Sonntag, 27. August 2017

Warum an etwas glauben, wenn man auch an nichts glauben kann?

Mein Wochenkommentar auf Radio Horeb, ausgestrahlt am 26.08.2017 



„Demokratie ist alles“ – so lautet das Motto einer bundesweiten Plakatkampagne, die vom Verein „Artikel 1 – Initiative fürMenschenrechte“ initiiert wurde. Jedes Motiv dieser bei einem Kreativwettbewerb preisgekrönten Plakatserie ist einem bestimmten Grundrecht gewidmet; neben Plakaten zu Meinungs- und Pressefreiheit, Freizügigkeit, Berufs- und Versammlungsfreiheit gibt es auch eines, das sich dem Grundrecht auf Religionsfreiheit widmet. Angesichts starker säkularistischer Tendenzen in der Gesellschaft, angesichts der immer weiter um sich greifenden Auffassung, Religion sei allenfalls als Privatangelegenheit des Einzelnen zu tolerieren und habe im öffentlichen Raum nichts zu suchen, möchte man ein solches positives Bekenntnis zur Religionsfreiheit zunächst einmal begrüßenswert finden. Bei näherer Betrachtung erweckt das betreffende Plakat allerdings den Eindruck, selbst von einem recht eingeschränkten Verständnis von Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit geprägt zu sein.

Das Plakat zeigt eine junge Frau, die durch ihr Kopftuch als Muslima gekennzeichnet ist; und dieser Frau wird der Satz in den Mund gelegt: „Ich könnte auch an nichts glauben und damit glücklich sein.“ Darunter, in erheblich kleinerer Schrift: „Muss ich aber nicht.“ – Darauf, dass es sich bei der dargestellten Person um eine Muslima handelt, braucht man wohl nicht näher einzugehen; man kann durchaus annehmen, dies sei lediglich dadurch bedingt, dass das Kopftuch als visuelles Kennzeichen für Religiosität einfach eingängiger, im wahrsten Sinne des Wortes also „plakativer“ ist als andere religiöse Symbole. Kettenanhänger in Kreuzform beispielsweise werden schließlich durchaus auch von Nichtchristen getragen. Gehen wir ruhig dennoch davon aus, dass die Aussageabsicht des Plakats sich genauso auf Christen bezieht wie auf Muslime. So oder so hinterlässt der Plakattext den geneigten Betrachter einigermaßen ratlos. Während der Nachsatz „Muss ich aber nicht“ – der allen Plakatmotiven dieser Kampagne gemeinsam ist – das Recht der jungen Dame betont, sich hinsichtlich ihres Glaubens von der säkularen Mehrheitsgesellschaft zu unterscheiden, erweckt der diesem Satz vorangehende Text aber den Eindruck, dass das Phänomen des religiösen Glaubens nicht sonderlich ernst genommen, geschweige denn verstanden wird. Ist es wirklich denkbar, dass eine gläubige Person von sich selbst sagen würde „Ich könnte auch an nichts glauben“? Zwar ist es auch aus christlicher Sicht durchaus richtig, dass der Glaube ein Akt des Willens ist und die Entscheidung zum Glauben freiwillig erfolgen muss. Auf theologische Feinheiten einzugehen – etwa darauf, dass der Glaube im christlichen Verständnis zugleich auch eine Gnade ist – würde hier zu weit führen; festzuhalten ist jedenfalls, dass ein Glaube, den man bei Bedarf jederzeit „ablegen“ könnte – worauf die Aussage „Ich könnte auch an nichts glauben“ ja hinausliefe – die Bezeichnung „Glaube“ im Grunde gar nicht verdient. Religiöser Glaube ist zwar mehr als ein bloßes „Für-wahr-Halten“ eines Sachverhalts – also etwa der Existenz Gottes –, aber er ist nicht weniger als das. Anders ausgedrückt: Glaube geht von der objektiven Wahrheit seines Gegenstandes aus. Wie könnte also jemand, der heute an etwas glaubt, morgen aus reiner Willkür beschließen, daran nicht mehr glauben zu wollen? Und wenn das so wäre: Wieso sollte eine solche rein willkürliche Glaubensentscheidung eigentlich größeren rechtlichen Schutz genießen als irgendwelche anderen persönlichen Vorlieben, also beispielsweise die Vorliebe für einen bestimmten Kleidungs-, Ernährungs- oder Musikstil? Diese Frage erscheint umso dringlicher, als der Plakattext der dargestellten Person die Überzeugung in den Mund legt, sie könne, auch wenn sie an nichts glaubte, „damit glücklich sein“. Wenn der Glaube dieser Person nicht einmal notwendig für ihr Glück ist, wieso sollte das Gesetz ihn dann besonders schützen? Letztendlich erscheint die Religionsfreiheit so als purer Luxus – als etwas, was die säkulare Gesellschaft, die sich so viel auf ihre Toleranz zu Gute hält, sich „leistet“, worauf sie aber im Grunde auch ganz gut verzichten könnte.


