Dienstag, 9. Juli 2019

Die stille Generation verprasst ihre Rente beim Konditor

Montag, der 3. Juni, war ein schöner, sonniger Tag, und ich verbrachte den Großteil des Vormittags damit, mit meiner Tochter durch Tegel zu spazieren. Zuerst wollte ich aber etwas Bargeld abheben, um mir die Möglichkeit offen zu halten, zwischendurch irgendwo einzukehren oder mir zumindest ein Kaltgetränk für unterwegs zu kaufen. 

Ich staunte, wie lang die Warteschlange an den Geldautomaten war. Gut, zum Teil lag das wohl daran, dass einer der Automaten defekt war und ein zweiter gerade aufgefüllt wurde. Aber trotzdem standen hier ungewöhnlich viele Bankkunden an, und wie ich auf den zweiten Blick feststellte, waren es lauter Senioren. Ach, natürlich, es ist Monatsanfang, kam mir schließlich in den Sinn. Die holen sich alle ihre Rente ab. 

In der Fußgängerzone von Alt-Tegel konnte ich kurz darauf dann auch beobachten, was die alten Leutchen mit ihrem frisch abgehobenen Geld machten: Die Cafés und Bäckereien waren voll mit Senioren. Zugegeben, das Stadtbild in Alt-Tegel ist auch sonst stark von älteren Mitbürgern und ihren Rollatoren geprägt, davon kann man sich besonders eindrucksvoll überzeugen, wenn man bei Edeka einkaufen geht; aber eine so auffällige Rentnerschwemme[*] wie an diesem Montagvormittag Anfang Juni hatte ich dann doch noch nicht erlebt, jedenfalls nicht bewusst. 

Ich erinnerte mich, vor langer, langer Zeit mal in einem soziologischen Text gelesen zu haben, die Gewohnheit, sich am Anfang des Monats, wenn frisches Geld auf dem Konto ist, "mal etwas zu gönnen", sei typisch für Haushalte, in denen das Geld nicht oder nur mit Müh und Not bis zum Ende des Monats reicht. Gerade wollte ich anfangen, über Altersarmut zu sinnieren, da kam mir ein anderer Gedanke in die Quere: Was sagt es eigentlich über die Struktur unserer Gesellschaft als ganzer aus, dass es so viele alleinstehende Senioren gibt, die, wenn sie mal ein bisschen unter Leute kommen und sich einen schönen Tag machen wollen, ihre sauer verdiente Rente in der Konditorei verjubeln müssen? Kann es sein, dass das vielbeschworene Phänomen "Altersarmut" nur ein Teilaspekt, nämlich der rein materielle Aspekt eines viel größeren Problems namens Alterseinsamkeit ist? 

Symbolbild: Jean Papillon, "Man in Grey Suit Eating Ice Cream"; Quelle hier

Altersarmut entsteht in der öffentlichen Wahrnehmung schließlich erst dadurch, dass vorausgesetzt wird, ein alter Mensch müsse in der Lage sein, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten - mittels eines über Jahrzehnte erarbeiteten Rentenanspruchs, durch Ersparnisse oder womöglich eine private Rentenversicherung. Menschheitsgeschichtlich gesehen ist das eine ziemlich neue Idee. Ehedem war es Aufgabe der Familien, für die Alten zu sorgen. Und sollte man nicht denken, es wäre auch für die heutigen Senioren - nicht nur aus Kostengründen - schöner, sie könnten Kaffee und Kuchen im Kreise ihrer Kinder und Enkel genießen? 

Hand aufs Herz: Kann es sein, dass die gefürchtete Altersarmut gerade durch diejenigen Maßnahmen begünstigt wird, die sie angeblich verhindern sollen - nämlich dadurch, dass Menschen ihr ganzes Erwachsenenleben hindurch soziale und familiäre Bindungen vernachlässigen, womöglich die Gründung einer eigenen Familie aufschieben oder ganz unterlassen, um möglichst viel arbeiten und möglichst viel Geld verdienen zu können? Wenn sich das schon bei den heutigen Alten, also der ersten Nachkriegsgeneration, bemerkbar macht, dann kann man sich ausrechnen, dass die nachfolgenden Generationen noch weit stärker davon betroffen sein werden. Bis hin zu den Millennials, die weder Familien gründen noch in ihren oft prekären Beschäftigungsverhältnissen die Chance haben, Rentenansprüche oder Ersparnisse zu erwerben. 

Mir ist natürlich klar, was man mir entgegnen wird. Will ich Menschen wirklich zumuten, im Alter von Wohlwollen Anderer abhängig zu sein, auch wenn es die eigenen Kinder und Enkel sind? Sollten nicht auch Senioren das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben haben? Darauf jedoch erwidere ich nun wiederum: Genau dieses falsche Ideal des "selbstbestimmten Lebens", verstanden als Unabhängigkeit von sozialen Bindungen, hat uns den ganzen Schlamassel eingebrockt. Einsamkeit ist eine Volkskrankheit -- mit unübersehbaren sozialen Kosten: Pornographie, Prostitution, Suchtkrankheiten, Verschuldung durch zügelloses Konsumverhalten... Klar: Auf kurze Sicht ist der Umstand, dass einsame Menschen eifrige Konsumenten sind, gut für die Binnennachfrage, und auch aus Arbeitgebersicht hat es Vorteile, wenn die Beschäftigten lediglich oberflächliche und somit austauschbare Sozialkontakte haben. So sind sie flexibler einsetzbar und eher bereit, Überstunden zu machen, beruflich viel unterwegs zu sein oder gegebenenfalls sogar den Wohnort zu wechseln. Mein innerer Aluhutträger ist sogar ziemlich überzeugt, dass die möglichst frühe Krippenbetreuung für Kinder nicht zuletzt auch darum so vehement gefördert wird, damit die Kleinen sich gar nicht erst an stabile familiäre Bindungen gewöhnen. Aber auf längere Sicht bedroht diese Erziehung zum Individualismus die Stabilität der Gesellschaft mindestens so sehr wie der Klimawandel. 

