt ein', 'gibt zu bedenken'. Geradezu exemplarisch für diese postkonziliare Verweichlichung ist auch das Fastenhirtenwort von Bischof Bernhard Stein, Trier, aus dem Jahr 1974 (S. 68-74). Immerhin interessant ist es ja, wenn Bischof Stein anmerkt: 
"Mancher von Ihnen hat in der Berührung mit ausländischen Arbeitnehmern mohammedanischen Glaubens mit Beschämung festgestellt, wie selbstverständlich viele dieser fern der Heimat im fremden Land lebenden Männer die Strengheiten des Fastenmonats Ramadan auf sich nehmen. Die Mohammedaner wissen übrigens etwas genau, das bei uns in Vergessenheit geraten ist: daß Fasten das Herz nicht nur aufbricht für Gott, sondern auch für den Nächsten." (S. 70) 
Aber dann:
"Wie heilsam könnte für manche Familie und manche Einzelperson zum Beispiel so etwas wie ein Fernseh-Fasten sein: eine entscheidende Einschränkung der täglich vor dem Bildschirm verbrachten Zeit durch Beschränkung auf ausgewählte Sendungen." (S. 71) 
Buh. Man wagt kaum, sich vorzustellen, was ein Franz von Assisi, eine Teresa von Àvila oder ein Johannes vom Kreuz zu solchen "Anregungen" sagen würden.

Der Tradi-Fraktion sei an dieser Stelle jedoch ins Stammbuch geschrieben, dass "vor dem Konzil" auch nicht alles eitel Sonnenschein war. So findet sich in diesem Band auch ein Auszug aus der Enzyklika "Caritate Christi compulsi" von Papst Pius XI., in der dieser schon 1932 feststellt,
"daß in unserer Zeit Begriff und Wort von Sühne und Buße bei vielen seine frühere Kraft verloren hat [...]. Es fehlt auch nicht an Leuten, die leibliche Bußübungen als überlebt verwerfen möchten, ganz zu schweigen von dem heutigen freigeistigen oder autonomen Menschen, der jede Buße als etwas Knechtisches stolz verachtet. Es ist auch kein Wunder freilich". (S. 13) 
In derselben Quelle betont der von 1922-1939 amtierende Pontifex übrigens:
"Ist nicht einer der heitersten und frohsten Gesänge, die je in diesem Tränental erklungen sind, jener bekannte Sonnengesang des heiligen Franziskus? Und doch ist sein Urheber, Dichter und Sänger unter die strengsten Gefährten Christi zu zählen, er, der Arme von Assisi, der völlig nichts besaß auf Erden und der in seinem Leben, dessen Körperlichkeit ganz aufgezehrt war, die blutigen Stigmata des Gekreuzigten Herrn tragen durfte!" (S. 14f.) 
Nimm das, "Bruder Sonne, Schwester Mond"! -- Daneben hat das Buch aber, zum Teil vielleicht sogar gerade dank seiner konzeptionellen Unausgegorenheit, auch noch ganz andere interessante Impulse zu bieten. Dazu gehört etwa eine Reflexion des Anfang 1945 als Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime hingerichteten Jesuitenpaters Alfred Delp über Ideologien, die sich an die Stelle des Christentums setzen wollen -- wobei er zu seiner Zeit sicherlich in erster Linie an den Nationalsozialismus dachte, aber mir scheint, diese Zeilen haben auch heute noch nichts an Aktualität verloren:
"Diese Ersatz-Werte sind aber viel absoluter und unerbittlicher als der lebendige Gott. Sie wissen nichts von der Vornehmheit des Wartenkönnens, von der freien Werbung, vom gnadenhaften Anruf, von der beseligenden Begegnung. Sie kennen nur Forderung, Zwang, Macht, Drohung und Vernichtung. Wehe dem, der anders ist!" (S. 177) 
Ebenfalls durchaus eindrucksvoll fand ich ein Zitat des bereits erwähnten Walter Nigg von 1967:
"Wir sind eine Generation ohne Leitbild geworden. Während die früheren Menschen echte Vorbilder besaßen, die sie der heranwachsenden Jugend vor Augen stellten und an denen sie selbst emporwuchsen, wie die im salomonischen Schrifttum umrissene Gestalt des Weisen, der mit seiner abgeklärten Besonnenheit die Leute zu beraten fähig war, oder wie im Mittelalter das hehre Ideal des Ritters, der tapfer und unerschrocken für die Schwachen einstand, besitzt unsere Zeit keine Leitbilder mehr, weder vergangenene noch gegenwärtige. Eine verantwortungslose Kritik unterminierte sie so lange, bis sie schließlich durchlöchert am Boden lagen und wir jetzt ohne jede Zielsetzung dastehen. Anstelle der aufmunternden Leitbilder sind die Idole getreten, der Star, die Filmdiva, der Rennfahrer, deren ausdruckslose Gesichter uns allwöchentlich aus den Illustrierten stupid entgegenschauen. Diese aufgebauschten Idole verdrehen den jungen Menschen völlig die Köpfen und führen sie auf die abschüssige Bahn." 

Und schließlich hat mich, just auf dem (bisherigen) Höhepunkt meines Ärgers mit dem und über den Pfarrgemeinderat, eine Passage aus "Das Wort wird Fleisch" (1949) von Adrienne von Speyr sehr berührt:
"[E]s kann auch sein, daß ein solcher, der gesehen hat, was Gott ist, von den Menschen so göttlich fordert, daß er ein unerträgliches Glied der Gemeinschaft wird. Er ist für ein harmloses, unbeschwertes Gespräch nicht mehr zu haben. Er ist vielleicht nicht mehr fähig, aufbauende Arbeit innerhalb der vorgesteckten Rahmen zu leisten. Er ist von den Menschen zu weit abgerückt und wird von ihnen nicht mehr verstanden. Er ist von Gott zu sehr erschüttert worden, um noch tauglich zu sein zur gewöhnlichen menschlichen Leistung." (S. 201) 
Dass hier keine Missverständnisse aufkommen: Ich will auf keinen für mich in Anspruch nehmen, ein auf so fundamentale Weise von Gott ergriffener Mensch zu sein. Ich wäre es vielleicht gerne, oder noch genauer gesagt, ich bilde mir vielleicht manchmal ein, dass ich es gerne wäre. Aber wie auch immer, ich finde diese Sätze sehr anregend, und ich habe den Eindruck. es ist kein Zufall, dass ich gerade jetzt auf sie gestoßen bin.

