So, Freunde: Nach einem vorübergehenden Abstieg in die geistlichen Niederungen des Evangelischen Kirchentages wird es nun aber Zeit, dass ich meine Lektürenotizen zu Rod Drehers "The Benedict Option" fortsetze. Das zweite Kapitel des Buches trägt die Überschrift "Die Wurzeln der Krise". Darin wagt sich der Autor - nach der einleitenden Schilderung eines Verandagesprächs zwischen zwei alten Damen, die sprichwörtlich "die Welt nicht mehr verstehen" - an einen geistes- bzw. ideengeschichtlichen Abriss der Ursachen dafür, dass eine traditionell christliche Weltanschauung der modernen Gesellschaft zutiefst fremd geworden ist. Dabei greift er erheblich weiter in die Geschichte zurück, als man hätte annehmen können:
"Der Verlust der christlichen Religion ist die Ursache dafür, dass der Westen seit geraumer Zeit dabei ist, sich zu fragmentieren - ein Prozess, der an Geschwindigkeit zunimmt. Wie ist es dazu gekommen? Im Laufe von sieben Jahrhunderten haben fünf bahnbrechende Ereignisse die westliche Zivilisation erschüttert und sie des Glaubens ihrer Vorväter beraubt:
- im 14. Jahrhundert der Verlust des Glaubens an den integralen Zusammenhang zwischen Gott und Schöpfung - oder, in philosophischer Terminologie, zwischen transzendenter und materieller Realität;
- der Zusammenbruch von religiöser Einheit und religiöser Autorität in der protestantischen Reformation des 16. Jahrhunderts;
- die Aufklärung im 18. Jahrhundert, die die christliche Religion durch den Kult der Vernunft ersetzte, das religiöse Leben privatisierte und das Zeitalter der Demokratie einläutete;
- die Industrielle Revolution (ca. 1760-1840) und der Aufstieg des Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert;
- die Sexuelle Revolution (1960-heute)."
Freilich räumt Dreher ein:
"Dieser Abriss westlicher Kulturgeschichte seit dem Hohen Mittelalter lässt zugegebenermaßen eine ganze Menge aus. Zudem ist er voreingenommen zugunsten eines intellektuellen Verständnisses historischer Kausalität. Tatsächlich ist es so, dass materielle Erscheinungen oft erst die Geburt von Ideen ermöglichen. Die Entdeckung der Neuen Welt und die Erfindung der Druckerpresse, beides im 15. Jahrhundert, und die Erfindung der Verhütungspille und des Internets im 20. Jahrhundert ermöglichte es Menschen, sich Dinge vorzustellen, die zuvor unvorstellbar waren, und somit neue Gedanken zu denken. Die Geschichte gibt uns keine sauberen und geraden kausalen Linien, die Ereignisse miteinander verbinden und sie in eine klare Ordnung bringen. Geschichte ist ein Gedicht, kein Syllogismus."
William Hogarth: Tail Piece (1764) |
Historiker werden an dem Geschichtsbild, das Dreher auf den folgenden Seiten entwirft, sicherlich Manches zu bemängeln haben. Gleichwohl betont der Autor:
"Es ist wichtig, diese Darstellung - so unvollständig und übersimplifiziert sie auch sein mag - zu begreifen, um zu verstehen, warum der bescheidene benediktinische Weg eine so wirkungsvolle Gegenkraft zu den zersetzenden Strömungen der Moderne darstellt."
Man könnte ergänzen: Wichtig ist diese Darstellung auch, um dem Leser, der vielleicht meint, Drehers düstere Prognosen über die nahe Zukunft der Christenheit in der westlichen Welt seien überdramatisiert und die Christenheit habe schon viel schlimmere Krisen er- und durchlebt, begreiflich zu machen, wie er zu der Auffassung gelangt, die moderne westliche Kultur habe sich nahezu völlig von ihren christlichen Wurzeln gelöst.
