Freitag, 28. Dezember 2018

Wenn Weihnachten nur noch auf sich selbst verweist

Über die Feiertage erzählte mir meine Liebste, sie habe - obwohl sie völlig "religionsfern" aufgewachsen ist - einige Weihnachtslieder mit explizit christlichem Inhalt schon von Kindheit an gekannt und sei nach ihrer Bekehrung sehr überrascht gewesen, dass dieselben Lieder in der Weihnachtszeit auch im Gottesdienst gesungen werden. Das erinnerte mich daran, dass ich vor drei Jahren in einem Blogartikel über Weihnachtslieder schrieb, im deutschsprachigen Raum hätten sich christliche Weihnachtslieder - allen voran natürlich "Stille Nacht, heilige Nacht", aber auch "O du fröhliche", "Ihr Kinderlein kommet", "Kommet ihr Hirten", "Es ist ein Ros entsprungen" und und und - auch außerhalb der kirchlichen Sphäre erstaunlich gut gehalten und seien "auch heute noch in Fernsehshows und auf ganz unkirchlichen, kommerziellen Weihnachtsmärkten" "ungebrochen populär". Dass das alles andere als selbstverständlich ist, zeigt ein Blick in den angloamerikanischen Raum, wo die populärsten Weihnachtslieder "entweder einfach Winterlieder" sind, "die Schnee und Kälte besingen", oder sich um "den Weihnachtsmann und seine Helferlein oder allgemein um weihnachtliches Brauchtum" drehen, "das aber seinerseits keinerlei christlichen Gehalt zu erkennen gibt". Darin zeigt sich "eine fortgeschrittene Säkularisierung, Entchristlichung des Weihnachtsfests", die man gerade in den USA, wo doch Religion in der Öffentlichkeit ansonsten eine erheblich größere Rolle zu spielen scheint als in West- und Mitteleuropa, wohl nicht unbedingt erwartet hätte. Allerdings hatte ich schon seinerzeit auf einen interessanten Artikel von Molly Hemingway im Federalist verwiesen, der ausführt, dass diese Säkularisierung von Weihnachten gerade in God's Own Country schon sehr früh und nachdrücklich einsetzte. Darauf möchte ich jetzt zurückkommen.

Molly Hemingway argumentiert, Weihnachten habe in den USA überhaupt nur in säkularisierter Form zu einem populären Fest werden können, und zwar aufgrund der konfessionellen Diversität der Bevölkerung. Es ist ja einigermaßen bekannt, welche Rolle "radikale" religiöse Splittergruppen - überwiegend protestantischer Provenienz - bei der Besiedlung der nordamerikanischen Kolonien spielten, aus denen die Vereinigten Staaten hervorgingen. Weder die Puritaner in Massachusetts noch die Quäker in Pennsylvania feierten Weihnachten; in Massachusetts war Weihnachten zeitweilig sogar verboten. Bis zum Jahr 1860 war Weihnachten nur in 16 der zu diesem Zeitpunkt 33 US-Bundesstaaten ein gesetzlicher Feiertag. Ein von religiösen Inhalten weitestgehend "gereinigtes" Weihnachtsfest konnte jedoch jeder unabhängig von seiner Konfession mitfeiern, und so entstand schon im Laufe des 19. Jahrhunderts ein charakteristisches, ausgeprägt nicht-religiöses Weihnachtsbrauchtum.

Ebendieses von christlichen Inhalten entleerte Brauchtum spiegelt sich auch in den Texten populärer Weihnachtslieder wider, und das vielleicht illustrativste Beispiel dafür ist der 1945 entstandene, erstmals 1946 von Nat "King" Cole eingespielte und seither unzählige Male - in jüngerer Zeit u.a. von Luther Vandross (1995), Christina Aguilera (2000) und. unvermeidlicherweise, Michael Bublé (2003) - gecoverte Song "The Christmas Song (Chestnuts Roasting on an Open Fire)".


Einer Anekdote zufolge haben die Songschreiber Bob Wells und Mel Tormé dieses Stück während eines sehr heißen Sommers geschrieben, um sich durch die Konzentration auf winterliche Impressionen gedanklich abzukühlen. Se non è vero, è ben trovato, wie der Italiener sagen würde: Diese Entstehungsgeschichte gäbe jedenfalls eine plausible Erklärung dafür ab, dass der Text aus nichts als einer Aneinanderreihung von Klischees besteht. Und möglicherweise ist genau das auch der Grund dafür, dass die Nummer laut Auskunft der Lizenzgesellschaft Broadcast Music Incorporated (BMI) der am häufigsten gespielte Weihnachtssong überhaupt ist.

Der Liedtext evoziert also zunächst einmal allerlei Bilder -- von Kastanien, die auf offenem Feuer geröstet werden; von beißender Kälte, personifiziert in der allegorischen Gestalt des Jack Frost, die einem die Nase anknabbert; von Chören, die Weihnachtslieder singen (immerhin), und dick vermummten Menschen (wobei "dressed up like eskimos" ja nun nicht gerade politically correct ist, aber auch in neueren Aufnahmen des Songs nicht verändert wurde). In der zweiten Strophe geht es dann konkreter um das Weihnachtsfest: "Jeder weiß, dass ein Truthahn und Mistelzweige / helfen, die Jahreszeit heiter zu gestalten." Merke: Die Elemente des Festbrauchtums werden als bekannt und geradezu selbstverständlich vorausgesetzt. Der Weihnachtsmann und seine fliegenden Rentiere werden auch erwähnt, allerdings lediglich als etwas, das die Phantasie der Kinder beschäftigt, und werden somit eher belächelt, wenn auch mit nostalgischem Wohlwollen. Und dann folgt gewissermaßen das Fazit:
"Und so entbiete ich diese schlichte Phrase 
Kindern von 1 bis 92 
Obwohl es schon viele Male 
Auf vielerlei Arten gesagt worden ist: 
Frohe Weihnachten euch." 
Mein Deutsch-Leistungskurs-Lehrer hätte an dieser Stelle gefragt: Was ist in diesen Versen das entscheidende Wort? Und die Antwort, auf die diese Frage abgezielt hätte, wäre gewesen: although, "obwohl". Das lyrische Ich wünscht nicht deshalb "Frohe Weihnachten", weil das nun mal das ist, was man anlässlich dieses Festes sagt, sondern obwohl das so ist -- was wohl bedeuten soll: obwohl es eine abgedroschene, altmodische, unoriginelle Floskel ist. Aber offenbar gibt es schlichtweg nichts anderes, was man sagen könnte.

Was wir anhand dieses Liedtexts geradezu exemplarisch beobachten können, ist, wie Weihnachten vom Zeichen zum Bezeichneten umgedeutet wird: Die diversen jahreszeitlichen und brauchtümlichen Elemente, die der Text aufruft, bedeuten Weihnachten, Weihnachten selbst bedeutet überhaupt nichts mehr. Weniger philosophisch ausgedrückt: Es wird nicht nach Gründen dafür gefragt, Weihnachten zu feiern, sondern Weihnachten ist selbst der Grund. Eine solche Sichtweise ist natürlich ungemein praktisch für all jene, die zwar überhaupt nicht religiös sind und auch keine Lust dazu haben, aus saisonalen Gründen so zu tun, als wären sie es, aber trotzdem schön Weihnachten feiern wollen.

Ich finde ja, das hat was Deprimierendes. Mir drängt sich da eine postapokalyptische Vision von Menschen auf, die in den Ruinen einer untergegangenen Kultur hausen und Rituale vollziehen, deren Sinn vor langer Zeit in Vergessenheit geraten ist. Zum Schluss des Liedes werden übrigens noch ein paar Takte "Jingle Bells" aus dem Bass gezupft, und selbst die klingen irgendwie melancholisch...





Donnerstag, 27. Dezember 2018

Besserwissen und schlechter glauben

In einer der diesjährigen Weihnachtsmessen in meiner Wohnortpfarrei konnte der Pfarrer es nicht lassen, der Gemeinde - nicht in der Predigt, sondern in seinen Begrüßungsworten - ins Stammbuch zu schreiben, es glaube "ja wohl hoffentlich niemand mehr", dass der 25. Dezember das historische Geburtsdatum Jesu sei. Vielmehr, so führte er aus, hätten die Christen erst im 4. Jahrhundert begonnen, der Geburt Jesu mit einem eigenen Feiertag zu gedenken, und sie hätten dieses Fest deshalb auf den 25. Dezember gelegt, weil dies bei den heidnischen Römern der Festtag des Sonnengottes Sol Invictus gewesen sei. Mit der Wahl dieses Datums hätten die Christen betonen wollen, dass Christus die wahre Sonne sei. Oder so. 

