Samstag, 19. Mai 2018

Das Kopftuch der Anderen

"Russlanddeutsche Brüdergemeinden in Sorge vor Kopftuchverbot!", lautet die Überschrift eines Artikels, auf den ich unlängst in den Weiten des Netzes stieß. Allein aufgrund des Titels wäre ich vielleicht geneigt gewesen, dies für eine echte Meldung zu halten, wäre mir die Website, auf der der Artikel erschien, nicht bekannt gewesen: TheoLeaks, eine Satireseite, die ich schon vor rund eineinhalb Jahren einmal auf diesem Blog erwähnt habe. Damals existierte die Seite erst seit wenigen Monaten, aber meinen ersten Eindruck kleidete ich seinerzeit in die wenig schmeichelhaften Worte: 
"Letztendlich arbeiten die doch dem Feind in die Hände. (Und wenn ich 'Feind' sage, meine ich den, der in der Kunstgeschichte gern mit Hörnern und Hufen dargestellt wird...)" 
Und, nun ja: Der eingangs erwähnte Artikel ist nicht unbedingt dazu geeignet, dieses Urteil zu revidieren. 
"Großes Entsetzen bei vielen russlanddeutschen geschlossenen Brüdergemeinden. Lange Zeit waren die vorherrschenden strengen Kleidervorschriften (Rock und Kopftuch) der breiten Öffentlichkeit verborgen. Nun zwingen aktuelle politische Diskussionen über ein Kopftuchverbot und extreme Verunglimpfungen ('Kopftuchmädchen') die männlichen Gemeindevorsteher in die Offensive." 
Anständig gekleidete Frauen bei anständiger Arbeit.
(Jean-François Millet, "Die Ährenleserinnen", 1857. Bildquelle hier.)
Okay, hier ist einigermaßen klar die Absicht zu erkennen, Forderungen nach politischen Maßnahmen gegen islamischen Fundamentalismus mit dem Hinweis, vergleichbare Tendenzen gebe es innerhalb des Christentums schließlich auch, ad absurdum zu führen. Vermutlich würden die Macher der Seite, spräche man sie darauf an, behaupten, es ginge ihnen ausschließlich darum, Islamfeindlichkeit mit den Mitteln der Satire zu kritisieren. Aber glauben wir denen das? Nö! Gegen Ende des Artikels wird ein fiktiver Gemeindevorsteher mit der Aussage zitiert, 
"[e]s müsse einer hermetischen Parallelgesellschaft mit eigenen Regeln, strenger Religion, kyrillischer Schrift in den Supermärkten rund um Lemgo und eigenen Kleidervorschriften unbedingt erlaubt bleiben, auch Kindern ein Kopftuch aufzuzwingen, äh, aufzusetzen. Offenhaarige Mädchen und Frauen dürften sich im Gottesdienst ja auch nicht einfach hinsetzen, wo sie wollten". 
Ich lehne mich hier jetzt mal aus dem Fenster und behaupte: Was hier notdürftig als "Satire" verbrämt wird, ist tatsächlich ein frontaler Angriff auf die "4,5 Mio Russlanddeutsche[n], deren rund 1.000 christliche Gemeinden mehrheitlich in NRW liegen" -- und die, soweit es mir aus dem lokalen Umfeld solcher Gemeinden (allerdings aus der Sicht von Nichtmitgliedern) berichtet worden ist, tatsächlich so etwas wie eine christliche Parallelgesellschaft (oder, um es mit einem #BenOp-Begriff zu sagen, "Gegenkultur") in säkularer Umgebung bilden. Und so etwas gilt es natürlich zu bekämpfen -- jedenfalls aus Sicht eines "zeitgemäßen", gendergerechten und "gesellschaftlich relevanten" Postchristentums. 

Wie ich schon anno 2016 anmerkte, erhebt TheoLeaks zwar den Anspruch, "christliche Satire" zu machen, versteht darunter aber offenbar weniger "Satire aus dem christlichen Glauben heraus" als vielmehr "Satire über den christlichen Glauben". Der Unterschied wird deutlich, wenn man beispielsweise die US-amerikanische, evangelikal geprägte Satireseite The Babylon Bee zum Vergleich heranzieht, die etwa genauso lange besteht wie TheoLeaks. The Babylon Bee nimmt häufig in quasi apologetischer Absicht Atheisten oder Anhänger progressiv-universalistischer Glaubensrichtungen aufs Korn, aber nahezu ebenso häufig findet sich auf dieser Seite auch mehr oder weniger freundlicher Spott über die "eigenen Leute". Solche Selbstironie gibt es auf TheoLeaks kaum; hier wird vielmehr unermüdlich auf "die Frommen" (unterschiedlicher konfessioneller Couleur) eingedroschen, und wie das vorliegende Fallbeispiel zeigt, ist das Ergebnis oft noch nicht einmal besonders lustig. Was im Grunde kein Wunder ist, denn Humor setzt - auch wenn das eine heutzutage in Vergessenheit zu geraten drohende Erkenntnis ist - Liebe voraus. Mit einem Messer zwischen den Zähnen lächelt sich's schlecht. 

-- Und warum genau ist mir dieses Thema nun einen Blogartikel wert? Nun, einerseits, weil ich durchaus eine gewisse Sympathie für die "gegenkulturelle" Lebensweise der russlanddeutschen Brüdergemeinden empfinde und mir - vorbehaltlich genauerer Informationen bzw., besser noch, eigener Anschauung - vorstellen könnte, dass sie manches Vorbildliche an sich hat (und damit meine ich nicht zwingend die Kleidungsvorschriften für Mädchen und Frauen). Sodann aber auch, weil mir die Strategie, die dieser TheoLeaks-Artikel anwendet, insgesamt so bezeichnend erscheint. Man erlebt es ja durchaus öfter, dass auf Warnungen vor fundamentalistischen Tendenzen im Islam mit dem Hinweis reagiert wird, im Christentum gebe es "so etwas" doch auch. Dieser Einwand kann die Absicht verfolgen, für mehr Toleranz gegenüber Muslimen zu werben; aber wie man sieht, kann das auch sehr leicht umkippen in die Forderung nach weniger Toleranz gegenüber Christen

Was man daraus möglicherweise lernen könnte oder sollte, ist, dass gerade konservative Christen sich auf längere Sicht selbst ins Knie schießen, wenn sie Forderungen nach Einschränkungen der Religionsfreiheit und der Elternrechte von Muslimen unterstützen. Ich habe dazu - zumindest andeutungsweise - schon ein paarmal etwas geschrieben, und wahrscheinlich werde ich demnächst noch mehr dazu schreiben müssen. Schließlich ist gerade Ramadan...  



3 Kommentare:

  1. "wenn sie Forderungen nach Einschränkungen der Religionsfreiheit und der Elternrechte von Muslimen unterstützen."

    Wenn Muslime ihren Kinder aus religiösen Gründen einen Sprengstoffgürtel umschnallen, wird die Sachlage dann doch etwas schwieriger. Mir ist nicht bekannt dass russlanddeutsche Brüdergemeinden solches praktizieren.

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  2. Innerhalb Deutschlands sind mir exakt genauso viele Sprengstoffgürtel-Selbstmordattentate von christlichen wie von muslimischen Kindern bekannt. Aber vielleicht habe ich da ja was übersehen.

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  3. In Deutschland noch nicht aber die Welt ist ja klein, in 15 Stunden kann man in Jakarta sein oder in umgekehrter Richtung in Düsseldorf:

    Gucken sie hier: https://deutsch.rt.com/asien/69796-anschlage-auf-kirchen-in-indonesien-kinder-selbstmordattentater/

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