In rund drei Wochen sind Pfarrgemeinderatswahlen im Erzbistum Berlin, und gemäß § 9, Absatz 2 der Wahlordnung "sollten" die Kandidaten eigentlich im Rahmen einer Pfarrversammlung Gelegenheit haben, sich den Wählern vorzustellen. Ich habe allerdings noch keinerlei Anzeichen dafür bemerken können, dass in unserer Pfarrei eine solche Versammlung geplant wäre. Vermutlich geht man davon aus, dass es sowieso keine Sau interessiert. Wenn das mal keine self-fulfilling prophecy ist.
Laut Satzung sollte der Pfarrgemeinderat unserer Pfarrei zwölf Mitglieder haben, von denen acht von der Gemeinde gewählt werden; es gibt aber nur sechs Kandidaten. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie sich dieser Umstand auf die Rechtsgültigkeit der Wahl und die Beschlussfähigkeit des Gremiums auswirken könnte, aber klar scheint zu sein, dass ich keine Chance habe, nicht gewählt zu werden.
Warum tue ich mir das an? Sogar Rod Dreher meint, das sei ein Anzeichen für Masochismus. Aber ich bin nun mal ein entschiedener Anhänger des (wohl fälschlich) Mahatma Gandhi zugeschriebenen Mottos "be the change you want to see in the world". Und ich möchte, dass es immer noch eine katholische Kirchengemeinde vor Ort gibt, wenn meine Tochter alt genug ist, zur Erstkommunion und zur Firmung zu gehen. Und wenn sich in dieser Pfarrei nicht einige Dinge ganz grundlegend ändern, sehe ich dafür eher schwarz.
Um es auf den Punkt zu bringen: Ich bin überzeugt, wenn unsere Pfarrei nicht ihre sämtlichen Ressourcen darauf ausrichtet, Neuevangelisation zur obersten Priorität zu machen, dann wird sie die nächsten zehn Jahre nicht überleben; und ich möchte hinzufügen: dann verdient sie auch nicht zu überleben.
Würde ich diesen Satz so oder so ähnlich in einer Pfarrversammlung äußern (was natürlich voraussetzen würde, dass es eine gäbe), dann würde ich zwar nicht unbedingt damit rechnen, dass sich jemand traut zu fragen, was das denn überhaupt sein solle, diese Neuevangelisation; aber vorbereitet sollte man auf eine solche Frage allemal sein.
Eine griffige Kurzdefinition könnte lauten: Evangelisieren bedeutet, den Menschen die Frohe Botschaft Jesu Christi zu bringen; Neuevangelisation bedeutet, diese Botschaft an Orten, die eigentlich schon lange christianisiert waren, an denen das Christentum aber infolge der Säkularisierung auf dem absteigenden Ast ist, erneut zu verkünden. Den Auftrag zur Neuevangelisation - verstanden als einen Auftrag an das ganze Volk Gottes und nicht nur an einen kleinen Kreis "professioneller" Missionare - kann man implizit als eins der zentralen Anliegen des II. Vatikanischen Konzils betrachten; als ein wichtiges Dokument zu diesem Thema kann man auch das nachsynodale Schreiben Evangelii nuntiandi des Hl. Papstes Paul VI. von 1975 nennen, wenngleich der Begriff "Neuevangelisation" erst 1979 vom Hl. Papst Johannes Paul II. geprägt wurde. In seiner Enzyklika Redemptoris missio (1990) erklärte dieser Papst
"die Zeit für gekommen, [...] alle kirchlichen Kräfte für die neue Evangelisierung und für die Mission ad gentes einzusetzen [...]. Keiner, der an Christus glaubt, keine Institution der Kirche kann sich dieser obersten Pflicht entziehen" (RM 3).
Sein Nachfolger Benedikt XVI. errichtete 2010 den Päpstlichen Rat zur Förderung der Neuevangelisierung und berief 2012 eine Bischofssynode zum Thema "Neuevangelisierung für die Weitergabe des christlichen Glaubens" ein. Papst Franziskus schließlich ruft in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium (2013) dazu auf,
"auf dem Weg einer pastoralen und missionarischen Neuausrichtung voranzuschreiten, der die Dinge nicht so belassen darf wie sie sind. Jetzt dient uns nicht eine 'reine Verwaltungsarbeit'. Versetzen wir uns in allen Regionen der Erde in einen Zustand permanenter Mission." (EG 25)
Erst kürzlich, nämlich am 29.06.2019, erinnerte der Papst in seinem Schreiben "An das pilgernde Volk Gottes in Deutschland" daran, "dass die Evangelisierung unser Leitkriterium schlechthin sein muss [...]; Evangelisieren bildet die eigentliche und wesentliche Sendung der Kirche".