Das ist nun vielleicht kein Grund, ein großes Fass aufzumachen, zumal es tatsächlich keine verbindliche Glaubenslehre ist, dass Jesus am 25. Dezember geboren sei. Man kann mit gutem Grund der Meinung sein, das genaue Datum der Geburt Jesu sei gar nicht so wichtig. Trotzdem, oder im Grunde gerade deshalb, hat es schon irgendwie ein Geschmäckle, wenn den Gläubigen just zu Weihnachten diese Sol Invictus-Geschichte als angeblich gesicherte Tatsache aufgetischt wird. Zumal sich, wie sogar Tante Wiki weiß, bereits in den Schriften des Kirchenvaters Hippolyt (ca. 170-235 n. Chr.) ein Hinweis auf den 25. Dezember als Geburtsdatum Jesu findet, wohingegen das Fest des Sol Invictus im römischen Reich erst im Jahr 274 eingeführt wurde. Ich gehe mal wohlwollend davon aus, dass der Pfarrer das nicht wusste und das, was er der Gemeinde da auftischte, im Studium oder sonstwo "gelernt" hat. Bleibt die Frage: Warum muss man den Leuten partout einreden wollen, das Weihnachtsdatum sei nicht das historische Geburtsdatum Jesu? Letztendlich läuft das doch nur darauf hinaus, den Glauben an die Verankerung zentraler Ereignisse der christlichen Heilsgeschichte in der faktischen Historie zu untergraben. 

Heute nun, am Festtag des Apostels Johannes, ist auf der Facebook-Seite des Bistums Münster ein Erklärvideo zum Johannesevangelium veröffentlicht worden, in dem es u.a. heißt: 
"Als Autor nahm Irenäus von Lyon den Jünger Johannes an, was heute allerdings als widerlegt gilt." 
Meine spontane Reaktion darauf lautete: 
"Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ihr als widerlegt geltet, ihr Luschen." 
Aber okay, man kann den Einspruch gegen die besagte Äußerung auch eine Spur weniger polemisch formulieren. Zum Beispiel so: 
1. Dass "der Jünger, den Jesus liebte" der Verfasser des Johannesevangeliums ist, steht wörtlich drin im Evangelium (Joh 21,24) -- da braucht man sich also nicht mal auf den Kirchenvater Irenäus von Lyon zu berufen. 
2. Wenn man das aber doch tut, sollte man vielleicht berücksichtigen, dass Irenäus (ca. 135-200 n. Chr.) vermutlich ein Schüler des Polykarp von Smyrna (ca. 68-155 n. Chr.) war bzw. diesen zumindest gekannt hat -- und Polykarp seinerseits war ein Schüler des Apostels Johannes. Trotzdem wissen wir heute mehr als er, weil Irenäus noch nicht über die Methodik der historisch-kritischen Exegese verfügte? Ernsthaft? 
Alonso Cano (1601-1667): Der Hl. Evangelist Johannes spendet der Jungfrau Maria die Kommunion. Gilt heute allerdings wahrscheinlich auch als widerlegt. (Bidquelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei
Sicherlich - oder sagen wir: vermutlich - haben die Münsteraner allerdings mit der Aussage, die Verfasserschaft des Apostels Johannes am Johannesevangelium "gelte" heute als widerlegt, insofern Recht, als es in der akademischen Theologie herrschende Meinung ist, diese Verfasserschaft anzuzweifeln. Ebenso wie es da auch herrschende Meinung ist, dass ca. die Hälfte der Paulusbriefe nicht von Paulus stammt, die Petrusbriefe nicht von Petrus und dass die synoptischen Evangelien erst nach der Zerstörung des Herodianischen Tempels im Jahr 70 n. Chr. entstanden sein können, denn wären sie früher entstanden, dann müsste man annehmen, dass Jesus die Zerstörung des Tempels tatsächlich vorausgesehen hätte, und wo kämen wir denn da hin? 

Ich habe wohlgemerkt nicht die Absicht, die gesamte historisch-kritische Bibelwissenschaft in Bausch und Bogen zu verwerfen. Zu den Leistungen und Grenzen dieser exegetischen Methode hat Benedikt XVI. in seiner "Jesus von Nazareth"-Trilogie allerlei Kluges gesagt; ich könnte da jetzt ein paar schicke Zitate raussuchen, aber wisst Ihr was, Freunde: Lest die Bücher lieber selbst, es lohnt sich und macht sogar Spaß. Das Problem ist nicht die historisch-kritische Methode als solche, sondern der Umstand, dass sie in der Praxis nur allzu oft mit einer Hermeneutik des Misstrauens gegenüber den Texten einhergeht. Simpler ausgedrückt: Man will die biblischen Texte nicht für authentisch halten und sucht daher nach allen Regeln der exegetischen Kunst nach Gründen, ihre Authentizität in Zweifel zu ziehen. 

Differenzierend und präzisierend müsste man wohl hinzufügen, dass hinter diesem Misstrauen gegenüber den biblischen Texten in erster Linie ein Misstrauen gegenüber der kirchlichen Lehre steht, die sich auf diese Texte beruft. Das bringt mich auf etwas, worüber ich schon seit Jahren etwas schreiben will, nämlich meine Überzeugung, dass evangelikaler Biblizismus und eine sich als historisch-kritisch verstehende Dekonstruktion biblischer Texte letztlich zwei Seiten derselben Medaille sind. Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass sie die Autorität der kirchlichen Tradition verwerfen: Die Bibelfundamentalisten lassen nur das gelten, was explizit in den Texten drinsteht, die historisch-kritischen Exegeten gehen noch einen Schritt weiter und dröseln die Texte selbst auf, um zu unterscheiden, was daran authentisch sei und was nicht. Ebenfalls beiden Methoden gemeinsam ist, dass sie - wenn auch nicht unbedingt in vollem Maße bewusst - selektiv und interessegeleitet vorgehen: Am Ende muss bei der Exegese halt das herauskommen, von dem man will, dass es herauskommt. 

Natürlich kann man bei der Frage nach der Verfasserschaft biblischer Texte haarspalterisch vorgehen: Wer nun tatsächlich irgendwann im 1. oder frühen 2. Jahrhundert physisch den Griffel in die Hand genommen hat, um die allererste Handschrift dieses oder jenes neutestamentlichen Texts anzufertigen, dürfte sich letztlich nicht beweisen lassen, und da mag es dann durchaus Gründe geben, anhand von Stilvergleichen und Analysen des verwendeten altgriechischen Vokabulars Zweifel anzumelden, ob verschiedene Texte, die unter demselben Verfassernamen überliefert sind, tatsächlich von derselben Person niedergeschrieben worden sein können. Aber darauf kommt es ja letztlich nicht an. Die eigentliche Absicht hinter den diversen Theorien zur Spätdatierung biblischer Texte und zur "Widerlegung" der Verfasserschaft der Apostel besteht offenkundig darin - jetzt wiederhole ich mich -, den Glauben an die Verankerung zentraler Ereignisse der christlichen Heilsgeschichte in der faktischen Historie zu untergraben. Weil man einen Glauben, dessen historische Grundlagen bestenfalls nebulös sind, viel besser nach Gutdünken so zurechtinterpretieren kann, wie er einem in den Kram passt. Und da würde ich mir dann schon wünschen, dass die Herren und Damen Theologen die einfachen Gläubigen mit ihren Kopfgeburten verschonen. Nicht nur zu Weihnachten. 


Samstag, 22. Dezember 2018

"Mir ist das Christliche ja sehr wichtig"


Ende November gab es in unserem Pastoralverbund (der noch nicht offiziell zum „Pastoralen Raum“ ernannt worden ist) eine sogenannte „Tauferinnerungsfeier“, eine Art Andacht für Familien, in denen im Laufe des zurückliegenden Jahres ein Kind getauft worden ist. Geleitet wurde die Feier von der Gemeindereferentin, der Pfarrer spielte Gitarre. Ich hatte den Eindruck, unter den anwesenden Eltern waren meine Liebste und ich die einzigen, die die Veranstaltung – bei aller Wertschätzung gegenüber der grundsätzlichen Idee – nicht so richtig gelungen fanden. Zum Beispiel kam mir die Gestaltung nicht wirklich altersgerecht vor. Sicher, auch in der katholischen Kirche werden nicht alle Kinder im selben Alter getauft, aber in der Praxis kann man doch wohl davon ausgehen, dass die meisten Kinder, deren Taufe weniger als ein volles Jahr zurückliegt, noch unter drei Jahren alt sind, und so war es bei dieser Veranstaltung auch tatsächlich. Trotzdem schien die Gestaltung eher auf Kinder im Vorschulalter ausgerichtet zu sein. Davon hatten die Kinder, meiner Einschätzung nach jedenfalls, herzlich wenig. Warum macht man das dann? Antwort: Wegen der Eltern. Man geht – in der Regel wohl zu Recht, wenn man von Ausnahmefällen wie meiner Liebsten absieht – davon aus, dass Eltern, die ihre Kinder taufen lassen, selbst relativ „kirchennah“ aufgewachsen sind und daher auf eine bestimmte Vorstellung davon geprägt sind, wie eine „kindgerechte Gestaltung“ im kirchlichen Rahmen auszusehen habe. Und diese Erwartungshaltung wird dann eben bedient. Was naturgemäß darauf hinausläuft, dass Kindergottesdienste oder andere Formen kirchlicher „Angebote“ für Familien mit jungen Kindern heute nicht wesentlich anders aussehen als vor dreißig Jahren. 