  • Norbert Baumert (Hg.): Jesus ist der Herr 
Hinsichtlich der #BenOp-Relevanz dieser Sammlung von "[k]irchliche[n] Texte[n] zur Katholischen Charismatischen Erneuerung" stellt sich zunächst einmal ganz grundlegend die Frage: Wie charismatisch ist die #BenOp? Auf den ersten Blick möchte man geneigt sein zu sagen: nicht sehr, jedenfalls nicht notwendigerweise. In Rod Drehers "Benedikt-Option" werden charismatische Gemeinschaften nur am Rande erwähnt. Meine persönliche Vision einer christlichen Graswurzelbewegung ist zwar - zumal sie beispielsweise der MEHR-Konferenz, dem Gebetshaus Augsburg, aber nicht zuletzt auch der Initiative Nightfever bedeutende Impulse verdankt - vergleichsweise stärker charismatisch orientiert, aber nur insoweit, wie man bei dieser Bezeichnung nicht sofort und in erster Linie an Zungenrede, an "Bilder" und Visionen, "Ruhen im Geist" und/oder Heilungsgebete denkt. Charismen sind schließlich auch - wenn nicht sogar in erster Linie, auch wenn das äußerlich betrachtet weniger spektakulär sein mag - Gaben der Lehre, der Leitung, des Dienstes und der Wohltätigkeit, um nur einige zu nennen. Im Sinne der Unterscheidung "hierarchischer" und "charismatischer Gaben" in der Kirche, wie ich sie etwa dem Schreiben "Iuvenescit Ecclesia" der Glaubenskongregation entnommen habe, sind geistliche Bewegungen bzw. Strömungen innerhalb der Kirche, die graswurzelartig "von unten" entstehen, per definitionem als "charismatisch" zu betrachten, in dem Sinne, dass ihre Tätigkeit sich auf Gaben stützt, die der Heilige Geist verleiht, wem Er will. Ohne den Heiligen Geist werden aus innerkirchlichen Laien- und Basisbewegungen - wie man anhand von Verbänden wie BDKJ, kfd usw. beobachten kann - bloße politische Interessengruppen. So gesehen ist die #BenOp sehr wohl "charismatisch" in einem breiten Verständnis des Begriffs. Vorrangig auf dieser Ebene betrachte ich das vorliegende Buch - oder genauer gesagt: Teile seines Inhalts - als informativ und anregend für #BenOpper und solche, die es werden wollen; wohingegen mich die Charismatische Erneuerung in ihrer institutionalisierten Gestalt eher weniger interessiert. 

Wobei, ganz so kann man das im Grunde auch wiederum nicht sagen. Schließlich ist gerade die Institutionalisierung oder, wenn man so will, Selbst-Institutionalisierung der Charismatischen Bewegung - in einem Beitrag des Bandes spricht der damalige Bischof von Nantes und spätere Erzbischof von Toulouse, Émile Marcus,  von der "der widersprüchlichen Notwendigkeit", "institutionelle Ausrüstung sicherzustellen" (S. 86), und dem "paradoxen Erscheinungsbild" einer "Strömung, die sich institutionalisiert" (S. 88) - ein zentrales Thema dieses Bandes; und  dieser Vorgang verdient durchaus Aufmerksamkeit, wenn auch, meiner Überzeugung nach, nicht als Vorbild,  sondern im Gegenteil als Mahnung und Warnung. Sollte ich mal die Zeit und Muße finden, einen detaillierten Beitrag zu diesem Thema zu verfassen, nenne ich ihn "Glanz und Elend einer Graswurzelbewegung". Meine Kernthese, kurz und krass: In dem Moment, in dem eine Graswurzelinitiative sich eine institutionelle, verbandsförmige Struktur gibt, ist sie im Wesentlichen erledigt. In Mexiko gibt es eine "Partei der Institutionalisierten Revolution", und auch wenn man nicht wüsste, dass die im Laufe ihrer jahrzehntelangen Alleinherrschaft zum Inbegriff der Korruption geworden ist, würde man es allein aufgeund des Namens vermuten. -- Im Ernst: Es ist mir außerordentlich wichtig, dass die #BenOp - wie ich schon an anderer Stelle schrieb - nicht danach streben sollte, "die dreiundzwanzigste oder vierundzwanzigste Neue Geistliche Gemeinschaft zu werden". Sondern was? Schlagwortartig gesagt: eine Bewegung, die innerhalb wie außerhalb bereits bestehender Strukturen wirkt und so deren Grenzen überschreitet bzw., im Idealfall, öffnet. Institutionelle Strukturen gibt es in der Kirche insgesamt schon genug - auf die "westliche Welt" und vielleicht insbesondere auf Deutschland bezogen würde ich sagen: mehr als genug - als dass man ihnen partout noch weitere hinzufügen müsste. Sicherlich ist es ratsam und wünschenswert, dass einzelne lokale #BenOp-Initiativen sich untereinander vernetzen, aber dazu braucht es keine eigene, verbandsförmig aufgebaute "Makrostruktur""Die neue Gesellschaft in der Hülle der alten aufbauen", das war das Motto der anarcho-syndikalistischen "Industrial Workers of the World", das Peter Maurin kurzerhand für die Catholic Worker-Bewegung übernahm, und sinngemäß taugt es, für mein Verständnis jedenfalls, auch als Motto für die #BenOp

Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen sehe ich insbesondere die "Ordnung für die Katholische Charismatische Gemeindeerneuerung im Bereich der deutschen Bischofskonferenz" (S. 63-68) ausgesprochen kritisch, aber dazu habe ich mich ja vor ein paar Wochen bereits geäußert; und die obigen Überlegungen angeregt zu haben, ist ja schließlich auch eine verdienstvolle Leistung. Wie ich ebenfalls schon angemerkt habe, findet sich in Teilen des Baumert-Bandes, so vor allem im Abschnitt "Wege in die Praxis" (S. 51-57) des Grundlagenpapiers "Der Geist macht lebendig", so Manches, was eine "graswurzelartig" organisierte Gemeindeerneuerungs-Initiative als Argumentationshilfe bzw. als eine Art "Legitimation" in der Auseinandersetzung mit Hauptamtlichen, Gremien oder einfachen Gemeindemitgliedern nutzen könnte, die solchen Ansätzen eher ablehnend oder skeptisch gegenüberstehen oder denen solche Organisationsformen zumindest fremd sind; insofern sind diese Passagen also in einem ganz unmittelbar praktischen Sinne #BenOp-relevant, und allein das sichert diesem Band eine gute Platzierung auf meiner Rangliste. Viel Bedenkenswertes enthält andererseits auch der Abschnitt "Gefahren" (S. 57-60), wobei ich lobend hervorheben möchte, dass die Warnung vor "Fundamentalismus" mit einer deutlichen Abgrenzung gegenüber einem inflationären und tendenziösen Gebrauch des "Fundamentalismus"-Vorwurfs verbunden wird. Dies wiederholt sich übrigens in der Pastoralen Erklärung zur katholischen Charismatischen Erneuerung aus den USA, die ein eigenes Unterkapitel "Fundamentalismus" enthält (S. 82f.).