Wenn die Neuevangelisation ein Auftrag an alle Gläubigen, an alle Institutionen und Strukturen der Kirche ist, dann gilt das auch für die Ortspfarreien und deren Gremien, Kreise und Gruppen. Aber wie soll man sich das praktisch vorstellen? -- Ich möchte hier ein Bild aufgreifen, das der kanadische Priester James Mallon in seinem Buch "Divine Renovation - Wenn Gott sein Haus saniert" verwendet:
"Die Kirche ist wie ein Fotokopierer. Er ist dazu da, [...] Kopien zu machen. Er tut das, indem er das Papier in sich hineinzieht. Das ist Evangelisierung. Dann druckt er, kopiert, stapelt und locht. Das ist Jüngerschaft [...]. Dann spuckt er das Papier mit dem aufgedruckten Wort aus, das dann losmarschieren und die Welt verändern kann. [...] Das ist missionieren. Die Kirche ist dann in ihrer Höchstform, wenn sie diesen Zyklus durchlebt. Sie evangelisiert, macht Jünger und sendet sie aus als Missionare, die losgehen und evangelisieren, um mehr Jünger zu machen, die getauft und gelehrt und schließlich wiederum ausgesandt werden können. Wenn die Kirche gesund ist, macht sie genau das. Wenn die Kirche nicht gesund ist, wenn sie sich in sich selbst zurückgezogen hat, dann hat sie ihre große Berufung vergessen, lumen gentium, Licht für die Welt zu sein [...]. In diesem Zustand des Vergessenhabens wird die Kirche wie ein überhitzter und verstopfter Fotokopierer, der in einer Ecke herumsteht, einstaubt und schließlich vergessen wird." (S. 39f.)
Ich gestehe, das Bild des nicht funktionierenden und darum verstaubt in der Ecke stehenden Fotokopierers drückt für mein Empfinden ausgesprochen treffend den Zustand der Pfarrei Herz Jesu Tegel aus. Das Schöne ist aber, dass dieses Bild auch eine Vision darüber enthält, wozu der olle Fotokopierer in der Lage wäre, wenn es nur erst gelänge, den Papierstau zu beseitigen. -- Um eine solche Vision in unserer Pfarrei auch nur ansatzweise zu verwirklichen, wird es nötig sein, hier so einiges auf den Kopf - oder, wohl richtiger gesagt, vom Kopf auf die Füße - zu stellen. Und natürlich hat man bei einem solchen Ansinnen immer mit Widerständen zu rechnen. Zum Teil sind diese menschlich sehr verständlich; gerade aus der Sicht derer, die in einer Pfarrei über einen längeren Zeitraum, sei es haupt- oder ehrenamtlich, verantwortliche Positionen ausgeübt haben, erscheint die Forderung, zukünftig alles ganz anders zu machen, leicht wie ein Vorwurf, ja wie eine Entwertung ihrer bisherigen Arbeit. Gemeindeerneuerung sollte jedoch darauf abzielen, diese Leute "mitzunehmen" und einzubinden, anstatt sie beiseite zu schieben und zu Gegnern zu machen.
Tatsächlich sind Schuldzuweisungen an einzelne Verantwortungsträger wenig zielführend. Die Probleme, mit denen sich die Kirche konfrontiert sieht, sind schließlich nicht spezifisch für eine einzelne Ortsgemeinde. Sicherlich gibt es - auch in unmittelbarer Nachbarschaft - Gemeinden, die oberflächlich betrachtet in einem besseren Zustand sind als unsere, allerdings nur insofern, als dort noch ausreichend personelle und materielle Ressourcen vorhanden sind, um wenigstens den Status quo aufrecht zu erhalten; um im Bild zu bleiben: Dort kopiert der Kopierer zwar auch nicht, sieht aber immerhin hübsch aus, und seine überhitzten Schaltkreise spenden behagliche Wärme. Bei uns hingegen ist der prekäre Zustand der Gemeindestrukturen so offensichtlich, dass keine Selbstzufriedenheit aufkommen kann, und ich halte das ohne Ironie oder Sarkasmus für einen Vorteil. Dass es ein "Weiter so" nicht geben kann, liegt auf der Hand; es gibt nur die Alternative, den Niedergang zu verwalten oder die letzten Kräfte zu mobilisieren, um das Ruder herumzureißen. In den letzten Jahren haben die Verantwortlichen der Pfarrei sich darauf konzentriert, den Niedergang zu verwalten; das wird es mit mir im Pfarrgemeinderat nicht mehr geben.
Das heißt nicht, dass ich den ultimativen Masterplan fertig in der Schublade hätte und die anderen Mitglieder des künftigen Pfarrgemeinderats "nur noch" dazu bewegen müsste, ihn abzunicken. Ja, ich habe eine Reihe von Ideen, was man so alles anders und besser machen könnte oder müsste, einige davon kann man vielleicht schon als ausgearbeitete Konzepte bezeichnen, aber zum weit überwiegenden Teil handelt es sich lediglich um Ansätze. Und ich denke, das ist auch gut so. Schließlich möchte ich mit den anderen haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern der Pfarrei gemeinsam ein Konzept für die Zukunft der Kirche in unserem Stadtteil entwickeln. Das setzt bei allen, die sich daran beteiligen wollen, allerdings (mindestens) dreierlei voraus: das Eingeständnis, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann; die Fähigkeit, "außerhalb der Box zu denken"; und vor allem die Bereitschaft, sich der Führung des Heiligen Geistes anzuvertrauen, darauf zu hören, was Gott von Seiner Gemeinde will, und Ihm mehr zu vertrauen als menschlicher Klugheit.