Dem vorhersehbaren Vorwurf, das christliche Mittelalter über Gebühr zu idealisieren, begegnet er mit der Feststellung:
Dem vorhersehbaren Vorwurf, das christliche Mittelalter über Gebühr zu idealisieren, begegnet er mit der Feststellung:
"Das mittelalterliche Europa stellte keinen christlichen Idealzustand dar. Die Kirche war in spektakulärem Ausmaß korrupt, und die gewaltsame Ausübung von Macht - zuweilen auch durch die Kirche selbst - schien die Welt zu regieren. Aber trotz der tiefgreifenden Gebrochenheit der Welt trugen die Menschen des Mittelalters in ihrer Vorstellung eine kraftvolle Vision von Ganzheit. Dem mittelalterlichen Konsens zufolge konstruierte der Mensch seine Realität auf eine Weise, die ihn in die Lage versetzte, alle Dinge in einer konzeptuellen Harmonie zu sehen und Sinn inmitten des Chaos zu finden."
Diese mittelalterliche Weltsicht skizziert Dreher unter Berufung auf den kanadischen Philosophen Charles Taylor (*1931) und auf dessen Rezeption von Grundprinzipien der scholastischen Philosophie:
"Zu den zentralen Lehren der Scholastik gehörte das Prinzip, dass alle Dinge unabhängig vom menschlichen Denken existieren und eine ihnen von Gott gegebene essentielle Natur haben. Diese Auffassung nennt man 'metaphysischen Realismus'. Aus diesem Prinzip leiten sich laut Charles Taylor die drei Grundpfeiler ab, auf denen die mittelalterliche christliche Vorstellungswelt - das heißt, die von allen rechtgläubigen Christen von der Zeit der frühen Kirche bis ins Hochmittelalter geteilte Wahrnehmung der Realität - ruhten:
Diese drei Pfeiler mussten erst zerbröckeln, ehe die moderne Welt sich aus den Trümmern erheben konnte, sagt Taylor. Und in der Tat zerbröckelten sie. Das geschah nicht auf einmal und nicht auf geradem Wege, aber es geschah."
- Die Welt und alle Dinge in ihr sind Teil eines von Gott eingerichteten und mit Sinn erfüllten harmonischen Ganzen - und alle Dinge sind Zeichen, die auf Gott hindeuten.
- Die Gesellschaftsordnung ist in dieser höheren Ordnung verwurzelt.
- Die Welt ist aufgeladen mit spiritueller Kraft.
Wie Dreher, von dieser Feststellung ausgehend, einen Bogen vom Nominalismusstreit des 14. Jhs. über Renaissance-Humanismus, Reformation und Religionskriege, die Philosophie der Aufklärung und das Zeitalter der Revolutionen, die Industrialisierung und die Weltkriege bis zum Aufstieg der Psychologie und zur Sexuellen Revolution schlägt, ist bei aller modellhaften Vereinfachung faszinierend zu lesen, aber ich möchte mich nicht allzu lange dabei aufhalten, dies im Einzelnen nachzuzeichnen. Auch wenn die Auslassungen, die ich vornehme, womöglich wieder Missverständnissen Vorschub leisten. Lest das Kapitel einfach selber, Leute! -- Einige Punkte möchte ich dennoch besonders hervorheben. So stellt Dreher gleich eingangs, im Zusammenhang mit dem Nominalismusstreit, fest:
"Das mittelalterliche Weltmodell erzitterte unter philosophischen Attacken, aber es wurde auch von grauenhaften Ereignissen von außerhalb der Welt der Künste und Ideen bis auf den Grund erschüttert. Krieg - besonders der Hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und England - verwüstete das westliche Europa, das im 14. Jahrhundert obendrein von einer katastrophalen Hungersnot heimgesucht wurde. Am schlimmsten war aber der Schwarze Tod - eine Seuche, die zwischen einem Drittel und der Hälfte der europäischen Bevölkerung dahinraffte, ehe sie sich wie ein Buschfeuer selbst verzehrte. Wohl wenige Zivilisationen könnten solchen traumatischen Erschütterungen standhalten, ohne dass es zu gewaltigen Umbrüchen käme."
-- Auch im weiteren Verlauf macht Dreher immer wieder deutlich, dass er die von ihm beschriebenen Phänomene wie Reformation, Aufklärung und Industrialisierung durchaus nicht schlichtweg "verteufeln" will; vielmehr zeigt er auf, dass es sich vielfach um folgerichtige und von guten Absichten getragene Reaktionen auf real existierende Missstände handelte - die aber im Endergebnis dennoch das kollektive Bewusstsein der westlichen Gesellschaften immer weiter von seinen christlichen Wurzeln entfernten. Ausgesprochen interessant sind Drehers Ausführungen zu dem scheinbar paradoxen Faktum, dass die USA trotz der starken christlichen Prägung ihrer Gesellschaft als säkularer Staat gegründet wurden:
"Die Verfassung der USA, ein zutiefst von der Philosophie John Lockes geprägtes Dokument, privatisiert die Religion, indem sie sie vom Staat trennt. Jedes amerikanische Schulkind lernt, dies als einen Segen zu betrachten, und vermutlich ist es auch einer. Dennoch hatte diese Art der Trennung von sakraler und säkularer Sphäre tiefgreifende Auswirkungen auf die Ausformung des religiösen Bewusstseins der Amerikaner.