Aus dieser vom "Bischöflichen Verbindungsausschuss für die katholische Charismatische Erneuerung" der US-Bischofskonferenz erarbeiteten pastoralen Erklärung möchte ich noch ein paar Passagen zitieren, die mir einen bemerkenswert selbstkritischen Blick auf die volkskirchliche "Normalität" zu verraten scheinen: 
"Wenn manche Menschen meinen, Gott habe für ihr Leben keine Bedeutung mehr, liegt ein Grund dafür in dem Fehlen einer lebendigen christlichen Gemeinschaft, in der sie Gottes Gegenwart und Kraft erfahren und wo sie sehen und hören können, wie das Evangelium verkündet und ursprünglich gelebt wird." (S. 74)  
"Da man durch die Charismatische Erneuerung entdeckt hat, daß der Glaube [...] in einer persönlichen Beziehung zu Gott und den Brüdern und Schwestern besteht, ist in vielen eine neue geistliche Wachheit und ein geistlicher Hunger erwacht. Es mal vorkommen, daß solche Leute zu der Überzeugung gelangen, in ihren Pfarreien die Nahrung und die Gemeinschaft nicht finden zu können, nach der sie ein echtes, berechtigtes Bedürfnis haben. Wenn sie sich anderen Quellen zuwenden, von denen sie genügend Hilfe erhoffen, verlassen einige dann die Kirche. [...] Diese Leute wollen Nahrung und Gemeinschaft und den Bedürfnissen die sie wahrnehmen zu entsprechen und sie gehen dorthin wo sie sie erfüllen können." (S. 78f.) 
Zitierwürdig finde ich auch die Feststellung von Bischof (jetzt Kardinal) Paul Cordes, dass die Neuen geistliche Bewegungen sich darin von stellen "andere[n] nachkonziliare[n] Artikulierungen der Laienrealität" (schön gesagt, nicht?) unterscheiden, dass sie keinen "Anspruch auf eine neue, innerkirchliche Führungsschicht und auf Veränderung der sakramental grundgelegten Kirchenstruktur" stellen (S. 138). Ebenfalls im Vortrag von Bischof Cordes - gehalten auf einer Konferenz der Dechanten des Erzbistums Köln vom 26.-28.11.1984 in Bad Honnef - findet sich ein Hinweis auf ein Interview, das none other than Karl Rahner kurz vor seinem Tod der Herder-Korrespondenz gab -- und das ich ziemlich sensationell finde, da der bekanntlich vor allem in "progressiven" Kreisen hoch gehandelte "große Konzilstheologe" darin gewissermaßen die #BenOp prophezeit: Man müsse, so fordert er da,
"'blühende Oasen... schaffen, auch wenn dadurch menschlich, seelsorglich, ekklesiologisch gesehen viele und weite Wüstenzwischenräume' blieben. Und ein wenig weiter bekräftigte er erneut: 'Schafft doch diese lebendigen, radikal zusammenhaltenden, die Gemeinden der Urkirche neu lebendig machenden Gemeinden, die ein besonderes Sendungsbewußtsein haben, die sich ganz anders empfinden als die übrige Welt'." (S. 148, Binnenzitate aus: Herder-Korrespondenz April 1984, S. 165-171). 
Alles in allem muss man sagen, das Buch hat seine Längen, es ist nicht gerade fesselndes und mitreißendes Lesefutter, aber die Lektüre lohnt sich. 

  • Carlo Carretto: Wir sind Kirche 
Ich will es mal so ausdrücken: Über zwei Jahre lang stand dieses Buch bei mir im Regal und hat auf den richtigen Moment gewartet, von mir gelesen zu werden. Ich bin hellauf begeistert -- so sehr, dass es mir schwer fällt, genau zu erläutern, warum eigentlich. Mir ist klar, dass es sonderbar wirken muss, wenn ich ausgerechnet das in meinen Augen eindeutig beste der in der Adventszeit gelesenen Bücher hier am kürzesten abhandle, aber ich kann's nicht ändern. Ich kann nur dazu ermutigen, es selber zu lesen. Sofern es im Online-Buchhandel  noch greifbar ist.

Okay, ein paar Andeutungen darüber, was an diesem Buch so großartig ist, muss ich wohl doch loswerden. Das Thema des Buches ist Familie als Berufung, und das ist natürlich ein ganz großes #BenOp-Thema. Soweit es in diesem Zusammenhang um geschlechtliche Liebe, Intimität und die Stellung der menschlichen Sexualität im Gesamtkontext der Schöpfungsordnung geht, kann man Carrettos Thesen geradezu als eine Art "Theologie des Leibes" avant la lettre bezeichnen. Und der Autor kann ziemlich scharf werden, wenn er die Auffassung tadelt, körperliche Dinge hätten in der Religion nichts zu suchen:
"Als ob der Mensch keinen Körper hätte und dieser Körper nicht eine wunderbare Schöpfung Gottes wäre!
Eine fromme Generation, die sich schämte, von der Toilette zu sprechen als etwas, was der Würde des Menschen nicht zukommt. Die meiner Cousine beibrachte, daß die Schwestern nie aufs Klo gehen, weil sie sich nur vom Gebet ernähren!" (S. 69f.) 
Sexuelle Lust, so betont Carretto, hat ihren Platz in der Schöpfungsordnung Gottes, aber als Mittel, nicht als letztes Ziel der geschlechtlichen Vereinigung: 
"[E]s gab ein Gesetz in ihrem Reich, das der Gesetzgeber festgelegt hatte: göttliche Harmonie. Der Mensch konnte die Dinge besitzen, aber in der vorgesehenen Ordnung, gemäß einem festgelegten Ziel. 
Er konnte die Speise nehmen, aber für das Leben. Die Freude an der Speise war eine Folge, nicht das Ziel. 
Er konnte die Frau zur Fortpflanzung des Lebens haben. Die Freude, eine Frau zu haben, war eine Folge, nicht das Ziel. Und genauso umgekehrt. Jeder Genuß war ein Mittel, nicht das Ziel, eine Folge, nicht ein Beginn. Etwas, was in das Handeln des Menschen eine größere Elastizität bringt, aber nicht Ziel seines Suchend ist. Mit anderen Worten: Zuerst Gott, dann der Mensch. Zuerst sein Wille, dann der Wille des Menschen. Zuerst die Liebe zu Gott, und dann die Liebe zum Menschen." (S. 123f.) 
Den Aufschrei, den manch ein potentieller Leser, der es gewohnt ist, die Autonomie des Individuums als das höchste aller Güter zu betrachten, angesichts dieser Zeilen ausstoßen würde, kann ich mir schon selber ausmalen, herzlichen Dank. Wie bitte, Fortpflanzung soll der eigentliche Zweck der Sexualität sein? Wie bitte, Ernährung soll der eigentliche Zweck des Essens sein? Tja, sorry, wenn dir das missfällt, Schneeflöckchen Weißröckchen, aber #isso

