Mittwoch, 6. Juni 2018

Von der Volkskirche zum Gefühlsdienstleister in No Time At All

In der reformierten United Church of Canada gibt es eine Pastorin, die nicht an Gott glaubt. Okay: Wenn man es so formuliert, dann ist das wohl keine so spektakuläre Nachricht. Geistliche, denen ihr Glaube an Gott irgendwie abhanden gekommen ist, gibt es vermutlich in diversen Konfessionen, und womöglich mehr als man denkt. Allerdings werden die sich, sofern ihr Amt ihnen lieb ist, wohl eher hüten, sich das anmerken zu lassen. Nicht so Gretta Vosper: Die ist bekennende Atheistin und gestaltet auch ihre Gottesdienste äh, Gemeindeversammlungen entsprechend. Ich würde mal behaupten, außerhalb Kanadas ist es schwer vorstellbar, dass eine christliche Glaubensgemeinschaft, und sei sie noch so liberal, ihrem geistlichen Personal so etwas durchgehen ließe. 

Oder? Zumindest in einigen Teilkirchen der EKD scheint es jedenfalls kein besonders großes Problem zu sein, wenn Pastoren oder Pastorinnen sich zu einem selbstgestrickten Gottesbild bekennen, das zu demjenigen der christlichen Überlieferung in einem gewissen, sagen wir mal, Spannungsverhältnis steht. In der Regionalausgabe Nord der taz etwa erschien unlängst ein Interview mit der jungen Hamburger Pastorin Jil Becker, und da heißt es gleich in der Überschrift: "Gott ist für mich nicht allmächtig". Ganz am Ende des Interviews führt die Pastorin dies näher aus: "Gott ist für mich nicht allmächtig, jedenfalls nicht in dem Sinne, als dass er beeinflussen könnte, ob jemand an Krebs erkrankt oder nicht. An solche Wunder glaube ich nicht." 

Ich will mich hier gar nicht damit aufhalten, dieses Gottesbild auf seine philosophische Stimmigkeit hin zu befragen; ich stelle mir vielmehr die Frage: Was soll dieses "für mich" eigentlich bedeuten? Wenn Gott eine objektive Realität ist, ist Er dann nicht so, wie Er ist, unabhängig davon, wie Frau Becker, oder ich, oder sonst irgendwer Ihn sich gern vorstellt? Und wenn Er das nicht wäre, wäre Er dann nicht exakt jener imaginäre Freund, als den Atheisten der eher grobschlächtigen Art Ihn so gern verlachen? 

Freilich: Der radikale Subjektivismus, der aus Formulierungen wie "Gott ist für mich..." spricht, ist an und für sich nichts Neues. In der Boulevardpresse ist es schon seit Jahrzehnten gängig, Interviewpartner mit Fragen nach dem Muster "Was bedeutet xy für Sie?" zu behelligen, und inzwischen machen da auch schon die Social-Media-Präsenzen von Bistümern mit. Die Botschaft, die solche Fragen (und die Antworten darauf) mehr oder weniger unterschwellig transportieren, lautet: Die Dinge haben an sich keine Bedeutung, sondern nur die, die der Einzelne ihnen zuschreibt. Wird diese Sichtweise auch auf Gott angewendet, dann ist es allerdings kein Wunder, wenn Atheisten oder religiös indifferente Mitbürger überhaupt nicht einsehen, weshalb sie auf -- nein, sagen wir nicht "die religiösen Gefühle", sondern die religiösen Überzeugungen gläubiger Menschen Rücksicht nehmen sollten. Die sind schließlich selbst schuld, sie haben es sich ja selbst so ausgesucht. Sie könnten ja auch an was anderes glauben oder an gar nichts

Ich bin tatsächlich ziemlich überzeugt, dass religiöser Glaube von nicht wenigen Außenstehenden so oder so ähnlich verstanden bzw. missverstanden wird, und Leute, die ohne rot zu werden Sätze sagen, die mit "Für mich ist Gott..." anfangen, geben ihnen darin Recht. Ich muss sagen, ich verstehe schlechterdings nicht, wie es möglich sein soll, ernsthaft an etwas zu glauben, was man sich eingestandenermaßen selbst ausgedacht hat. 