Wenn es dem Plakat darum geht, das Recht des Einzelnen zu betonen, sein religiöses Bekenntnis frei zu wählen und gegebenenfalls zu auch wechseln – ein Recht, das beispielsweise in vielen islamisch dominierten Ländern nicht gewährt wird –, dann muss man konstatieren, dass der allzu saloppe Tonfall diesem Anliegen eher schadet. Dass es Menschen gibt, die – in Ländern, in denen keine Religionsfreiheit herrscht – um ihres Glaubens willen ihren Wohlstand, ihre Freiheit oder sogar ihr Leben aufs Spiel setzen, erscheint aus dieser Perspektive jedenfalls völlig unverständlich. Möglicherweise ist dieses Unverständnis aber die natürliche Folge einer Sicht auf Religion, die mehr oder weniger explizit davon ausgeht, diese habe „Privatsache“ zu sein. Dabei zeigt sich die Bedeutung und der Wert der Religionsfreiheit doch eigentlich erst dann, wenn das religiöse Bekenntnis den rein privaten Rahmen überschreitet – wenn es darum geht, seinen Glauben auch in der Öffentlichkeit ungehindert praktizieren zu dürfen, und noch weit mehr dann, wenn jemand aufgrund seiner religiösen Überzeugungen Gewissensentscheidungen trifft, die im Widerspruch zu den Ansichten der Mehrheitsgesellschaft stehen. Ginge es nur darum, was ein Mensch in seinem Innern glaubt, gäbe es wohl kaum einen Staat der Welt, der damit ein Problem hätte. Zwar mögen wir glauben, eine freiheitliche, demokratische Gesellschaft wie die unsere, die Toleranz als einen der höchsten Werte überhaupt betrachtet, wäre weit entfernt davon, religiöse Menschen in Gewissensnöte zu bringen; doch das könnte sich schnell als Irrtum erweisen, wenn das herrschende Verständnis von religiöser Toleranz sich zunehmend in der Haltung „Glaub doch, woran du willst, solange du es für dich behältst“ erschöpft. In den USA etwa – einem Land, von dem man sagen könnte, es sei als Staatswesen geradezu auf dem Prinzip der Religionsfreiheit begründet worden – mehren sich seit einigen Jahren die Fälle, in denen Menschen aufgrund ihrer Glaubensüberzeugungen in Konflikt mit dem Gesetz geraten. So wurden Bäcker, Floristen und Fotografen, die aus Gewissensgründen keine Dienstleistungen für gleichgeschlechtliche Hochzeitsfeiern übernehmen wollten, des Verstoßes gegen Antidiskriminierungsgesetze beschuldigt und mit ruinösen Schmerzensgeldforderungen überzogen, und eine Standesbeamtin wurde aus ähnlichen Gründen sogar für eine Woche inhaftiert. Es steht kaum zu bezweifeln, dass derartige Konflikte auch hierzulande drohen – und dass diejenigen, die sich in ihrem Handeln auf ihr von religiösen Überzeugungen geprägtes Gewissen berufen, schlechte Karten gegenüber einer öffentlichen Meinung haben dürften, die das Grundrecht auf Religionsfreiheit zunehmend nur noch negativ versteht: als das Recht des nicht-religiösen Menschen, von Religion unbehelligt zu bleiben. Genau diesem Verständnis leistet die oben geschilderte Plakatkampagne jedoch – vielleicht sogar unabsichtlich – Vorschub, indem sie den Menschen, der „an nichts glaubt und damit glücklich ist“, implizit zur Norm erhebt und dem religiösen Menschen, vermeintlich wohlwollend, unterstellt, dieser „könne das auch“.  



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