Die meisten anderen Eltern bei dieser Veranstaltung kannte ich übrigens nicht oder maximal vom Sehen, mit einer Ausnahme: Eine Mutter und ihren schätzungsweise noch nicht ganz zwei Jahre alten Sohn hatte ich schon zuvor mehrfach in offenen Krabbelgruppen getroffen, und ein paarmal auch beim Einkaufen. Neulich war ich dann mal wieder zusammen mit ihr in einer Krabbelgruppe und bekam beiläufig mit, wie sie sich im Gespräch mit einer offenbar befreundeten anderen Mutter darüber beklagte, dass sie für ihren Sohn keinen Platz in der KiTa ihrer Wohnortpfarrei bekommen habe, während diese KiTa andererseits offenbar keine Probleme damit habe, Kinder aufzunehmen, deren Eltern mit der Kirche überhaupt nichts am Hut haben. In diesem Zusammenhang äußerte sie den bemerkenswerten Satz „Mir ist das Christliche ja sehr wichtig“, und ich fragte mich unwillkürlich, was genau sie damit wohl meint.

Es geht mir hier wohlgemerkt nicht speziell um diese eine Person. Zumal ich sie so gut nun auch nicht kenne, dass ich mir ein Urteil über ihren Glauben zutrauen würde. (Falls Du mitliest: Hi! Ich weiß Deinen Namen gar nicht, nur den Deines Sohnes.) Meine Frage bezieht sich vielmehr ganz allgemein auf Eltern, die ihre Kinder an den handelsüblichen kirchlichen Kinderbetreuungs- und -bespaßungsangeboten teilnehmen lassen und mit dem, was da geboten wird, offenbar recht zufrieden sind. Oder die zum Beispiel selbst aktiv daran mitwirken. Da denke ich insbesondere an die zwei bis drei Familien, aus denen sich das Team zusammensetzt, das bei uns in der Pfarrei einmal im Monat einen „Familiengottesdienst“ gestaltet. An den anderen Sonntagen des Monats sieht man diese Familien praktisch nie in der Kirche, und die Gestaltungselemente, die sie in die „Familiengottesdienste“ einbringen, erwecken in aller Regel den Eindruck, dass sie von den Basics des christlichen (geschweige denn des spezifisch katholischen) Glaubens nicht sonderlich viel verstanden haben. Dennoch ist ihnen „das Christliche“, so wie sie es verstehen, ja anscheinend irgendwie „wichtig“, denn sonst würden sie das ja wohl nicht machen.

Das bringt mich jetzt wieder darauf, dass Kindergottesdienste und -katechesen in katholischen Pfarreien, meiner persönlichen Erfahrung zufolge, vor dreißig Jahren schon im Wesentlichen genauso aussahen wie heute. Mit anderen Worten, viele heutige Eltern, darunter auch solche, die als haupt- oder ehrenamtliche Katecheten tätig sind, sind in ihrer eigenen „kirchlichen Kindheit“ mit nichts anderem gefüttert worden als mit mehr oder weniger deutlich moralisierend angestrichenen „Gott hat uns alle lieb“-Plattitüden und denken daher, das müsste so sein. Worauf ich bis vor Kurzem aber nicht ernsthaft gekommen wäre, ist, dass sie das als etwas so Wertvolles empfinden könnten, dass es ihnen wichtig ist, es an ihre eigenen Kinder weiterzugeben.

Sehr erhellend fand ich in diesem Zusammenhang einen unlängst in der Zeit-Beilage „Antichrist & Unterwelt“ (#sorrynotsorry) erschienenen Artikel mit dem unverdächtigen Titel „Christliche Erziehung: Die Kinder, die Kirche und ich“; ein treffenderer Titel wäre vielleicht gewesen „Hilfe, meine Kinder sind frömmer als ich“. Der Verfasser des Beitrags ist ein junger Vater, der sich über die Begeisterung seiner Kinder für alles, was mit Kirche zu tun hat, nicht nur wundert, sondern sogar einigermaßen beunruhigt darüber ist. 
„Grundsätzlich entwickelte das ältere Kind während seines dritten Lebensjahrs eine klare Vorliebe für alles, was mit Kirche zu tun hatte. Vorher hatte es sich in kleinkindtypischer Indifferenz überall mit hinnehmen lassen, zum Turnen, ins Familienzentrum, in den Park. Jetzt aber begann es nach der Kita zu fragen: 'Kirsse? Ja? Ja?'“

Ich muss ja sagen, ich als Vater wäre froh, das von meinen Kindern zu hören. Präziser gesagt: Meine (bislang einzige) Tochter ist noch ein gutes Stück jünger als die Kinder von Christ & Welt-Autor Johannes Schneider; bisher spricht alles dafür, dass sie sich in der Kirche wohl und „zu Hause“ fühlt, und ich hoffe (und bin gewillt mein Möglichstes dafür zu tun), dass das so bleibt.

Nicht so Johannes Schneider (hier übrigens eine Kurzbio mit Foto. Müssen diese Leute eigentlich immer genau so aussehen, wie man sie sich vorstellt?). Er legt Wert darauf, seinen Kindern ein „zugleich linksliberales und traditionsprotestantisches Elternhaus“ zu bieten, in dem die Kinder „mit einem bunten und nicht immer widerspruchsfreien Strauß kultureller Angebote“ aufwachsen. Dass seine Kinder dennoch nichts von alledem – „abgesehen vielleicht vom Kölner Karneval“ – „derart nachhaltig“ begeistert „wie alles, was mit Kirche, Glauben und Bibelgeschichten zu tun hat“, erscheint ihm befremdlich: „Wie kann das sein?“ Natürlich hat er sich Gedanken darüber gemacht – und formuliert eine „kühne These“, die bei aller Unausgegorenheit wohl doch ein paar ganz bemerkenswerte Teil-Einsichten enthält: Die Sphäre von „Bibel, Jesus, Kinderkirche“ ist für die Kinder ein „Schutzraum“, ein „Ausgleich“ gegenüber derjenigen Normalität, die sie beispielsweise „an einer Integrationskita im Neuköllner Süden“ erleben. „In Zeiten, in denen kindliche Lebenswelten und Kulturangebote für Kinder weitgehend optimal auf die kognitiven und seelischen Fähigkeiten der jeweils adressierten Alterskohorte abgestimmt sind, repräsentieren Kirche und Bibel Wirklichkeiten, die das Archaische bei aller freundlichen Zugewandtheit doch nicht ganz loswerden“, theoretisiert Schneider munter drauflos. „Es bleibt eine Gegenwelt, die nicht nur grausamer, sondern auch größer, feierlicher und älter ist als alles, was sich die Kinder sonst vorstellen können“ – eine Gegenwelt zu „unserer eigenen, wie wir sie den Kindern gemeinhin darstellen: beruhigt und mittelmäßig“. 