Ein anderer sehr bedeutsamer Aspekt des Buches ist der Zusammenhang von Familie und Apostolat. Christliches Familienleben, wie Carretto es sich vorstellt und wünscht, ist Erziehung zum Apostolat, Schulung fürs Apostolat. Gerade diesen Aspekt empfinde ich als zentral für die #BenOp-Relevanz des Bändchens. Es ist eben ein Irrtum, ein Missverständnis, in der Benedikt-Option eine rein defensive Strategie zu sehen, eine Abschottung von der Welt und somit eine Verweigerung gegenüber dem Auftrag Jesu "Gehet hin in alle Welt und macht alle Menschen zu meinen Jüngern". Im Gegenteil, die Schaffung von "Oasen des  Glaubens", wie die #BenOp sie fordert - und die sich insbesondere auch in der christlichen Familie verwirklichen soll - soll buchstäblich die Basis für eine fruchtbringende Neuevangelisierung sein. "Wir müssen eine apostolische Familie aufbauen", schreibt Carretto. "Wenn diese Familie in ein anderes Land zieht, ist es, als ob eine ganze Mission umsiedeln würde. Familie, Kirche im Kleinen und Bild der großen Kirche, die die Pfarrei ist, und von der größeren Kirche, die die Christenheit ist." (S. 91f.)

  • Herbert Scurla (Hg.): Auf Kreuzfahrt durch die Südsee 
Ein Teil einer umfangreichen Buchreihe über Entdeckungsreisen des 18. und 19. Jahrhunderts in Form kommentierter Auszüge aus Original-Reiseberichten von Expeditionsteilnehmern. In diesem Fall handelt es sich um Berichte von Georg Forster (1754-1794), Georg Heinrich von Langsdorff (1774-1852), Adelbert von Chamisso (1781-1838) und Ferdinand von Hochstetter (1829-1884) über Seereisen durch die pazifische Inselwelt im Zeitraum zwischen den 1770er und 1850er Jahren. Das Buch, bzw. die ganze Reihe, erschien in der DDR, somit kann man sich unschwer ausmalen, wie viel Wert auf die "richtige" ideologische Einordnung des Geschilderten gelegt wurde; möglicherweise gab sich der Herausgeber Herbert Scurla auch deshalb besonders viel Mühe damit, weil er als ehemaliger Nazi auch seine eigene ideologische Zuverlässigkeit unter Beweis stellen musste. Zum Teil treibt diese Beflissenheit recht skurrile Blüten, etwa wenn Scurla allen Ernstes die Frage aufwirft, was "der spätere Wortführer der französischen Revolution in Deutschland, Georg Forster", wohl zu den französischen Atomwaffentests in der Südsee sagen würde (S. 31). Aber wie dem auch sei: Die Reiseberichte selbst sind durchaus lesenswert. 

Es dürfte sich mehr oder weniger von selbst verstehen, dass mich unter den in diesem Buch verhandelten Themen der Aspekt der Christianisierung der Südseevölker besonders interessiert; bereits in der Einleitung des Herausgebers ist bezeichnenderweise von  "beutehungrigen Seefahrern und allzu aufdringlichen Missionaren" (S. 25) die Rede, und kurz darauf erfährt der geneigte Leser: 
"Mit den Stammeshäuptlingen konkurrierten Missionare um den Einfluß auf die eingeborene Bevölkerung. In Polynesien [...] waren um die Jahrhundertwende allein neun verschiedene protestantische Missionsgesellschaften tätig, mit denen von alters her ansässige katholische Missionare wetteiferten." (S. 26) 
Von solchen Verhältnissen konnte, als Georg Forster mit Kapitän Cook die Sozietäts- und Freundschaftsinseln besuchte, natürlich noch keine Rede sein. Dafür artikuliert der junge Herr Forster seine typisch aufklärerische Religionskritik aber im Zusammenhang mit der Darstellung der Angestellten Religion der Eingeborenen, und seine diesbezüglichen Äußerungen lassen auch Rückschlüsse auf seine Haltung zum Christentum zu. So schildert er auf S. 116 einen alkoholabhängigen heidnischen "Priester" und merkt an: 
"[S]o wird es dem Anschein nach auch hier schon darauf angelegt, die Religion zum Deckmantel der Üppigkeit und des Wohllebens zu gebrauchen und auch diese Nation, gleich so vielen anderen, der Bequemlichkeit eines trägen, wollüstigen Pfaffen zinsbar zu machen."
Einige Zeit später macht Forster sich Gedanken über den Ursprung der verschiedenen Religionen und geht dabei von der Vorstellung einer 'Urreligion' aus, in der "sich Gott den Menschen unmittelbar offenbarte" (S. 168), die jedoch verlorengegangen bzw. im Laufe der Zeit verfälscht worden ist -- und zwar verfälscht in erster Linie von den Priestern, die nämlich "den allgemeinen Hang" ihrer Mitmenschen "zur Anbetung eines höheren Wesens [...] oft (ich möchte fast sagen: immer)" zu eigennützigen Zwecken missbrauchen; kurz, die Priester sind "Betrüger", die darauf aus sind, "die Verstandeskräfte des großen Haufens zu fesseln und sich denselben zinsbar zu machen" (S. 169). Müßig zu erwähnen, dass man ähnliche Theorien über den Ursprung der Religionen auch heute noch im Internet finden kann, mit dem Unterschied, dass Forster offenbar noch davon ausgegangen ist, dass es einen Gott gibt. 

Ebenfalls bezeichnend für die ideologische Brille, durch die der junge Herr Forster die pazifische Inselwelt bzw. deren Bewohner ansieht, ist der Umstand, dass er die Eingeborenen (die er übrigens beharrlich als "Indianer" bezeichnet) als unverdorbene Naturmenschen schildert, in denen er geradezu einen "Beweis von der ursprünglichen Güte des menschlichen Herzens" zu sehen meint, "das in dem sich selbst überlassenen Stande der Einfalt, von Ehrgeiz, Wollust und anderen Leidenschaften noch unverdorben, gewiß nicht böse ist" (S. 149). Wo er einräumen muss, dass es bei den Insulanern Sitten gibt, die er vom moralischen Standpunkt aus nicht gutheißen kann, verbindet er dies stets mit dem Hinweis, die vermeintlich so viel zivilisierteren und nominell christlichen Europäer seien auch nicht besser, wenn nicht sogar schlimmer. Ein besonders interessantes Beispiel hierfür ist eine Fußnote auf S. 160 im Zusammenhang mit Kindstötungen auf den Sozietätsinseln:
"Wie groß die Verderbnis der Sitten in Europa sei, kann man unter anderm daraus abnehmen, daß es zu London Buben gibt, die sich ihrer Geschicklichkeit in der Kunst, Abortantia zu präparieren, öffentlich rühmen und in diesem Fach ihre Dienste anbieten. Avertissements von solchem Inhalt werden auf den Straßen ohne Scheu ausgeteilt und finden sich auch in fast allen Zeitungen."
Nichts neues unter der Sonne, könnte man mit Blick auf heutige Auseinandersetzungen um den § 219a sagen. Stimmt aber nicht: Forster, obwohl nach den Maßstäben seiner Zeit ein ausgesprochener "Linker", konnte noch davon ausgehen, dass es keiner Begründung oder Erläuterung bedurfte, warum er Werbung für Abtreibung als ein Symptom sittlichen Verfalls ansah.