Bei allem Guten, das der Grundsatz religiöser Toleranz einem jungen Land bescherte, dessen Bevölkerung aus vielfältigen und miteinander zerstrittenen protestantischen Sekten und einer katholischen Minderheit bestand, legte diese Toleranz zugleich auch das Fundament für einen Ausschluss der Religion aus dem öffentlichen Raum, indem sie diese zu einer Frage privater, individueller Wahl erklärte. [...]
Wenn eine Gesellschaft durch und durch christlich geprägt ist, ist dies ein genialer Weg, den Frieden zu bewahren und allgemeines Florieren zu ermöglichen. Doch von einem christlichen Standpunkt aus gesehen enthielt der Liberalismus der Aufklärung bereits die Samenkörner für den Niedergang des Christentums."
In diesem Zusammenhang zitiert Dreher einen Brief von John Adams - einem der Gründerväter der USA - an die Miliz des Staates Massachusetts vom 11. Oktober 1798:
"Unsere Verfassung ist ausschließlich für ein moralisches und religiöses Volk gedacht. Um ein anderes zu regieren, wäre sie vollkommen ungeeignet."
Zu einem prinzipiell ähnlichen Urteil kam Alexis de Tocqueville in seinem Werk Über die Demokratie in Amerika (1835):
"Tocqueville kam zu dem Schluss, dass in der Demokratie die Zukunft Europas liege, stellte jedoch fest, dass sie mit ihrem Streben nach Gleichheit, das dazu tendierte, Normen vom Willen der Mehrheit abhängig zu machen, Gefahr laufe, ebenjene Tugenden zu eliminieren, die die Selbstregierung erst ermöglichten."
(Denken wir an dieser Stelle kurz an das zu Recht berühmte Diktum des Staats- und Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Bockenförde: "Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann".) -- Demokratien, so Tocqueville, können
"nur erfolgreich sein, wenn 'vermittelnde Institutionen' - darunter die Kirchen - in ihnen gedeihen."
Nun spule ich aber mal ein Stück vor, mitten hinein in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg:
"Dies war eine Zeit, in der der Westen nach den Worten des Soziologen Zygmunt Bauman von der 'soliden Moderne' - einer Phase, in der der gesellschaftliche Wandel noch einigermaßen vorhersehbar und beherrschbar war - zur 'liquiden Moderne' überging - unserem gegenwärtigen Zustand, in dem Veränderungen so rasch vor sich gehen, dass gesellschaftliche Institutionen keine Zeit haben, sich zu verfestigen."Als bedeutenden Paradigmenwechsel in dieser Phase der Kulturgeschichte benennt Dreher - unter Berufung auf den Soziologen und Kulturkritiker Philip Rieff - den Siegeszug der Psychologie, insbesondere der Freudschen Psychoanalyse. Dreher zitiert Rieff, der mehrere Bücher über Freud verfasst hat, mit den Worten:
"Der Religiöse Mensch war dazu geboren, erlöst zu werden. Der Psychologische Mensch ist dazu geboren, befriedigt zu werden."Daran anknüpfend führt Dreher aus:
"Die 1960er waren das Jahrzehnt, in dem der Psychologische Mensch voll und ganz zu seinem Recht kam. In diesem Jahrzehnt wurde die Freiheit des Individuums, der Erfüllung seiner eigenen Begierden nachzujagen, zu unserem kulturellen Leitstern, und in der Folge begann der rapide Abfall der Moral Amerikas von ihrem christlichen Ideal. Trotz eines konservativen Backlashs in den 1980ern hat der Psychologische Mensch auf ganzer Linie gesiegt und beherrscht nun unsere Kultur - einschließlich der meisten Kirchen - so sicher, wie einst die Ostgoten, Westgoten, Vandalen und andere Eroberervölker die Überreste des Weströmischen Imperiums beherrschten."Und damit ist Mr. Dreher auf seinem tollkühnen Ritt durch die Geistesgeschichte auch schon in der Gegenwart angekommen. Natürlich habe ich sehr viel übersprungen, und sicherlich leidet die Stringenz darunter nicht unwesentlich. Lest das Kapitel nach! Es lohnt sich. Schauen wir nun aber auf die Gegenwart und absehbare Zukunft:
"Das romantische Ideal des sich selbst erschaffenden Menschen findet seine Erfüllung in der neuesten Avantgarde der Sexuellen Revolution: den Transgender-Personen. Diese lehnen es ab, sich durch biologische Fakten definieren zu lassen, und haben dabei eine Elite-Bewegung hinter sich, die die neuen Generationen lehrt, Gender sei einzig das, was das Individuum sein zu wollen entscheidet."Hui! Muss ich fürchten, dass gleich die Hate-Speech-Polizei an die Tür klopft? Ich hoffe nicht. Schließlich stellt Dreher lediglich einen Sachverhalt dar, der als solcher - wie man ihn auch bewerten mag - kaum zu leugnen ist: nämlich, dass Transgenderismus mit einem auf Bibel und Tradition gestützten christlichen Geschlechter- und überhaupt Menschenbild schlechthin unvereinbar ist. -- Sagte ich gerade, dieser Widerspruch sei kaum zu leugnen? Nun, natürlich gibt es Theologen, die leugnen ihn doch - beziehungsweise meinen, um diesen Widerspruch aufzulösen, müsse die Kirche ihre Lehre eben ändern. Zu dieser Sorte von Kirchenleuten sagt Dreher - natürlich - auch noch was, aber vorher will ich noch eins meiner Lieblingszitate aus diesem Kapitel der "Benedict Option" anbringen:
"Natürlich gibt es zu allen Zeiten moralisch laxe Menschen und solche, die Idealen und höheren Zielen abschwören, um stattdessen den Begierden ihres Herzens nachzujagen. Tatsächlich ist jeder von uns Christen zuweilen so. Man nennt das Sünde."Und wie verhalten sich nun die Kirchen dazu? Nun, da gibt es natürlich solche und solche, aber Dreher hat ja schon früher deutlich gemacht, dass er von vielen von ihnen keine besonders hohe Meinung hat.
"Kirchen - gleich welcher Konfession -, die nichts anderes sind als lockere Vereinigungen von Individuen, die danach streben, ihre jeweilige individuelle 'Wahrheit' zu finden, hören auf, in irgendeinem sinnvollen Verständnis Kirche zu sein - denn es gibt in ihnen keinen gemeinsamen Glauben mehr."Ich würde mal behaupten, das konnte man auf dem Evangelischen Kirchentag nun wirklich in idealtypischer Grausigkeit beobachten. Aber ob es sich dafür gelohnt hat, da hinzugehen? -- Kommen wir zum Fazit des Kapitels:
"In diesem Sinne mögen Christen heutzutage meinen, sie stünden in Opposition zur säkularen Kultur, aber in Wahrheit sind wir ebenso Geschöpfe unserer Zeit wie die säkularen Leute auch. [...] Wir mögen bestreiten, dass Gott tot sei, aber wenn man den religiösen Individualismus und seinen theologischen Überbau, den Moralistisch-Therapeutischen Deismus, akzeptiert, dann läuft das auf das Bekenntnis hinaus, Gott sei vielleicht noch nicht ganz tot, aber in Hospizpflege und ans Bett gefesselt."Tja. Was nun? Im dritten Kapitel, "Eine Regel zum Leben", führt der Autor aus, wie man aus den Kern- und Leitgedanken der Benediktinischen Ordensregel Impulse für eine geistliche Erneuerung beziehen kann, die ein christliches Leben inmitten einer feindlichen Umwelt ermöglichen sollen. Das Kapitel ist ziemlich umfangreich - das zweitlängste des Buches; noch länger ist nur Kapitel 7, in dem es um das Bildungs-, insbesondere das Schulwesen geht -, und auch ohne allzu sehr ins Detail zu gehen, wird es da erheblich mehr zu exzerpieren geben als in Kapitel 2. Deshalb mache ich an dieser Stelle erst mal einen Punkt. Fortsetzung folgt!