Dass Schneiders Kinder überhaupt mit dieser „Gegenwelt“ in Kontakt gekommen sind, hat auch mit seiner eigenen Kindheit und Jugend zu tun. Er stammt nämlich selbst aus einem in gewisser Weise ausgeprägt „kirchennahen“ Milieu:
„Mein Großvater war Presbyter, Kirchenvorstand heißt das in einigen Gegenden, mein Vater Religionslehrer, meine Schwester studierte auf Pfarramt. Ich war der Hedonist an der Basis – kirchliche Freizeiten, Rumhängen in Jugendtreffs, Bandproben im Gemeindekeller.
[…]
Als wir eigene Kinder bekamen, war das ein guter Anlass, in die Welt der evangelischen Gemeindehäuser zurückzukehren. Vorher war ich ihr über ein Jahrzehnt eher lose verbunden gewesen [...], Kirchenaustritt kein Thema [...]. Wie andere Leute Mitglied eines Vereins sind, hatte ich eine unhinterfragbare soziale Heimat [...]. Mit den Kindern hatte ich plötzlich einen Anlass, wieder mehr Zeit in einem altvertrauten Milieu zu verbringen.“ 

Nur dass es den Kindern dort offenbar ein bisschen zu gut gefällt, das bringt den jungen Vater ins Grübeln. „Ist es […] nicht unverantwortlich oder zumindest komplett gegen unser aller Interesse, meine Kinder in meiner Kirche und der Bibel zu beheimaten?“, fragt er sich. „Muss ich sie nicht vor sich selber schützen?“ Geradezu mit Erleichterung nimmt er zur Kenntnis, dass seine Kinder auf einem ihrem Alter entsprechenden Niveau durchaus auch Glaubenszweifel formulieren: „Da heißt es dann: 'Wieso muss denn Gott auf uns aufpassen? Die Eltern passen doch auf die Kinder auf und die Erwachsenen können selber auf sich aufpassen. Wozu brauchen wir denn dann Gott? Wann stirbt Gott?' Oder auch: 'Gott hat die Milchzähne nicht gemacht, oder? Die sind doch von allein gewachsen!'“ Solche Zweifel, meint er, gilt es zu unterstützen: „Auf diese Fragen und Anmerkungen nicht mit mir selbst unverständlichen Verweisen auf Gottes Allmacht und Rätselhaftigkeit zu antworten, das ist das Mindeste, was ich tun kann.“ 

Da könnte man sich nun natürlich fragen: Was hat der gute Mann für ein Problem? „Ich bin kein Vorbild im Glauben“, sagt er – und er will es auch nicht sein. Die „tieferen Mysterien des Glaubens“ sind für ihn nie ein Thema gewesen, Pfingsten – die Aussendung des Heiligen Geistes – ist für ihn „ein überaus merkwürdiges Fest“. Bei „Berliner Partys“ erlebt er es durchaus mal, dass sein Verhältnis zum Glauben „kurioses Gesprächsthema im Sinne einer seltenen kulinarischen Vorliebe ist“; dann sagt er, dass dieser Glaube „einfach da ist – und dass es schon einer krassen Selbstaufgabe und Selbstzerlegung bedürfte, um ihn aus mir herauszukriegen“. Und schließlich:
[D]er Glaube hindert mich an nichts, weder daran, wissenschaftliche Befunde anzuerkennen, noch daran, im Alltag ein anständiger und rücksichtsvoller Mensch zu sein, Letzteres sogar im Gegenteil. Ob er nun eine rein kulturelle Schimäre ist oder es doch eine im weitesten Sinn mystische Substanz gibt, ob die Gottesnähe, die ich nur in Kirchen fühle, eine kindliche Selbsttäuschung ist oder doch mit irgendwas zu tun hat, das außerhalb meiner selbst liegt: Ehrlich, wen interessiert das?“

Interessant, dass er diese Haltung überhaupt als „Glauben“ klassifiziert – aber ich will mich hier nicht lange damit aufhalten, diese halbherzige Einstellung zu kritisieren; was ich davon halte, mag sich jeder selbst ausmalen. (In der angloamerikanischen Umgangssprache gibt es als Synonym für „halbherzig“ übrigens auch den Ausdruck „halbärschig“, und dass der mir persönlich besser gefällt, wird wohl niemanden überraschen, der mich ein bisschen kennt.)

Zu der illustrierten Kinderbibel, für die seine Kinder sich begeistern, merkt Johannes Schneider an: „Mich nervte vor allem das Gleichnis der Arbeiter im Weinberg, in dem die Weinleser alle den gleichen Lohn bekommen, obwohl einige viel mehr gearbeitet haben als andere.“ Also bitte, das ist jetzt schon ein bisschen dämlich. Genau darum geht’s in dem Gleichnis doch. Dass es nach weltlichen Maßstäben zu erwarten gewesen wäre, dass die Entlohnung der Arbeiter im Verhältnis zur geleisteten Arbeit steht, dass solche Maßstäbe im Reich Gottes aber nicht gelten. 



Dem laut Selbsteinschätzung „linksliberale[n]“ Schneider passt das nicht: „Die hätten den Weinbergbesitzer lieber mal enteignen sollen“, murmelt er, in der erklärten Absicht, seine Kinder zu irritieren. Ähm. Für wen der Weinbergbesitzer im Gleichnis steht, ist ihm aber schon klar, oder? Und dass es noch ein anderes Gleichnis gibt, in dem die Pächter die Boten, die der Besitzer des Weinbergs zu ihnen schickt, verprügeln und fortjagen und schließlich sogar seinen Sohn ermorden, um den Weinberg für sich zu behalten? Fast hätte ich Lust, an dieser Stelle über eine gutbürgerlich-mittelmäßige Amts- und Volkskirche zu sinnieren, die Gott enteignet hat, um aus Seiner Kirche einen gemütlichen Geselligkeitsverein zu machen, aber ich will mir nicht vorgreifen. 

Klar ist: Wäre die Sorge, die eigenen Kinder könnten, wenn man sie in die Kirche mitnimmt, religiöser werden, als einem lieb ist, bloß Johannes Schneiders Privatschrulle, würde es sich kaum lohnen, darüber viele Worte zu verlieren, und ich gehe davon aus, dass das auch die Christ & Welt-Redaktion so gesehen haben würde. Wir müssen also davon ausgehen, dass es sich um ein durchaus verbreitetes Phänomen handelt. Und tatsächlich bin ich kürzlich in einem Blogartikel meines Freundes Rod über eine Passage gestolpert, die bemerkenswert gut zu Johannes Schneiders Erfahrungsbericht passt (Übersetzung von mir):
„Es ist offensichtlich, dass allzu viele Eltern den Glauben gar nicht wirklich ernst nehmen wollen. Sie möchten zwar, dass ihren Kindern ein bisschen Glauben vermittelt wird, aber nicht in einem solchen Maße, dass sie sich wirklich darauf einlassen.“ 

So. Und die Folge daraus, dass dies ein so verbreitetes Phänomen ist, besteht darin, dass sich die im weitesten Sinne katechetischen Angebote für Kinder in einer durchschnittlichen Kirchengemeinde an dieser Erwartungshaltung der Eltern ausrichten. Man will schließlich niemanden verprellen. In einer Leserzuschrift, die Rod als „Update“ an seinen Blogartikel angehängt hat, wird berichtet, wie die Frau des Leserbriefschreibers zusammen mit dem Diakon ihrer Pfarrei ein Konzept entwickelte, das die Verantwortung für Kinderkatechese und Sakramentenvorbereitung prinzipiell in die Hände der Eltern legen wollte – und zu diesem Zweck vorsah, in der Gemeinde regelmäßige Kurse für die Eltern anzubieten statt für die Kinder. Das Projekt scheiterte daran, dass der Pfarrer der Gemeinde voraussagte, die Eltern würden nicht mitziehen. Was vermutlich eine realistische Einschätzung war – aber was glaubt man auf längere Sicht mit dem vorherrschenden Modell einer als kostenlose Dienstleistung angebotenen Minimalkatechese, die darauf ausgerichtet ist, niemanden zu überfordern, niemandem auf die Füße zu treten und auf keinen Fall irgendwie „fundamentalistisch“ zu wirken, zu erreichen? Nach allem, was ich in katholischen Pfarreien in verschiedenen deutschen Diözesen an Kindergottesdiensten und -katechesen miterlebt habe, muss ich sagen, es ist kein Wunder, wenn man den Großteil der Kinder, die zur Erstkommunion gehen, erst wiedersieht, wenn die Firmvorbereitung ansteht, und nach der Firmung dann überhaupt nicht mehr. Ich muss es noch schärfer formulieren: Ein Wunder wäre es, wenn es anders wäre. Fast könnte man auf die Idee kommen, genau dieses Ergebnis wäre beabsichtigt.

Beziehen wir diese Feststellungen nun wiederum auf Johannes Schneiders Beitrag in der Christ & Welt, dann könnte man sich natürlich fragen: Macht er sich womöglich unnötige Sorgen? Wenn er selbst, wie er es ja beschreibt, gerade durch sein kirchennahes Aufwachsen ja offenbar erfolgreich gegen ein allzu großes Ernstnehmen des Glaubens immunisiert wurde, wieso vertraut er dann nicht darauf, dass die Kirche das bei seinen Kindern genauso hinkriegt? Hier wird es nun richtig interessant. Der Autor zeigt sich nämlich überzeugt, dass die Art von harmloser Mittelklasse-Religiosität, in der er sich zu Hause fühlt – die „leicht verstaubte und sehr verweltlichte Amtskirche, die ich kenne und liebe“ –, keine Zukunft hat. Mit anderen Worten, er sieht auf längere Sicht (er spricht von „ 20 Jahren“) keinen gangbaren Mittelweg zwischen einem – wie er es formuliert – „glaubensstarken“ Atheismus und einem radikalen Entscheidungschristentum, das er mit „frömmelnden Freikirchlern“ assoziiert. „[U]nd mit dem frömmelnden Charisma, das die meisten Freikirchen durchweht, kann man mich einmal zum Nordpol und zurück jagen.“ Wenn es hierbei nur um einen bestimmten Stil der religiösen Praxis und des Redens über den Glauben ginge, wäre ich vielleicht sogar geneigt, ihm tendenziell zuzustimmen. Entscheidend ist für ihn aber offenbar etwas anderes: Nämlich, dass er „gar nicht will“, dass seine Kinder den christlichen Glauben „wortgetreu Buchstabe für Buchstabe nachbeten oder sogar anderen damit missionarisch auf die Nerven gehen“. Ihnen aber eine so mittelmäßige, halbherzige religiöse Sozialisation angedeihen zu lassen, wie er selbst sie erfahren hat, würde sie, so meint er, nur mit „einer unstillbaren Sehnsucht“ zurücklassen.