Ebenfalls bemerkenswert ist das leicht resignierte Bedauern, mit dem Forster die immer wieder auftretenden gewaltsamen Konfrontationen zwischen Cooks Crew und den Eingeborenen diverser Südseeinseln schildert. Wenngleich die Entdeckungsreisenden in grundsätzlich friedlicher Absicht kommen, können sie es nicht lassen, ihr Überlegenheitsgefühl gegenüber den "Wilden" auszuspielen und Respekt und gegebenenfalls sogar Gehorsam von ihnen einzufordern. Der junge Forster kann sich zwar nicht dazu überwinden, diese beanspruchte Überlegenheit grundsätzlich infrage zu stellen, stellt aber immerhin zuweilen Überlegungen an wie:
"[V]ielleicht kam es ihnen [= den Eingeborenen] gar unbillig und lächerlich vor, daß eine Handvoll Fremde sich's beigehen ließ, ihnen in ihrem eigenen Lande Gesetze vorzuschreiben." (S. 211) 
Noch mehr als der Aufklärer Forster sitzt der Romantiker Chamisso dem vulgär-rousseauistischen Konstrukt des 'Edlen Wilden' auf; Chamisso würde sich sogar gern tätowieren lassen, aber dieser Wunsch bleibt unerfüllt (S. 375). Zu bedenken ist, dass Chamisso rund 40 Jahre nach Forster in die Südsee kommt und dort Eingeborene antrifft, die inzwischen schon mit allerlei Abgesandten und Produkten der westlichen Zivilisation in Kontakt gekommen sind; und so neigt Chamisso dazu, alle schlechten Eigenschaften, die er an den Südseebewohnern wahrnimmt, dem Einfluss ebendieser Zivilisation zuzuschreiben -- auch und besonders dem Einfluss christlicher Missionare. Ein paar einschlägige Passagen habe ich unlängst bereits zitiert; im Rückblick auf seinen zweiten Aufenthalt auf Hawaii bemüht sich Chamisso um ein differenzierteres Urteil, oder zumindest darum, beim Publikum nicht als Verächter des Christentums dazustehen: "Zu einer Parteifrage sind die Missionen geworden, [...] und ich gehöre keiner Partei an", betont er (S. 391). Dass er, "gewichtigere Beschuldigungen fallenlassend", die Einschätzung äußert, "daß das Missionsgeschäft geistlos auf O-Waihi betrieben wird, wo noch kein Fortschritt in der geselligen Ordnung das Aufgehen des Geistes beurkundet hat", mag durchaus seine Berechtigung haben; zumindest der Aussage "Die stille Feier des Sabbats und der erzwungene Besuch der Kirche und der Schule sind noch das Christentum nicht" (ebd.) ist kaum zu widersprechen. Wenn Chamisso indes betont, als "Mann des Fortschrittes" schätze er gleichwohl den "Geist des Christentums mit seinen Segnungen", dann liegt der Verdacht nahe, dass es sich bei diesem "Geist des Christentums" um eine aufklärerische Abstraktion handelt, die mit dem eigentlichen christlichen Glauben nicht verwechselt werden darf. 

Ein Thema für sich ist die Beinahe-Ausrottung des Volkes der Chamorro, der Urbevölkerung der Marianen. In der Einleitung des Herausgebers heißt es, die Chamorro hätten sich "der Missionierung durch die Jesuiten und der kolonialen Unterjochung durch die Spanier" widersetzt (S. 24); da wird mal eben nonchalant so getan, als wäre beides mehr oder weniger dasselbe. Aber auch Chamisso schreibt anlässlich seines Besuchs auf den Marianen:
"Die römischen Missionare haben hier ihr Kreuz aufgepflanzt; dem sind 44 000 Menschen geopfert worden, und deren Reste, vermischt mit den Tagalen, [...] sind ein stilles, trauriges, unterwürfiges Völklein geworden" (S. 401f.). 
Was genau ist da passiert? Einige Seiten weiter spricht Chamisso vom "Selbstmord [!] des Volkes der Marianen", gibt daran aber wiederum den Spaniern in ihrer Eigenschaft als "Boten des Evangelii" die Schuld (S. 417). Auch Tante Wiki ist hier keine Hilfe: Dort heißt es lediglich, die spanische Herrschaft auf den Marianen sei "von zahlreichen teilweise gewaltsamen Missionsversuchen geprägt" gewesen. 

Ferdinand von Hochstetter, der die Südsee weitere vier Jahrzehnte nach Chamisso bereiste, erwähnt nur beiläufig "nordamerikanische Missionare" (S. 450), aber ohne deren Tätigkeit irgendwie zu kommentieren oder zu beurteilen; vielleicht hätte er mehr zu diesem Thema zu sagen gehabt, wenn der auf der Karolinen-Insel Poynipet (Pohnpei) niedergelassene Missionar nicht während Hochstetters nur Stunden dauernden Besuch auf dieser Insel "gerade [...] abwesend" gewesen wäre (S. 460). Immerhin erwähnt er, dass dieser Missionar "ein Eingeborener von den Sandwich-Inseln" sei (ebd.) -- ein anekdotischer Beleg für die schon in der Einleitung des Herausgebers enthaltene Angabe, in Polynesien  sei "die Christianisierung zum großen Teil von bekehrten Eingeborenen selbst durchgeführt" worden (S. 26). Was ja auch ein bemerkenswertes Faktum ist. 

Insgesamt erinnern mich die Debatten über die Frage, ob der Einfluss christlicher Missionare auf die Südseeinsulaner wohltätig oder eher schädlich sei, an die verschiedenen Fassungen von Karl Mays Südsee-Erzählung "Der Ehri"; vielleicht komme ich mal darauf zurück, wenn ich mal Zeit habe. 