Ich muss indes zugeben, dass das hohe Rentneraufkommen in der Fußgängerzone von Alt-Tegel an jenem Montagvormittag Anfang Juni nicht der alleinige Auslöser für diese Reflexionen war. Einige Tage später kam ich im Ortsteil Wedding an einem Bauzaun vorbei, der über und über mit Tinder-Werbung vollplakatiert war. Es gab drei bis fünf verschiedene Plakatmotive, aber der gemeinsame Tenor war, wie super es angeblich ist, Single zu sein. Weil man dann nämlich so leben kann, wie es einem passt, und wenn man mal Lust auf andere Leute hat, kann man sie sich ja bedarfsgerecht und für den jeweiligen Anlass maßgeschneidert im Internet bestellen, oder so. Ich wäre ja dafür, dass solche Plakate, ähnlich wie Werbung für Tabak oder Alkohol, mit Warnhinweisen versehen werden müssen; wie zum Beispiel:
"Einen Menschen, der dir den Hintern abputzt, wenn du zum Pflegefall wirst, findest du nicht mit Hilfe einer Dating-App."



5 Kommentare:

  1. Auch wenn das scheinbar ein anderes Problem ist, glaube ich, diese Probleme sind verzahnt. Denn in der alten Großfamilie blieb den Generationen ja gar nichts anderes übrig, als miteinander zu reden. Und so lernten sie es. (Ich will nichts verklären, es gab auch damals Klatsch, Gehässigkeit und Starrsinn auf allen Seiten. Aber dennoch.)

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  2. Ich stelle mir gerade vor, wie das in 15-20 Jahren aussieht, wenn wir Babyboomer in Rente sind. Und verdränge es gleich wieder. Noch mehr Leute mit tendenziell weniger Rente.

    Familie ist gut, aber um sie für die bessere Lösung zu halten, habe ich zu viel Negatives mitbekommen, zum Glück nicht selbst, aber aus den Generationen davor. Abhängigkeitsverhältnisse materieller und mentaler Art, schlechte Behandlung von Stief- und Pflegekindern, Erb- und sonstige Intrigen, Kindesmisshandlung, Ausbeutung von Frauen als Pflegekräfte u.a.. Ich misstraue da allzu idyllischen Vorstellungen.

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  3. Ich halte auch nix von idealisierten Vorsteillungen von Familie, frage mich aber wie man auf die Idee kommen, kann dass der Staat netter zu einem ist, als die eigene Sippe.
    Das ist es ja, man erwartet vom Staat einem das zu geben, was man von den eignen Leute nicht verlangen will.
    Und den aktuellen Rentner geht es mehrheitlich noch ziemlich gut, schlimm wird es in einigen Jahren, wenn die geburtenstarken Jahrgänge, die dazu auch keine Familienmenschen mehr sind, in Rente gehen, aber das weiß man erst seit 1958 (das warf man Adenauer den Webfehler seines Rentensystems vor) und sicher ab 1964 (Pillenknick) von daher kommt das ganz überraschend! (der letzte Halbsatz ist zynisch gemeint)

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  4. Sorry, aber die Einsamkeit manch alter Menschen liegt manchmal AUCH an ihnen selbst.

    Wir leben hier in einem Haus mit 14 Wohnungen mit fast durchweg alten und meist relativ wohlhabenden Menschen – die beiden ältesten Alleinstehenden sind im 87. bzw. 91. Lebensjahr.

    Bis auf wenige lebt aber jeder davon liebend gerne für sich und kommt nur äußerst sporadisch auf die Idee, mal andere zu sich einzuladen, denn das macht ja neben Kosten auch viel Arbeit, nicht wahr?

    Ausnahme ist meine Frau, die öfter einlädt und auch sehr dafür gelobt wird.
    Nachahmung findet aber nur äußerst selten statt.

    Die Familien / Verwandschaft sind heute oft berufsbedingt weit auseinander gerissen.

    Das kann man nicht pauschal den Menschen ankreiden, dass da oft nur wenig Zeit und Energie zum gegenseitigen Besuchen aufgebracht wird.

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  5. Es ist immer schwierig aus der Distanz etwas zu schreiben, aber mit schwebt schon lange, betreffs der Situation der älteren Leute bei uns in der Kirche, sowas wie eine Neuauflage der Beginnen vor.
    Über Gründe und Ursachen dass es so ist, wie es ist, kann man lange schreiben und ja vieles ist auch selbstverschuldet, aber über das was Sünde ist, muss sich die Kirche der Beichtstühle nun wahrhaftig nicht belehren lassen (Chesterton).
    Ich denke auch das wäre ganz im Sinne der BenOp.
    Bislang ist es nur eine Idee, mir schwebt ein Zusammenleben noch nicht pflegebedürftiger alter Leute vor, die gemeinsam den Tag mit Beten, Haushalt, udn sich nützlich machen in der Kirche vor Ort verbringen. Die genaue Struktur, das müsste sich ergeben, es muss in der frühen Kirche einen Stand gottgeweihter Witwen gegeben haben, sowas in der Richtung

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