Der letztgenannte Punkt ist zweifellos der wichtigste, und dafür ist es nicht genug, am Anfang und/oder am Ende jeder Sitzung pro forma ein kurzes Gebet zu sprechen. Deshalb bin ich fest entschlossen, bei der Konstituierung des neuen Pfarrgemeinderats den Vorschlag zu unterbreiten, erst einmal mindestens ein Wochenende lang gemeinsam auf Exerzitien zu gehen, ehe man sich in die Sacharbeit stürzt. (Dabei gilt es natürlich sorgfältig auszuwählen, was für Exerzitien das sein sollen. Ich bin sicher, dass es Einrichtungen des Erzbistums gibt, die Einkehrtage für Mitarbeiter anbieten und die es dringend zu meiden gilt, weil man da sonst als kryptoschismatischer, Interkommunion- und Mariazwonull-unterstützender Zombie rauskommt. Am liebsten würde ich dem neuen PGR ja drei bis vier Tage im Gebetshaus Augsburg verordnen, aber da drohen natürlich Einwände wegen der Reisekosten etc.; na gut, ich denke, man wird auch in Berlin was Vernünftiges finden können).
Und im nächsten Schritt sollte sich der PGR dann, wie ich neulich schon einmal ausgeführt habe, auf eine Zielformulierung einigen, die kurz und prägnant beschreibt, was wir mit unserer Arbeit in der Pfarrei und für die Pfarrei eigentlich wollen. -- Ich sehe schon kommen, dass man mir vorwerfen wird, ich würde die Sacharbeit durch Grundsatzdiskussionen blockieren. Den Vorwurf kann ich dann aber nur zurückgeben: Ihr, liebe Kollegen, blockiert notwendige Grundsatzdiskussionen, indem ihr euch in Kleinkram verzettelt. "Sacharbeit" ohne klare Zielvorgabe führt zu planlosem Gemurkel und Ressourcenverschwendung, und das können wir uns schlichtweg nicht mehr leisten. Eigentlich konnten wir es nie. Schließen möchte ich für heute mit dem Gleichnis vom Feigenbaum:
"Ein Mann hatte in seinem Weinberg einen Feigenbaum; und als er kam und nachsah, ob er Früchte trug, fand er keine. Da sagte er zu seinem Weingärtner: Jetzt komme ich schon drei Jahre und sehe nach, ob dieser Feigenbaum Früchte trägt, und finde nichts. Hau ihn um! Was soll er weiter dem Boden seine Kraft nehmen? Der Weingärtner erwiderte: Herr, lass ihn dieses Jahr noch stehen; ich will den Boden um ihn herum aufgraben und düngen. Vielleicht trägt er doch noch Früchte; wenn nicht, dann lass ihn umhauen." (Lukas 13,6b-9)
Die Zeit für den letzten Versuch, den Feigenbaum zum Früchtetragen zu bringen, ist jetzt. Nutzen wir sie.
"Ich sehe schon kommen, dass man mir vorwerfen wird, ich würde die Sacharbeit durch Grundsatzdiskussionen blockieren."
AntwortenLöschenDafür gibt's ja Geschäftsordnungsanträge - auf Schluss der Rednerliste oder Nichtbefassung, beispielsweise. ;)
Lukas 13,6-9: okay! Aber, bitte dran denken: Matthäus 10,16!
AntwortenLöschenIch gehöre nach 8 Jahren PGR-Abstinenz jetzt auch mal wieder zu den Wahnsinnigen, die für den Rätekatholizismus kandidieren. Wenn Rod Dreher bei einem solchen Engagement von „Masochismus“ spricht, so hat er nicht völlig unrecht, wenn auch das Wort unpassend ist. Mit der und für die Kirche zu leiden tut man ja nicht aus Lust, sondern aus Liebe zu Christus und seiner Braut.
AntwortenLöschenAllerdings sehe ich, dass auf allen Seiten vor allem Desillusionierung ansteht. Viele Rätekatholiken muss ich leider mit einer Tanzkapelle auf der Titanic vergleichen, welche darum streitet, welches Lied als nächstes gespielt wird.
Ich wünsche dir starke Nerven, viel Humor und dass du dich nicht in den üblichen sinnlosen Diskussionen (darf der Kindergarten Zucker in den Tee tun oder nicht? Wenn ja welchen? Reformhausrohrzucker? braun oder weiß? Reformhausrübenzucker? braun oder weiß? Aldi normaler Zucker oder Aldirohrzucker?, oder müsse wir nun nach China fliegen weil wir gehört haben dort ist ein Sack Reis umgefallen? Fliegen ? Zug fahren (Transsibirische Eisenbahn)? Laufen? Auto? Ruderboot?)
AntwortenLöschenalso das du es schaffst da drüber zu stehen.
Empfehle aus der Abteilung oldis but goodies https://gloria.tv/post/TQfTd6kqPsst3cneXHuC8g8KS