Aber so richtig tut Pastorin Becker das ja auch gar nicht. "Ich [...] würde [...] sagen, dass 80 Prozent meines Glaubens aus Zweifeln bestehen“, gibt sie zu Protokoll. Das lässt immerhin hoffen. Gleichzeitig ist es eine interessante Frage, wie man mit einem Glauben, der zu 80% aus Zweifeln besteht, eigentlich Pastorin wird, und diese Frage interessiert auch die Interviewerin der taz brennend. Jil Becker gibt daher einige Einblicke in ihre religiöse Sozialisation und ihren Weg zum kirchlichen Amt, und diese Einblicke sind nicht zuletzt in Hinblick auf die Volkskirchendebatte, die mich hier ja in letzter Zeit vorrangig beschäftigt, höchst bemerkenswert. So verrät die junge Pastorin: 
"[I]ch komme aus einer ganz volkskirchlichen Familie. Sonntags Gottesdienst? Ich wüsste nicht, dass wir da waren. Aber [...] wenn jemand gestorben ist, dann war klar, dass der Pastor oder die Pastorin die Beerdigung leiten würde. Wenn ein Kind auf die Welt gekommen ist, wurde es getauft. Es war einfach immer klar, wer der Pastor ist und dass die Kirche immer offen steht." 
Meine Herrn. "Volkskirchlich" zu sein heißt also, sonntags nicht zur Kirche zu gehen? So düster hätte ja nicht einmal ich den Zustand des Systems Volkskirche gezeichnet. Taufe und Beerdigung werden freilich als Dienstleistungen in Anspruch genommen; da wird deutlich, was etwa der evangelische Theologe Michael Welker meint, wenn er mit gelindem Sarkasmus von einer "Gemeinschaft der Kasualienkonsumenten" spricht.[*] 

Mäßig passendes Symbolbild. (Paul M. Walsh, Creative Commons-Lizenz CC BY 2.0
Dass Jil Becker dennoch bei der Theologie landete, schreibt sie im Wesentlichen zweierlei Einflüssen zu - einerseits dem "Gebet [ihrer] Mutter am Kinderbett": "Das war ein sehr intimer, innerlicher und zarter Kinderglaube, der mir beigebracht wurde". Und andererseits: 
"Ich hatte einen ganz tollen Pastor in meiner Jugend. Er hat tolle Jugendarbeit gemacht und ich dachte: So ist Kirche? So ist ein Pastor? Cool! Dann kam noch eine gute Religionslehrerin dazu. Sie hat mir immer mal wieder Texte von Dorothee Sölle gegeben, einer eher linkspolitischen Theologin. Ich war damals schon eher links orientiert und habe mich gefragt, wie Politik und Glaube zusammen funktionieren können. Mit Sölles Texten habe ich gemerkt, dass das geht." 
Hätte sie doch stattdessen lieber Dorothy Day gelesen! Wobei man einräumen muss, dass nicht Wenige, die sich heute auf Dorothy Day berufen, es irgendwie geschafft haben, die tiefe und nach heutiger Auffassung sogar ausgesprochen "konservative" Frömmigkeit, die die Mitbegründerin der Catholic Worker-Bewegung mit ihrem "linkspolitischen" Engagement unter einen Hut zu bringen verstanden hat, unter den Tisch fallen zu lassen. Aber das ist ein Thema für sich. Halten wir lieber mal fest, was sich aus Pastorin Beckers Interviewaussagen über ihren Background extrapolieren lässt: Auf der einen, der explizit theologischen Seite haben wir eine Reduktion der christlichen Heilsbotschaft auf ein ethisches Programm, das als ausgeprägt politisch verstanden und mit "linken" Positionen identifiziert wird; auf der anderen einen "intime[n]", "innerliche[n]", d.h. subjektiven und gefühlsbetonten "Kinderglaube[n]". Was bei der Verquickung dieser doch eigentlich recht disparaten Elemente herauskommt, ist geradezu ein Lehrbuchbeispiel für Moralistisch-Therapeutischen Deismus

Ich möchte übrigens, ehe ich zum Schluss komme, zu Protokoll geben, dass es mir nicht darum geht, Jil Becker persönlich zu attackieren oder zu veralbern. Das wäre wohl auch kaum der Mühe wert. Vielmehr gehe ich davon aus, dass sie mit den Auffassungen, die sie in diesem Interview zu erkennen gibt, gerade kein Einzelfall ist. Im Übrigen hat sie gerade eine "Funktionspfarrstelle der Nordkirche" angetreten, in der sie "für Nachwuchsförderung und Studierendenbegleitung" zuständig ist. Und das finde ich dann schon irgendwie beunruhigend. 