Nun, Johannes Schneiders persönliche Einstellungen will ich nicht weiter kommentieren, auch wenn seine Kinder mir ein bisschen leid tun (aber das wäre umgekehrt vermutlich genauso). Seine Prognosen hinsichtlich der Zukunftsfähigkeit einer sozial unauffälligen, angepassten, in jeder Hinsicht „harmlosen“ Kirchlichkeit halte ich jedenfalls für alles andere als weit hergeholt – und wundere mich daher nur umso mehr über diejenigen Akteure im institutionellen Apparat der deutschen Großkirchen, die ihre Zukunft gerade in einer noch größeren Vagheit und Unverbindlichkeit der Lehre, einer noch entschlosseneren Angleichung an den gesellschaftlichen Mainstream sehen. Denn das liefe – selbst wenn wir das Fass der Frage nach überzeitlich gültigen Wahrheiten an dieser Stelle gar nicht erst aufmachen wollen – schließlich darauf hinaus, gerade jene Chance zur Differenzerfahrung niederzuwalzen, von der Johannes Schneider glaubwürdig beschreibt, wie sehr sie seine Kinder fasziniert.




Freitag, 21. Dezember 2018

Schlechte Witze und „gute Katholiken“

Weihnachten steht vor der Tür, und die PR-Abteilung des Bistums Essen hat zu diesem Anlass einen humorigen Videoclip produziert, in dem eine Stewardess – im Stil einer Sicherheitseinweisung im Flugzeug – Verhaltensregeln für den Weihnachtsgottesdienst erläutert. Der Clip ist innerhalb kürzester Zeit "viral" geworden, wie man das heute wohl nennt. Diverse kirchliche oder kirchennahe Facebook-Seiten haben ihn geteilt, es hagelte positive Bewertungen, auch außerhalb kirchlich interessierter Kreise war die Resonanz beachtlich. 

Ich muss sagen, dass mich das Ausmaß dieses PR-Erfolgs etwas überrascht. Okay, was die Professionalität der Machart betrifft, ragt dieses Video durchaus positiv aus der Masse dessen heraus, was die Pressestellen und Social-Media-Redaktionen deutscher Diözesen sonst so verzapfen. Und es ist auch durchaus witzig. Als Beitrag in einer Comedy-Show fände ich den Gag mit der Stewardessen-Sicherheitseinweisung zum Gottesdienst durchaus gelungen. Wenn ein solcher Gag allerdings als kirchliche Eigen-PR daherkommt, habe ich dann aber doch ein paar kritische Anfragen. 

Zunächst: Offensichtlich reagiert die Grundidee des Videos auf das bekannte und verbreitete Phänomen, dass die Kirchen zu Weihnachten voll sind mit Leuten, die man zu anderen Zeiten des Jahres eher selten bis nie dort antrifft. Ganz so extrem wie in den Kirchen der EKD, wo – laut eigenen Angaben – der Gottesdienstbesuch zu Weihnachten um den Faktor 11 (ELF!!) größer ausfällt als an einem durchschnittlichen Sonntag, ist es in der katholischen Kirche wohl nicht, aber mit einem Faktor von 3-4 wird man vermutlich auch hier rechnen müssen. Selbst wenn man von einem Faktor von nur leicht über 2 ausginge, hieße das immer noch, dass die Weihnachtsgottesdienste mehrheitlich von Menschen besucht werden, die sich mit den in der Kirche üblichen Abläufen nicht gut auskennen. Ist es da nicht grundsätzlich eine gute Idee, den Leuten eine Orientierungshilfe an die Hand zu geben – und umso besser, wenn dies in augenzwinkernder, humorvoller Form geschieht? 

Ja, kann man so sehen. Denn selbstverständlich wäre es falsch, den "seltenen Kirchgängern", wenn sie denn mal da sind, zu verstehen zu geben: Wenn ihr sonst das ganze Jahr nicht kommt, wollen wir euch jetzt auch nicht hier haben. Das ist alle Jahre wieder ein großes Thema in kirchlichen oder sonst irgendwie an Kirchenthemen interessierten Medien, und bei aller unterschiedlichen Schwerpunktsetzung sind sich die diversen Beiträge in der Regel doch grundsätzlich darin einig, dass man den Umstand, einmal im Jahr eine große Zahl von Gottesdienstbesuchern zu haben, die die Kirche sonst das ganze Jahr über nicht erreicht, als Chance betrachten sollte.

Aber als Chance wozu genau? Wenn es um Neuevangelisation gehen soll - darum, Menschen zu Jesus Christus zu führen -, dann genügt es nicht, wie der Kommunikationsberater Erik Flügge es in seiner Kritik des Stewardessenvideos formuliert, "emotionalen Bedürfnissen [...] Ausdruck zu verleihen", "das Lärmen und Toben der Außenwelt" zu durchbrechen und "einen Moment der inneren Einkehr in all dem Chaos der vergangenen Tage und Stunden" zu ermöglichen; das mag an und für sich schon ein richtiger Ansatz sein, notwendig wäre es darüber hinaus aber, "rüberzubringen", worin die Verheißung des Evangeliums (und, speziell zu Weihnachten, die heilsgeschichtliche Bedeutung der Menschwerdung Gottes) besteht. Davon ist in dem besagten Video keine Spur zu finden: In der Tagespost bemängelt Stefan Meetschen, "dass die für den Spot Verantwortlichen das Weihnachtsereignis als sentimentalen Kitsch-Event auffassen, was auf eine Entfremdung vom Mysterium hindeutet. Angesichts eines derartigen Glaubensschwundes wäre es wohlfeil, Kritik an der Postmoderne oder der säkularen Welt zu üben. Interne Verweltlichung scheint das Problem zu sein."

Aussichtsreich sind Bemühungen, die Christmette in den Dienst der Neuevangelisation der Kirchenfernen zu stellen - sofern es solche Bemühungen denn gibt -, allerdings überhaupt wohl nur insoweit, wie die "seltenen Gottesdienstbesucher" ein gewisses Maß an Empfänglichkeit für diese Botschaft bereits mitbringen. Was dem entgegensteht, ist eine unter "distanzierten Kirchenmitgliedern" wohl einigermaßen weit verbreitete Haltung, die gewisse lebensabschnittsbezogene Feiern (Taufe, Erstkommunion, Firmung, Hochzeit, Beerdigung), aber eben auch den feierlichen Gottesdienst zu Weihnachten als Dienstleistung in Anspruch nimmt -- und dies, wie der Pastoraltheologe Rainer Bucher es einmal formulierte, "selektiv und mit oft sehr eigenwilligen Sinnzuschreibungen". Und da scheint mir das Essener Stewardessenvideo geradezu exemplarisch für einen Stil kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit, der gerade diese Haltung beim Adressaten sowohl voraussetzt als auch noch bestärkt: Der Festgottesdienst wird als Konsumangebot angepriesen, die Kirche erscheint als Dienstleister, der Gottesdienstbesucher als Kunde. Wenn sogar ein Erik Flügge meint, dass solche "Aktionen [...], die vermeintlich lustig daher kommen und ob ihrer Absurdität durchaus Reichweite gewinnen, [...] dem Weihnachtsfest die Würde rauben", dann sollte das schon zu denken geben. Stefan Meetschen spricht gar vom "Bild einer Kirche, die weder Glaube noch Orientierung geben kann, weil sie von Sinnen zu sein scheint".

Humor in der Kirche sorgt oft für Verdruss. (Symboldbild: Dierk Schaefer, Bildquelle und Lizenz hier.) 