  • Patrick Heiser/Christian Kurrat (Hg.): Pilgern gestern und heute 
Meine Erwartungen an dieses Buch waren von vornherein von einer gewissen Skepsis geprägt, aber tatsächlich ist es noch viel schlechter als ich erwartet hätte. Das Buch scheint wie dafür gemacht, alle erdenklichen Negativ-Urteile über die Soziologie im Allgemeinen (vgl. dazu Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend, S. 123-129) und die Religionssoziologie im Besonderen zu bestätigen. Dabei sind die tendenziell ärgerlichsten Einzelbeiträge - "Über das Pilgern. Soziologische Analysen einer Handlungskonfiguration" von Rainer Schützeichel (S. 19-43), "Pilgern als Metapher moderner Religiosität" von Norbert Puschmann (S. 45-73) und vor allem "Der 'alte' und der 'neue' Pilger" von Michael N. Ebertz (S. 91-112) - zugleich noch am ehesten diejenigen, die wenigstens in Teilaspekten etwas Interessantes enthalten. So verweist Schützeichel auf das von dem britischen Anthropologen Victor Turner entwickelte Konzept der "Anti-Struktur":
"'Anti-Struktur', das sind jene primordialen Formen sozialer Beziehung, die Turner unter den Begriff der Communitas fasste. 'Anti-Strukturen' sind nicht unstrukturierte Gebilde, sondern sie stellen gegenstrukturell organisierte Prozesse gegen vorherrschende, dominante Strukturen dar" (S. 26). 
Die darauf folgenden Ausführungen legen nahe, dass Turners "Communitas"-Begriff sich bei näherer Betrachtung als durchaus #BenOp-relevant erweisen könnte, gerade in Hinblick auf die weiter oben im Zusammenhang mit Baumert angesprochene Abgrenzung "graswurzelartiger" Selbstorganisation von "verbandsförmiger" Institutionalisierung. "Jede Religion baut in ihre institutionalisierten Strukturen Enklaven ein, die bestimmten Anti-Strukturen oder Communitas-Formen vorbehalten sind", heißt es etwa auf S. 32. Schade, dass das nicht weiter vertieft wird, aber vielleicht sollte ich daraus den Schluss ziehen, mir mal eins von Turners eigenen Werken zu Gemüte zu führen, beispielsweise "Das Ritual: Struktur und Anti-Struktur".

Puschmann beschreibt - für mein Empfinden arg unkritisch, aber in der Sache wohl doch recht treffend - eine konsumorientierte Anspruchshaltung gegenüber einer als Dienstleister verstandenen Kirche: 
"Die Loslösung von den Kirchen und ihren Doktrinen und Dogmen bedeutet aber noch keine Abwendung von den Kirchen. Ihre Leistungen bleiben gefragt. [...] Insbesondere sind passagerituelle Serviceleistungen der Kirchen von Relevanz, wobei konfessionelle Differenzen immer weniger eine Rolle spielen und auch Kombinationen aus verschiedenen Deutungstraditionen miteinander verschmelzen [...]. Das Zusammenbasteln von Glaubensvorstellungen erlaubt dem Individuum eine flexible Anpassung an die Gegebenheiten seiner Existenz." (S. 54) 
Gleichzeitig problematisiert er aber die gängige These vom "Wettbewerb" auf einem religiösen "Markt": 
"Wenn uns aber gesagt wird, 'Religionen stehen untereinander in Wettbewerb' [...], kann dies nicht ohne weitere Überlegun-[59]gen hingenommen werden. Wenn man sagt, der 'Markt' wäre 'Träger religiöser Inhalte' und fungiere als Gemeindeersatz, vermischt man unterschiedliche Kategorien. Selbst wenn man tatsächlich von der Existenz eines 'Marktes', eigentlich nicht mehr als ein volkswirtschaftstheoretisches und zudem stark ideologisiertes Konstrukt, ausgehen könnte, treten die Marktteilnehmer dort nicht 'unkonditioniert' [...] in Erscheinung. Für die Religion in Bewegung, für den religionsfernen, gar den religionsfreien Wanderer und Touristen besteht hingegen die Wahlfreiheit des Konsumierenden." (S. 58f.)
Puschmann bezieht sich hier auf eine Publikation von Aline Sommer und Marco Saviano mit dem Titel "Spiritueller Tourismus", Berlin 2007; möglicherweise könnte es sich lohnen, da auch mal einen Blick hinein zu werfen. -- Ebenfalls, sagen wir mal, "potentiell interessant" ist es, dass Puschmann sich in seinen Reflexionen über den Pilger als Metapher auf Zygmunt Baumans Gegenüberstellung des (vormodernen, insbesondere mittelalterlichen) Pilgers und des (modernen bzw. postmodernen) Flaneurs bezieht; Bauman ist nicht von ungefähr einer der bedeutendsten Gewährsmänner für Rod Drehers Kritik der Postmoderne. Zwar weiß Puschmann aus Baumans Thesen eher wenig zu machen, was vielleicht nicht zuletzt daran liegt, dass er dessen fortschrittsskeptische Perspektive nicht teilt; trotzdem hier ein Exzerpt:
"Baumans spielerischer Flaneur liefert das Bild, das dasjenige des Pilgers ablösen soll: Er flaniert ziellos durch die Einkaufsmeilen des Lebens. Seine Freiheit ist die Wahlfreiheit des Konsumenten. Sein Leben besteht aus einer Aneinanderreihung von Spielen; jedes mit eigenen Regeln, jedes mit 'neuen' eigenen Regeln." (S. 68)" 
Und wenn Puschmann in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass "der Weg des Pilgers [...] nur einer von vielen möglichen Wegen" sei und dass "statt seiner" beispielsweise auch "der Appalachian Trail oder der Berlin-Marathon gewählt werden" könne (S. 71), dann fällt mir wieder Christine Thürmer ein, die es mit ihrem Buch "Laufen. Essen. Schlafen." nicht in die Top 25 der #BenOp-relevanten Lesefrüchte des zurückliegenden Kirchenjahres geschafft hat, und dann weiß ich wieder, warum nicht. Auch was wert.

Michael N. Ebertz weiß allerlei Interessantes über die "symbolische Sinnwelt des Christentums" (S. 93), wie sie sich in der vormodernen Pilgerpraxis zeigt, zu sagen, und auch seine Ausführungen über die Kritik der Aufklärer am Pilgerwesen (exemplarisch: Friedrich Nicolai, "Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781") sind gar nicht uninteressant; äußerst ärgerlich ist hingegen, dass Ebertz es sich nicht verkneifen kann, immer mal wieder seine eigenen kirchenfeindlichen Ressentiments durchblicken zu lassen -- was, ich erwähnte es schon, umso mehr befremdet, als Ebertz nicht nur Soziologe, sondern auch katholischer Theologe ist, an der Katholischen Hochschule Freiburg lehrt und das "Zentrum für kirchliche Sozialforschung" (ZEKIS) leitet. Ach ja, und Mitglied im "ZdK" ist er auch. Keine weiteren Fragen, Euer Ehren. Wenn der Autor etwa die zahlreichen Heiligsprechungen unter dem Pontifikat des Hl. Johannes Paul II. als Anzeichen dafür deutet, "wie die römisch-katholische Kirche den unausrottbaren ubiquitären Wunderglauben zu fördern und zugleich auch unter Kontrolle zu bringen versucht" (S. 101f.), verlässt der Autor recht eindeutig den Boden seriöser Wissenschaft -- und setzt auf S. 102 prompt noch eins drauf: "Die zentrale römisch-katholische Kirchenleitung ist offensichtlich bemüht, alles daran zu setzen, das religiöse Massenphänomen der Wunderglaubensbereitschaft auch im heutigen globalen religiösen Wettbewerb nicht anderen Konkurrenten zu überlassen". Na herzlichen Dank. 