Angesichts ihrer eigenen Vorgeschichte ist es nicht unbedingt verwunderlich, dass Pastorin Becker gleich zu Beginn des Interviews eine Lanze für die sogenannten "U-Boot-Christen" bricht: 
"Also Menschen, die nur zu den großen Festen in die Kirche kommen. Ich finde diesen Begriff ganz schrecklich. Und ich finde es schade, wenn Menschen sagen, sie gehen 'nur' zu Weihnachten in die Kirche. […] Weil das nicht wenig ist! Im Gegenteil, das ist häufig und das sind die wichtigen Tage im Jahr, die sie so verbringen möchten. Das ist doch super! Natürlich bin ich froh, wenn immer die Hütte voll ist, gar keine Frage. Aber das muss jeder und jede für sich selbst entscheiden. Jeder und jede, der in der Kirche ist, gestaltet seinen oder ihren Glauben, wie er oder sie es will. Und zwar aus guten Gründen. Wer bin ich, dass ich darüber richten könnte?" 
Das passt ins Bild: "Jeder und jede" hat "seinen oder ihren Glauben" und "gestaltet" diesen, "wie er oder sie es will". Alles kann, nichts muss. Hauptsache, man fühlt sich gut dabei - und das gilt nicht zuletzt für die Pastorin selbst
"Ich bin nach jedem Gottesdienst sehr erfüllt, ob da viele sitzen, oder nur ganz wenige. Das Gefühl danach bei mir ist dasselbe." 
Na dann ist ja alles tutti! Fragen kann man sich natürlich, wozu man für eine solche individualistische Wohlfühlspiritualität eigentlich noch eine Kirche braucht, aber auch darauf hat Pastorin Becker eine Antwort: 
"Für mich [!] steht [die Kirche] für Halt im Leben, für eine Gemeinschaft. Das heißt nicht, dass alle im Stuhlkreis sitzen und sich jeden Tag treffen müssen. Es geht eher um eine höhere Gemeinschaft. Wenn ich zu Hause alleine bete, weiß ich, dass ich mit dieser Gemeinschaft verbunden bin, unsichtbar." 
Aha. Letztlich also eher eine imaginäre Gemeinschaft. Wäre dafür dann aber nicht auch eine imaginäre Kirche ausreichend? 

Na ja, eine imaginäre Kirche würde eben auch nur ein imaginäres Gehalt zahlen. Und von irgendwas müssen ja die Rechnungen bezahlt werden. Spätestens da stößt der erkenntnistheoretische Subjektivismus dann eben doch an seine Grenzen. "In meiner Welt ist das alles schon bezahlt!" Tja, denkste. 


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[* zit. n. Hartmann Tyrell Religion und Organisation: Sechs kirchensoziologische Anmerkungen (In: Jan Hermelink / Gerhard Wegner (Hg.): Paradoxien kirchlicher Organisation. Niklas Luhmanns frühe Kirchensoziologie und die aktuelle Reform der evangelischen Kirche. Würzburg: ERGON 2008, S. 179-204), S. 197]



4 Kommentare:

  1. >>Meine Herrn. "Volkskirchlich" zu sein heißt also, sonntags nicht zur Kirche zu gehen? So düster hätte ja nicht einmal *ich* den Zustand des Systems Volkskirche gezeichnet.

    Very good point.

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  2. "Das heißt nicht, dass alle im Stuhlkreis sitzen und sich jeden Tag treffen müssen."

    Genau das heißt es. Alleine im Stuhlkreis zu sitzen kann kein Wohlgefühl sein. Außer man ist Möbelschreiner und hat fertig mit dem Auftrag.

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  3. Schon schräg, das Ganze. Sicher sollte man, wenn man für ein Unternehmen oder Institution arbeitet, sich mit den Kernwerten identifizieren können? Oder zumindest ladylike schweigen, wenn dem nicht so ist? Es wundert mich, dass ihre Kirche sie da machen lässt...

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  4. Das ist natürlich alles ganz fürchterlich, aber ich verstehe ehrlich gesagt nicht ganz, warum Sie Ihre Energie auf die Analyse schwurbeliger Evangelentheologie verwenden (verschwenden?). Ist es letztlich nicht irrelevant, was in der protestantischen Konfession so an Aberrationen formuliert wird? Es liegt, wie ich bei meinem letztwöchigen Besuch in unserem künftigen deutschen Wohnort wieder feststellen musste, bei uns selbst dermaßen viel im Argen, dass Nebenschauplätze in Kirchen, die, wie Papst Benedikt XVI. uns ja freundlicherweise erinnerte, nach streng katholische Auffassung nicht einmal als Kirchen zu betrachten sind.
    Das klingt, wenn ich jetzt nochmal drüberlese, recht scharf, aber ehrlich gesagt ist es auch scharf empfunden. Da in der Ökumene ganz sicher nicht das Heil liegt, und Leute wie Frau Pastor ziemlich hoffnungslose Fälle sind, birgt die Auseinandersetzung mit ihren Positionen m.E. weit mehr Erregungs- als Erkenntnispotential.

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