Aber ich habe noch ein anderes Huhn mit diesem PR-Video zu rupfen. Nachdem ich es zum ersten Mal (halb) angesehen hatte, äußerte ich mich in einer geschlossenen Diskussionsgruppe auf Facebook "überzeugt, dass Beiträge wie dieser zu dem alleinigen Zweck produziert werden, den Leuten, die sich darüber beschweren, Humorlosigkeit vorwerfen zu können". Das war in dieser zugespitzten Formulierung ("alleiniger Zweck") natürlich nicht hundertprozentig ernst gemeint, aber im Großen und Ganzen bestätigten die Reaktionen auf vereinzelte kritische Kommentare meine Einschätzung eindrucksvoll. Hier eine kleine Auswahl von Nutzerkommentaren auf der Facebook-Seite des Bistums Essen (Rechtschreibung und Interpunktion unverändert): 
"Nur wer auch mal über sich selbst lachen kann wird ernst genommen"  
"ein bisschen Spaß muss man auch als Christ noch verstehen können!"  
"Schon mal was von Humor gehört?" 
"Wer wird denn da gleich zur Spaßbremse"  
"Meine Güte, humorlos geht die Welt zugrunde! Ich fass es nicht..."  
"Wer immer in allem etwas Negatives findet hat echt ein Problem."  
"auch und gerade zu Weihnachten ein bisschen weniger den Paradechristen heraushängen lassen und ein bisschen mehr Spass haben – da kommt man Jesus Christus sehr viel näher als man denkt." 
"Wer das nicht abkann, sollte sich mal überlegen, warum die Leute nicht mehr kommen : weil verknöcherte Menschen von offenen Herzen reden und dann doch Gegenteilig handeln. Glaube hat etwas mit Lust, Jubel und Freude zu tun und nicht mit Gift und Galle!" 
"Willkommen in 2018. Dürfen Sie überhaupt Facebook nutzen? Finde ich nirgends in der Bibel." 
"Deiner Haltung wegen rennen die Leute aus der Kirche. Schade!" 
Und last not least natürlich der Klassiker: 
"Vor solchen Leute gruselt mir. Vermeintliche Christen, die mental den Taliban oder dem IS näher sind als der Gemeinschaft..." 
Natürlich ist das im Großen und Ganzen ein bekanntes Phänomen. Ob katholisch.de, domradio oder die Social-Media-Präsenzen der Bistümer: Die Kommentarbereiche werden dominiert von einem sich selbst als "modern", "aufgeklärt", "liberal" oder "progressiv" verstehenden Mob, der jeden "konservativen" oder "strenggläubigen" Katholiken, der es wagt, den Mund aufzutun, unverzüglich einen Kopf kürzer macht. Die Aggressivität, die in solchen Kommentarschlachten herrscht, wirkt auf den ersten Blick schockierend, ist aber im Grunde ganz gut erklärbar. Man tut gut daran, zu bedenken, dass das Selbstverständnis "moderner, aufgeklärter, liberaler Katholiken" ein Maß an kognitiver Dissonanz mit sich bringt, das man erst mal aushalten können muss: Man definiert sich als legitimes Mitglied einer Glaubensgemeinschaft, deren Glauben man nicht teilt; oder anders ausgedrückt, man bestreitet grundsätzlich die Autorität des kirchlichen Lehramts, eine Glaubenslehre als verbindlich zu definieren, will sich aber gleichzeitig keinesfalls "das Katholischsein absprechen" lassen. Ein probates Mittel, diesen Widerspruch vor sich selbst zu rechtfertigen, besteht darin, sich einzureden, das machten ja alle so, und was man als Katholik theoretisch so alles glauben müsste, glaube ja "kein normaler Mensch" wirklich. Wenn einem dann aber in der freien Wildbahn des Internets jemand begegnet, der das eben doch tut, dann ist diese Selbstrechtfertigungsstrategie bedroht -- und kann nur dadurch gerettet werden, dass man beschließt, dieser Gläubige sei eben "kein normaler Mensch". Sondern ein Feind, den es zu vernichten gilt. Einer, der schuld daran ist, dass "die Leute aus der Kirche rennen". Der "mental den Taliban oder dem IS" nahe steht. Und schon ist die eigene Welt wieder in Ordnung.

Dass die Moderatoren der betreffenden Social-Media-Plattformen in solche Kommentarschlachten kaum einmal mäßigend eingreifen, sondern sich eher noch an dieser Form des Mobbings beteiligen oder es zumindest durch "Likes" unterstützen, kann man zum Teil wohl damit erklären, dass die betreffenden Mitarbeiter sich selbst eher dem "modernen, aufgeklärten, liberalen" Lager zugehörig fühlen. Aber schließlich haben wir es (angeblich) mit Profis zu tun, von denen eigentlich erwartet werden dürfte, dass sie sich in ihrer Arbeit weniger von ihren persönlichen Ansichten leiten lassen als davon, was ihre Auftraggeber von ihnen erwarten. Und da muss man dann schon sagen, dass das Veröffentlichen von Beiträgen, die geradezu darauf berechnet zu sein scheinen, den "konservativeren" oder "strenggläubigeren" Teil des Publikums zu triggern und anschließend dem liberalen Mob zum Fraß vorzuwerfen, ziemlich deutlich macht, wen die Verantwortlichen als ihre bevorzugte Zielgruppe ansehen und wen nicht. Letztlich äußert sich darin eine strategische Ausrichtung kirchlicher Selbstrepräsentation, der die im eigentlichen Sinne gläubigen Katholiken eigentlich lästig sind -- weil sie dem Bemühen im Weg stehen, sich als zeitgemäßer, kundenorientierter Dienstleister auf dem Markt für Spiritualität und Lebenshilfe "zukunftsfähig" aufzustellen. Ganz in diesem Sinne wird das kirchliche Kernmilieu auch im Video repräsentiert: in Gestalt einer Frau, "die sich mit gelbem Häubchen auf einer Kirchensitzbank niedergelassen hat und eine miesepetrige Miene macht. Kann man die Kirchen- und Gottesdiensttreue der letzten Gläubigen sarkastischer aufspießen und verprellen?", fragt Stefan Meetschen in der Tagespost zu Recht. Ich persönlich bin geneigt, diese Frage dahingehend zu beantworten, dass dieser Effekt voll und ganz beabsichtigt ist. Gläubige Katholiken müssen sich hierzulande mehr und mehr darauf einstellen, in ihrer eigenen Kirche unerwünscht zu sein. Manch einer hat das sogar schon in seiner eigenen Pfarrgemeinde erfahren müssen.

Tröstlich bleibt es da allein, sich - gerade zu Weihnachten - daran zu erinnern, dass die Kirche in letzter Instanz nicht denen gehört, die sich so beflissen zu zeigen, sie als marktkonformen Anbieter spiritueller Wellness neu zu erfinden, sondern dass Jesus Christus der Herr der Kirche ist. Schön wäre es freilich, wenn die Strategen in den Ordinariaten und den Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit sich ebenfalls daran erinnerten.


Mittwoch, 19. Dezember 2018

Politik wird uns nicht retten - das gilt auch für Kirchenpolitik



Große Aufregung hat die jüngst vom Bundeskongress der JuSos, des Jugendverbands der SPD,beschlossene Forderung nach ersatzloser Streichung der Strafrechtsparagraphen 218 und 219 verursacht – eine Forderung, die praktisch auf eine uneingeschränkte Legalisierung von Abtreibung hinausliefe. Dabei kann der Position der JuSos eine gewisse Folgerichtigkeit kaum abgesprochen werden: Wer nicht bereit ist, ein ungeborenes Menschenkind ab dem Moment der Zeugung als einen Menschen mit eigenen Rechten anzuerkennen, für den gibt es auch keinen zwingenden Grund, dies ab der zwölften Schwangerschaftswoche zu tun. So gesehen verweist der Beschluss des JuSo-Kongresses im Grunde nur darauf, dass es sich bei der Neuregelung des Abtreibungsstrafrechts in den 1990er Jahren um einen letztlich faulen Kompromiss gehandelt hat – einen Kompromiss allerdings, den gerade deshalb, weil er so mühsam errungen wurde, rund ein Vierteljahrhundert lang niemand ernsthaft anzutasten gewagt hat. Das ist nun offensichtlich vorbei. Wenn allerdings die Radikalität der Forderung, Abtreibung praktisch bis unmittelbar vor der Geburt zu erlauben, auch bei Menschen, die durchaus nicht prinzipiell gegen Abtreibung sind, emotionale Widerstände hervorruft, dann wohl nicht zuletzt deshalb, weil es so offensichtlich ist, dass das Kind kurz vor der Geburt derselbe Mensch ist wie kurz nach der Geburt. Wenn dieser Umstand stärker ins öffentliche Bewusstsein rückt, dann liegt in der von den JuSos angestoßenen Debatte möglicherweise sogar eine Chance für das Anliegen des Lebensschutzes. 