Dagegen ist der beiweitem umfangreichste, vier Einzelbeiträge umfassende Abschnitt "Pilgern heute: Empirische Befunde zum Jakobsweg" (S. 113-220) größtenteils schlicht banal. Schon im Vorwort der Herausgeber, und im weiteren Verlauf des Buches dann immer wieder, ist vom "Kerkeling-Effekt" die Rede, also von dem Popularitätsschub des Pilgerns auf dem Jakobsweg gerade in der deutschsprachigen Öffentlichkeit, der durch Hape Kerkelings "Ich bin dann mal weg" - das "erfolgreichste Sachbuch aller Zeiten" (S. 9) - ausgelöst wurde; und nach und nach drängt sich der Eindruck auf, auch und nicht zuletzt dieser soziologische Forschungsband selbst verdanke seine Existenz diesem "Kerkeling-Effekt". Mehr oder weniger geht das ganze Buch von der Prämisse aus, an modernen Erscheinungsformen des Pilgerns auf dem Jakobsweg lasse sich exemplarisch eine "Transformation des Religiösen" aufzeigen, nämlich ein Bedeutungsverlust dogmatisch festgelegter und institutionalisierter Religiosität zugunsten einer undogmatischen individuellen "Spiritualität": "Der Typ des 'neuen Pilgers' ist nicht mehr 'fromm', vielleicht auch nicht mehr 'religiös', sondern 'spirituell'", meint etwa Ebertz (S. 104). Ich will nicht grundsätzlich leugnen, dass da tendenziell etwas dran ist, aber die Herren und Damen Soziologen scheinen sivb da ein wenig zu sicher zu sein. Dass es sich um eine A-priori-Annahme handelt, leugnen  sie gar nicht erst: "Scheint die Wiederkehr des Pilgertums doch so gar nicht in eine säkularisierte Gesellschaft zu passen, die durch immer mehr Kirchenaustritte und immer weniger Gottesdienstbesuche gekennzeichnet ist", heißt es schon im Vorwort der Herausgeber (S. 11). Wie viel Wunschdenken in dieser Einschätzung steckt, zeigt exemplarisch eine Einlassung von, natürlich, Michael N. Ebertz: 
"Wenn nicht alles täuscht, kann in einer Situation der religiösen Unbestimmtheit und Offenheit, der unhintergehbaren Pluralität und Relativität nur noch das Suchen und Fragen, nicht mehr die Sicherheit des Habens und die Gewissheit von Antworten die wahrscheinlichere und allgemeinere Haltung gegenüber dem Transzendenten und gegenüber dem 'Deszendenten', also auch gegenüber der christlichen Tradition von Mensch geworden Gott, sein. Wenn die christlichen Kirchen dies ernst nehmen, dann müssten sie auch resonanzfähiger werden für die Suchenden und Fragenden und sich vielleicht selbst weniger als Kirchen der Antworten, sondern stärker als Kirchen der Fragen, als 'pilgernde Kirchen', als Gemeinschaften von Suchenden und Fragenden verstehen." (S. 109) 
Hättste wohl gerne, ZdK-Fuzzi. -- Und ebenso wie ein Zauberkünstler auch nur das Kaninchen aus dem Hut zaubern kann, das er vorher selbst hineingesteckt hat, neigen die Autoren des Bandes in typisch zirkelschlüssiger Manier dazu, Fakten, die nicht zu ihrer These passen, zu übersehen oder zumindest unterzubewerten. So wird etwa die kirchliche Herbergsbewegung im "Geist von Grañón" mit keinem Wort erwähnt, ganz zu schweigen von den singenden Nonnen von Carrión de los Condes oder der vom spanischen Ableger von "Campus für Christus" betriebenen "Fuente del Peregrino" in Ligonde. Äußerst enttäuschend! Etwas über 40 Seiten vor Schluss habe ich die Hoffnung, dass da noch etwas Interessantes kommen könnte, aufgegeben und die Lektüre abgebrochen.

Soweit also der Stand der Dinge! Sollte bzw. wollte ich diese sechs Bücher nach dem puren Lesevergnügen bewerten, das sie mir beschert haben, würde Karl Mays "Weihnacht!" mit Carlo Carrettos "Wir sind Kirche" um die Spitzenposition konkurrieren, auf dem dritten Platz würde, mit einigem Abstand, "Auf Kreuzfahrt durch die Südsee" folgen und dann eine ganze Weile gar nichts mehr. Will ich hingegen die #BenOp-Relevanz bewerten, dann muss ich anerkennen, dass sowohl "Jesus ist der Herr" als auch "Umkehr - Heiligung - Freude in Gott", so mühsam die Lektüre zumindest phasenweise war (zum Ende hin haben beide Bücher mich extrem gelangweilt), doch deutlich mehr wertvolle Anregungen für die alltägliche Basisarbeit im Dienste einer christlichen Graswurzelrevolution enthalten als Mays Roman. Die Rangliste der #BenOp-relevanten Lesefrüchte des neuen Kirchenjahres sieht somit vorläufig aus wie folgt: 

1. Carlo Carretto: Wir sind Kirche 
2. Norbert Baumert (Hg.): Jesus ist der Herr 
3. Sr. M. Lucia OCD (Hg.): Umkehr - Heiligung - Freude in Gott  
4. Karl May: "Weihnacht!" 

Die anderen beiden Bücher haben sich nicht für diese Rangliste qualifiziert; dem Südseebuch würde ich durchaus, zumindest vorläufig, einen Platz im Büchereiregal einräumen, dem Pilgerbuch hingegen höchstens einen Platz in der Altpapiertonne. Da ich es nicht zu Ende gelesen habe, hat es eigentlich überhaupt keinen Anspruch, in der 100-Bücher-Challenge mitgezählt zu werden, was also bedeuten würde, dass ich jetzt noch 95 (statt nur noch 94) Bücher lesen muss. Na, im allergrößten Notfall kann ich ja noch einmal einen Anlauf unternehmen, mich durch die verbleibenden Seiten zu quälen. 