Derweil hat die neu gewählte CDU-Bundesvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer, die sich in der Vergangenheit als entschiedene Gegnerin der sogenannten „Ehe für alle“ profiliert hatte, klargestellt, zwar bleibe sie bei ihrer „persönlichen Überzeugung“, dass die Ehe eine „Verbindung von Mann und Frau“ sei; dennoch wolle sie an der im Herbst 2017 vom Deutschen Bundestag beschlossenen Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe „auf keinen Fall rütteln“. „Selbstverständlich“, so erklärte sie im ZDF-Morgenmagazin, müsse man „die Entscheidung des Bundestags akzeptieren undumsetzen“. Deutlicher kann man die Auffassung, „persönliche Überzeugungen“ hätten auf dem Parkett der großen Politik nichts zu suchen, wohl kaum ausdrücken. Während „von links“ eine deutlich ideologisch ausgerichtete Gesellschaftspolitik vorangetrieben wird, die mittels einer möglichst flächendeckenden Krippenerziehung – erinnern wir uns, dass der heutige Vizekanzler Olaf Scholz schon 2002 den Begriff der „Lufthoheit über den Kinderbetten“ prägte – schon Kleinkinder beispielsweise mit einem an Gender-Theorien orientierten Konzept von „geschlechtlicher Vielfalt“ zu indoktrinieren sucht, werden konservative, gar christlich-konservative gesellschaftspolitische Vorstellungen bestenfalls noch als reine Privatmeinung gelten gelassen, mit der im wahrsten Sinne des Wortes „kein Staat mehr zu machen“ ist. Damit bestätigt sich eine unbequeme Wahrheit, die der US-amerikanische Autor Rod Dreher in seinem Buch „Die Benedikt-Option“ ausspricht: „Politik wird uns nicht retten.“ Traditionell christliche Auffassungen über Sexualität, Familie und Elternschaft, die noch vor wenigen Jahrzehnten breite Akzeptanz in der Gesellschaft genossen, gelten heute als rückständig, diskriminierend und zunehmend sogar als strafwürdig, und es gibt keine nennenswerte politische Kraft, die ernsthaft gewillt wäre, sich diesem gesellschaftlichen Trend entgegenzustemmen.

„Und nicht nur den öffentlichen Raum haben wir verloren“, fährt Rod Dreher fort, „sondern auch das vermeintliche Hochplateau unserer Kirchen ist kein sicherer Boden mehr.“ Ein hartes Urteil, dem jedoch kaum widersprochen werden kann – und das gilt für Deutschland womöglich noch mehr als für andere Teile der „westlichen Welt“: Während weite Teile der evangelischen Landeskirchen sich in Fragen von Sexualität und Gender, aber auch in der Frage des Lebensschutzes längst von traditionellen Positionen der christlichen Ethik und des christlichen Menschenbildes abgewandt haben, lässt sich zunehmend auch in der katholischen Kirche eine Tendenz dazu beobachten, die kirchliche Lehre zu solchen und ähnlichen Fragen zu relativieren, schamhaft zu beschweigen oder sogar offen in Zweifel zu ziehen. Nicht zuletzt hat die katholische Kirche in Deutschland gewissermaßen ihr eigenes Pendant zu den JuSos, nämlich in Gestalt des BDKJ, des „Bundes der deutschen katholischen Jugend“. Bei der jüngst zu Ende gegangenen Jugendsynode im Vatikan erregte der BDKJ-Bundesvorsitzende Thomas Andonie Aufsehen mit einem Redebeitrag, in dem er den Zugang von Frauen zu Weiheämtern sowie „mehr Mitbestimmung durch junge Menschen“ forderte und die Haltung der Kirche „zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und zu vorehelichem Geschlechtsverkehr“ kritisierte. Wenn der offizielle Dachverband der katholischen Jugendorganisationen Deutschlands solche Positionen vertritt, dann lässt dies an ein weiteres Zitat aus Rod Drehers „Benedikt-Option“ denken: „Dies sind keine schlechten Leute. Vielmehr sind es junge Erwachsene, die von ihrer Familie, ihrer Kirche und anderen Institutionen, die ihr Gewissen und ihre Vorstellungskraft gebildet oder vielmehr gerade nicht gebildet haben, furchtbar im Stich gelassen wurden.“ Wenn sich in kirchlichen Gremien und kirchennahen Verbänden im Wesentlichen dieselben (oder zumindest sehr ähnliche) Leute engagieren wie in politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Institutionen, und wenn diese Leute dann wie selbstverständlich davon ausgehen, in der Kirche müssten auch dieselben Regeln gelten wie überall sonst in Politik und Gesellschaft, dann kann man ihnen das kaum zum Vorwurf machen: Sie wissen es schlicht nicht besser, sie haben überhaupt keine Vorstellung davon, dass es auch anders sein könnte. Dies ist die logische Folge der jahrzehntelangen Strategie der Volkskirchen, in sich selbst die säkulare Gesellschaft gewissermaßen zu verdoppeln, anstatt ein Gegengewicht gegen sie zu bilden. Die Mächte des Säkularismus haben die letzten zwei bis drei Generationen von Kirchenmitgliedern in ihrem Sinne katechisiert, und die Kirche hat dabei weitgehend tatenlos zugesehen. Zwar betreibt die Kirche Kindergärten, Schulen und Hochschulen, aber auch diese orientieren sich an weltlichen Standards, mit dem Ergebnis, dass auch dort den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen kaum etwas anderes vermittelt wird als eine im Kern säkulare Weltanschauung mit ein bisschen religiöser Garnierung.
Religiöse Kindererziehung, Symbolbild (Quelle: Pixabay
Aber es handelt sich nicht allein um ein Versagen der Katechese. Selbst wenn es um die katechetische Bildung hierzulande erheblich besser stünde, als es tatsächlich der Fall ist, wäre es noch nicht genug, die Lehre der Kirche lediglich als theoretisches Wissen zu vermitteln. Sich gegen die herrschenden Trends der säkularen Gesellschaft zu stellen, erfordert einen Mut, der nur aus einem vertieften und lebendigen Glauben wachsen kann. Und es erscheint mehr als fraglich, ob eine als Dienstleistung missverstandene Pastoral, die die beitragszahlenden Kirchenmitglieder als Konsumenten, ja als Kunden betrachtet und sie mit „niederschwelligen Angeboten“ bei der Stange zu halten versucht, in der Lage ist, einen solchen Glauben zu fördern. Beziehungsweise ob dies überhaupt angestrebt wird.

Es soll hier aber nicht darum gehen, Pessimismus zu verbreiten. Selbstverständlich gibt es im Bereich der Kirche auch positive, hoffnungsvoll stimmende Entwicklungen. Sowohl in traditionsorientierten wie auch in eher charismatisch ausgerichteten geistlichen Gemeinschaften ereignen sich bemerkenswerte Aufbrüche zur Neuevangelisation, gerade auch unter jungen Menschen. Es gibt die Gebetshausbewegung, es gibt Projekte wie die „Home Mission Base“ der Loretto-Gemeinschaft, Initiativen wie Nightfever, und nicht zuletzt gibt es den YOUCAT. Zu fragen ist allerdings, wie viel von solchen Impulsen eigentlich in der alltäglichen Praxis der „ganz normalen“ Pfarrgemeinden ankommt. Schließlich können die geistlichen Gemeinschaften, so wichtig sie als Impulsgeber für das Gedeihen der Kirche zweifellos sind, die Aufgabe der Neuevangelisation nicht allein stemmen. Das freilich ist eine Herausforderung, die jeden von uns angeht. Der Satz „Politik wird uns nicht retten“ gilt auch für die Kirchenpolitik: Es wäre wenig aussichtsreich, zu erwarten, dass Missstände, die über Jahrzehnte gewachsen sind, sich durch administrative Maßnahmen „von oben“ beheben lassen sollten. Vielmehr ist es höchste Zeit für einen Ansatz, der in dem viel diskutieren Buch „Mission Manifest“ unter dem Schlagwort „Demokratisierung von Mission“ beschrieben wird: Es ist die Aufgabe jedes einzelnen Gläubigen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was er in seinem unmittelbaren Umfeld, in seiner Familie, in seiner Nachbarschaft und natürlich in seiner Pfarrgemeinde zu einer geistlichen Erneuerung der Kirche beitragen kann. Wir alle sind in Taufe und Firmung zu Priestern, Propheten und Königen gesalbt worden. Machen wir was draus! 


[P.S.: Meinen Stammlesern hatte ich schon vor einiger Zeit einen Artikel über die umstrittene KiTa-Broschüre der Amadeu-Antonio-Stiftung und einen weiteren, der sich mit einem Beitrag aus der Antichrist & Unterwelt zum Thema "Hilfe, meine Kinder sind frömmer als ich!" auseinandersetzt, in Aussicht gestellt. Die sind beide in Arbeit. Ich komm nur zur Zeit zu nichts. Ihr kennt das. Vielleicht. Also, kurz und gut: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, ein bisschen Geduld noch, die Artikel kommen noch!] 