Was die Rangliste nicht verrät, sind die "gefühlten Abstände" zwischen den Platzierungen. Tatsächlich liegt Carretto nämlich so weit vorn, dass ich ihm schon jetzt gute Aussichten auf eine Top-10-Platzierung in der Jahreswertung zu attestieren wage. Von "Jesus ist der Herr" und "Umkehr - Heiligung - Freude in Gott" erwarte ich hingegen eher, dass sie ein gutes Stück weiter nach hinten durchgereicht werden. Auch wenn das heißt, dass Karl May noch weiter nach hinten durchgereicht wird. Ich hoffe aber, dass er sich dennoch bis zum Ende des Kirchenjahres in den Top 25 wird halten können. Werfen wir nun noch einem Blick auf die...


Prognose für Etappe 2! 

Als nächstes stehen die folgenden Bücher auf meiner Leseliste: 

  • Martin Klein: Lene und die Pappelplatztiger 
Wie fast alle Bücher dieser Leseetappe ist dies ein Fundstück aus einer Büchertelefonzelle, ich weiß nicht mehr genau, aus welcher. Der Autor ist mit mir übrigens, soviel ich weiß, weder verwandt noch verschwägert. Es handelt sich um ein Jugendbuch, die Titelfigur ist ein Mädchen, das gern Fußball spielt und sich deshalb darum bemüht, die Anerkennung einer Jungs-Clique zu erringen, die den nahegelegenen Bolzplatz "beherrscht". Beim ersten Blick auf den Buchtitel stellte ich mir vor, es gehe womöglich um den Pappelplatz an der Invalidenstraße in Berlin-Mitte, aber das scheint doch nicht der Fall zu sein. 

  • Mikkjel Fønhus: Wölfe 
Dieses Buch habe ich Mitte Oktober, wenn ich mich richtig erinnere, aus der Büchertelefonzelle auf dem Edeka-Parkplatz am Eichborndamm mitgenommen, ohne eine klare Vorstellung davon zu haben, worum es sich handelt. Wie ich inzwischen ermittelt habe, ist bzw. war der 1973 verstorbene Autor Norweger und vor allem für seine Naturschilderungen bekannt, das vorliegende Werk erschien im Original 1933 und auf Deutsch 1935, und bei wem diese Jahreszahlen bestimmte Assoziationen wecken, der hat womöglich nicht ganz Unrecht, denn es scheint tatsächlich, dass Fønhus' Popularität in Deutschland sich so ziemlich auf die Zeit des Nationalsozialismus beschränkte. Was sagt das über die Qualität bzw. die weltanschauliche Tendenz dieses Buches aus? Schauen wir mal. 

  • Georg Friedrich Rebmann: Ideen über Revolutionen in Deutschland 
Ebenfalls ein Beutestück aus einer Büchertour im vergangenen Oktober, und hier weiß ich noch genau, dass ich es in der Büchertelefonzelle in der Osloer Straße entdeckt habe. Der vordere Buchdeckel und die ersten acht Seiten fehlten, aber irgendwie trug das für mich - in Verbindung mit dem Titel - nur dazu bei, das Buch geheimnisvoller und faszinierender erscheinen zu lassen. Es handelt sich um eine Auswahl aus dem publizistischen Werk eines Autors, dessen zentrales Anliegen es war, die Ideen der Französischen Revolution nach Deutschland zu importieren. Ideologisch steht der radikale Aufklärer und berüchtigte Religionsverächter Rebmann somit allem Anschein nach tief im feindlichen Lager; trotzdem oder gerade deswegen könnte dieses Buch ausgesprochen anregend und lehrreich sein, nicht nur in historischer Perspektive, sondern auch, um die eine oder andere Ecke gedacht, mit Blick auf die Gegenwart und absehbare Zukunft. 


  • Reinhold Schneider: Las Casas vor Karl V. 
Bei der Erstellung meines Leseplans für das neue Kirchenjahr habe ich mich darum bemüht, dass in jeder Leseetappe wenigstens ein "mutmaßlich rechtgläubiges" Buch vertreten sein sollte; und für diese Etappe nimmt Reinhold Schneider diese Planstelle ein. Allerdings muss ich gestehen, dass ich, nachdem ich sein Vorwort zu Jochen Kleppers Tagebüchern gelesen habe, Reinhold Schneider gegenüber sehr negativ voreingenommen bin. Das war vorher, als ich nur ein paar Gedichte von ihm kannte, ganz anders. Man darf gespannt sein, in welche Richtung die erstmals 1938 erschienene Erzählung "Las Casas vor Karl V." - mit dem Untertitel "Szenen aus der Konquistadorenzeit" - meine Meinung über den Autor verschiebt. Ich glaube übrigens, dass dieses Buch aus einer Spende für das Büchereiprojekt in Herz Jesu Tegel stammt, aber absolut sicher bin ich mir nicht: Eventuell habe ich es doch aus einer Büchertelefonzelle. 


  • George Orwell: Mein Katalonien 
Orwells Schilderung seiner Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg habe ich, wenn ich mich richtig erinnere, in der Büchertelefonzelle auf dem Edeka-Parkplatz am Eichborndamm aufgegabelt, und ich verspreche mir aus mehreren Gründen eine ganze Menge davon. Zum einen bin ich überzeugt, dass der Spanische Bürgerkrieg in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts eine bedeutende ideologiegeschichtliche Wasserscheide darstellt, aber "aus deutscher Sicht" (wie die Sportjournalisten sagen) tief im Schatten des darauffolgenden Zweiten Weltkriegs steht und daher in seiner Bedeutung massiv unterschätzt wird. Folgerichtig weiß auch ich viel weniger darüber, als mir lieb wäre, und ich freue mich auf die Gelegenheit, meine Kenntnisse aufzubessern. Zudem verspricht Orwells Perspektive auch deshalb besonders interessante Aufschlüsse, weil seine Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg ihn zu einem entschiedenen Gegner des Stalinismus machten, was sich später in seinen wohl bekanntesten Werken "Animal Farm" und "1984" niederschlug. Als Bonus sei erwähnt, dass eine geschätzte Freundin, die einerseits ausgesprochen strenggläubig katholisch ist, andererseits aber auch deutliche Sympathien für manche gemeinhin als "links" eingeordnete politische Positionen hegt, den daraus resultierenden Zwiespalt gern augenzwinkernd als ihren "inneren Spanischen Bürgerkrieg" bezeichnet, und das ist etwas, womit ich ziemlich mich gut identifizieren kann... 

Was aber mag nun von dieser zweiten Etappe in Hinblick auf die Gesamtrangliste zu erwarten sein? -- Alles in allem sehe ich vorerst keine ernsthafte Konkurrenz für Carlo Carrettos Spitzenposition, und es erscheint auch einigermaßen fraglich, ob in die Treppchenplätze der Rangliste Bewegung  kommt. Genauer gesagt bin ich mir bei keinem dieser Bücher sicher, ob sie überhaupt Anspruch auf #BenOp-Relevanz werden erheben können; die größten Chancen sehe ich intuitiv bei Orwell, bin aber in alle erdenklichen Richtungen auf Überraschungen gefasst.


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