[P.P.S.: Ja, dasselbe gilt auch für die Fortsetzung der Saga um die eingekerkerte Nonne.] 




Samstag, 1. Dezember 2018

Kirche und Missbrauch in Nordenham: Ein Lehrstück aus der Gerüchteküche


Tja, Leser: Ich hatte zwar gerade erst meine alte Heimatgemeinde St. Willehad Nordenham/Butjadingen/Stadland am Wickel, aber es gibt tatsächlich noch mehr von dort zu berichten: Unlängst, nämlich am Montag, dem 26.11., fand im Pfarrzentrum von St. Willehad eine Informationsveranstaltung zum Thema „Sexueller Missbrauch in der katholischer Kirche“ statt. „Angesichts der Brisanz des Themas war die Resonanz überschaubar“, berichtet Jens Milde in der Nordwest-Zeitung. „Gerade einmal acht Besucher kamen zu der Veranstaltung.“ 



Dieser überschaubaren Runde teilte Pfarrer Karl Jasbinschek u.a. mit, gemäß den Präventionsrichtlinien der katholischen Kirche sei „jede Gemeinde verpflichtet, ein eigenes Schutzkonzept zu entwickeln. In St. Willehad wird ein solches Konzept gerade erarbeitet.“ Ehrlich gesagt wundert es mich, dass das erst jetzt geschieht. In anderen mir bekannten Pfarreien gibt es solche Schutzkonzepte schon seit Jahren. Aber in Nordenham gehen die Uhren offenbar anders. 



Derweil hatten die Teilnehmer der Diskussionsveranstaltung allerdings ohnehin ihre eigenen Vorstellungen zur Prävention sexuellen Missbrauchs in der Kirche: Laut NWZ-Bericht waren sie „mehrheitlich der Meinung, dass das Zölibat nicht mehr zeitgemäß ist.“ Die Mehrheit von acht Personen, wohlgemerkt, also fünf bis sieben Personen, eine stolze Zahl. Nun gut, Spaß beiseite: Ich zweifle nicht unbedingt daran, dass sich auch dann eine Mehrheit der Veranstaltungsteilnehmer in diesem Sinne geäußert hätte, wenn die Veranstaltung besser besucht gewesen wäre. Dass eine Abschaffung des Zölibats ein probates Mittel zur Eindämmung sexuellen Missbrauchs durch Priester sei, ist zwar eine Auffassung, die ausgesprochen bizarre Vorstellungen über die menschliche Sexualität voraussetzt, aber um das zu bemerken, müsste man erst einmal darüber nachdenken, und wer tut das schon? Wenn als „Argument“ gegen irgend etwas vorgebracht wird, das in Frage stehende Irgendwas sei „nicht mehr zeitgemäß“, hat sich jedwede sachliche Auseinandersetzung von vornherein erledigt. 

Zugegeben: Die Annahme, der Zölibat sei „nicht mehr zeitgemäß“, entsteht nahezu zwangsläufig, wenn man über Jahrzehnte hinweg immer wieder Forderungen nach seiner Abschaffung zu hören bekommt, aber so gut wie nie ein Plädoyer für seine Beibehaltung. Die geistliche Dimension des Zölibats – wie es unlängst ein Freund auf Facebook formulierte: „Ehelosigkeit nicht als Freiheit VON etwas, sondern als eschatologische, endzeitliche Offenheit auf die 'Hochzeit des Lammes' hin“ – wird selbst innerhalb der Kirche immer weniger verstanden, aber das ist ja auch kein Wunder, wenn's den Leuten niemand erklärt. So meint auch Pfarrer Jasbinschek, „die Symbolkraft des Verzichts sei für viele Gemeindemitglieder heute kaum noch nachvollziehbar“. Ah ja. Hat er denn mal versucht, sie ihnen begreiflich zu machen? Mein Eindruck ist, dass diesen Versuch kaum mal jemand unternimmt – man könnt' ja für „konservativ“ oder Schlimmeres gehalten werden. Da sagt ein Pfarrer dann lieber etwas Unverfängliches wie etwa, „dass er keine Notwendigkeit sieht, am Pflichtzölibat festzuhalten, auch wenn es für ihn persönlich bindend sei“. 

Der NWZ-Artikel wurde u.a. in einer Facebook-Gruppe mit dem Namen „Du kommst aus Nordenham, wenn...“ geteilt, und auch da äußerte eine Kommentatorin prompt, die katholische Kirche solle „endlich mal vom Zölibat Abschied nehmen“; warum sie dieser Meinung war, wusste sie auf Nachfrage nicht zu erläutern. Allerdings war das noch ein vergleichsweise harmloser Kommentar. Bei anderen Facebook-Nutzern löste die Kombination der Begriffe „Kirche“ und „Missbrauch“ offenkundig noch ganz andere Pawlowsche Reflexe aus: „Die Kirche will Kinder vor Missbrauch schützen ? Na der war ja mal richtig gut“, schrieb einer, und eine andere: „Die Kirche naja da sind sie ja in den 'richtigen Händen'“. Eine weitere Diskussionsteilnehmerin warf die Frage in die Runde:
„War nicht ein Fall von paar Jahren, das grade in Nordenham Pfarrer würde beschuldigt das er Kinder genötigt hat??“
...was einer von denen, die sich zuvor bereits zu Wort gemeldet hatten, mit einem lakonischen „jo“ beantwortete. 

Nun ist Nordenham eine ziemlich kleine Stadt, und da der Kontext der Diskussion nahe legte, es sei ein katholischer Pfarrer gemeint, schränkte sich der Kreis derer, auf die diese Anschuldigung sich beziehen könnte, ganz erheblich ein: Rechnet man ein paar Geistliche nicht mit, die jeweils für eine kurze Übergangszeit als Pfarradministratoren in St. Willehad eingesetzt wurden, dann gab es in den letzten ca. 30 Jahren nur vier katholische Pfarrer in Nordenham, und die kenne ich alle persönlich. Letzteres ist natürlich kein Beweis für ihre Unschuld, aber es sollte mich doch sehr wundern, wenn ich von derartigen Anschuldigungen gegen sie, so es denn welche gäbe, nie etwas gehört hätte. Gerade im Zuge der heftigen Konflikte innerhalb der Gemeinde, die es in den letzten Jahren gegeben hat, hätte das Thema doch wohl irgendwo auftauchen müssen. Und meines Wissens sind auch gegen keinen dieser vier Geistlichen irgendwelche Maßnahmen seitens des Bistums verhängt worden, wie sie für den Umgang mit Missbrauchsvorwürfen typisch wären (z.B. Kontaktverbot zu Kindern und Jugendlichen). 

Folglich schalteten meine Liebste und ich uns in die Facebook-Debatte ein, um Genaueres über diese angeblichen Anschuldigungen zu erfragen. Offenbar wusste aber niemand Genaueres. Okay, ich kenne Nordenham aus eigener Erfahrung gut genug, um eine Vorstellung davon zu haben, wie sich da Gerüchte verselbständigen. Also bemühte ich mich, mit Hilfe von Onkel Google selbst herauszufinden, was an der Sache dran war. Es dauerte nicht lange, bis ich fündig wurde.

Tatsächlich waren in Nordenham vor ein paar Jahren mindestens drei minderjährige Jungen in einem kirchlichen Kontext Opfer von mehrfachem und teilweise schwerem sexuellen Missbrauch geworden; der Täter, der im Frühjahr 2013 vom Landgericht Oldenburg zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt wurde, war allerdings kein Pfarrer, sondern war lediglich nebenberuflich – auf Minijob-Basis – als Kirchenmusiker tätig. 

In der evangelischen Kirchengemeinde.



Tja, so entstehen Gerüchte.

Eine der Wortführerinnen in der besagten Facebook-Diskussion kommentierte die Richtigstellung mit dem geradezu klassischen Satz:
„Ehrlich mir is das sowas von egal ob kath. oder evangelisch...find beides scheisse...ehrliche meinung...“
Tja, was soll man da noch sagen. Angesichts solcher argumentativer Glanzleistungen bin ich fast geneigt, der Behauptung Glauben zu schenken, der Baufinanzierungsskandal um das DiözesaneZentrum St. Nikolaus in Limburg habe seinerzeit auch zu überdurchschnittlich vielen Austritten aus der evangelischen Kirche geführt...


(P.S.: Nicht vergessen -- noch bis zum 31.01.2019 kann an der Fragebogenaktion zur Erstellung eines Lokalen Pastoralplans für St. Willehad teilgenommen werden!!)